roughbooks lässt Nicolas Pesquès am Mont Juliau wieder auf die Gipfel der Sprache klettern
„Lieben Sie ihn noch?“, wurde Nicolas Pesquès im August 1981 gefragt. Mit dem Objekt der Begierde war der 552 Meter hohe Mont Juliau gemeint, den er zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr lang beschrieben und interpretiert hatte. „Die Nordseite des Juliau. Grabmal des Cézanne“ lautet der Titel des Buches, denn Cézanne, der nahezu 80 mal den Sainte Victoire malte oder zeichnete, inspirierte Pesquès zu seinem bis heute andauernden Juliau-Projekt. Darin geht er der Frage nach, wie sich Sprache verändert und was sie bewirkt, wenn sie sich über Jahre hinweg mit derselben Sache beschäftigt?
Zuerst könnte man glauben, das 58 Seiten starke Buch sei von dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas geschrieben, denn dessen Name steht auf der Titelseite, zusammen mit seiner Forderung an Sprache: „Die erste Funktion des Wortes wäre es nicht zu bezeichnen, sondern zu ertönen, die Dinge an den Glanz ihres Erscheinens heranzuführen.“
Unter diesem Motto also besteigt, besichtigt, beschreibt Pesquès unermüdlich diesen kleinen Berg in der Ardèche, lässt den Leser teilhaben an der (sprachlich) sanften Annäherung und dem immer tieferen Eindringen in all seine Facetten. „Es ist einer der Hügel, wie sie Kinder zeichnen, wie man sich einen Hügel gewöhnlich vorstellt“, schreibt er zu Beginn und warnt bald darauf: „Oft werden es nur pedantische Skizzen sein…Aber wie sie verachten?“ Seine Perspektive ist die Nordseite des Berges. Deren tausend Gesichter will er prüfen. „Dem Berg in seinen Wandlungen nachspüren; ihm den entsprechenden Text zur Seite stellen, seinen Anhang“. Und so begleitet er den Juliau durch Jahreszeiten, sieht Nebelschwaden kommen und gehen, verfolgt Lichtspiele, „eine Art von Silberzeughonig“, beschreibt seine Farben in Hitze und Frost. Immer wortreich und detailliert. „Es hat geschneit“, teilt er dem Leser mit, der „Himmel ist weiß, sehr blass“, es fliegen Wolken „von erotischer Langsamkeit“. Es bleibt, wie angekündigt, nicht bei Beschreibungen. Man könnte sagen, Pesquès hält Zwiesprache mit seinem Berg, weiß, dass sein Blick von seinen eigenen Gemütslagen abhängt. Und er legt eigene Bilder auf ihn. Das Gras wird militärgrün und ein Waldstück ist der „dreieckige Beistrich einer Schminke“. Manchmal nimmt der Juliau, „den ich zu schreiben begehre“, die erotischen Züge einer Frau an: „Sie ist nackt, so friedlich, dass man sie nicht atmen sieht.“
Pesquès Schreibprozess verläuft nicht linear. „Oft stellte sich das Wort ein wie eine Zärtlichkeit“, berichtet er. Aber manchmal wird das Schreiben zur „Plackerei“. Er vergleicht seine Arbeit mit der Cézannes. So wie dieser immer wieder an den gleichen Ort ging, neue Schraffierungen, Tönungen vornahm, um ein Gemälde zu vollenden, so begibt sich Pesquès in die „Silbenküche“, überprüft Bedeutungen und Skandierungen von Wörtern, bis sie seinen Ansprüchen genügen und er sie im „Mosaik“ seiner Texte unterbringen kann. Dieses Mosaik ist aus unterschiedlichen Stilrichtungen zusammengesetzt. Seine Steine bestehen aus prosaischen Feststellungen, sehr poetischen Beschreibungen bis hin zu Gedichten.
Er weiß um die Macht der Sprache, ohne die Dinge „nicht zu der Welt kämen, die die unsere ist“. Aber, so fährt er fort, dies gilt auch umgekehrt, auch er braucht die Dinge, die Objekte, in diesem Fall den Juliau: „was wäre ich, was machte ich ohne ihn.“ Sprache hat die Aufgabe, die Welt in Frage zu stellen, denn: „Was man sieht, IST NICHT, was man sieht.“
Jemand, der sein Buch gelesen hat, warf ihm vor, es gebe keine Zusammenschau. Eigentlich sei dies, schreibt Pesquès, ein großes Kompliment, denn er werde den Juliau nicht erfassen können. „Ich werde nicht träumen; ich werde – das weiß ich – nicht zu einem Ende kommen.“
Dies schrieb Pesquès 1980 und er sollte Recht behalten. Heute, 32 Jahre später, so erfahren wir in einem editorischen Nachwort, gibt es bereits zehn erschienene Bände, sechs weitere stehen vor der Veröffentlichung oder sind in Planung. Erscheint es auf den ersten Blick unvorstellbar, dass es Pesquès nach diesem ersten Bändchen gelingen konnte, dem Berg noch unzählige weitere Worte zu entlocken, so ist dieses ständige Sich-Annähern an den Juliau andererseits logisch. Denn in diesem Projekt beginnt mit den Veränderungen der Zeit das Schreiben immer wieder neu. Das verlangt auch vom Leser Anstrengungen. Muss er doch bereit sein, sich ebenfalls auf den Weg zu machen, um den Nuancen des Berges und der Sprache in all ihren Windungen zu folgen.
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