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Kritik

Der Tod des Autors 3.0

Eine hellsichtige Satire auf den Literaturbetrieb, die leider kitschig endet.
Hamburg

Auf den ersten Blick könnte das Szenario, das Noëlle Revaz in „Das unendliche Buch“ entwirft, den feuchten Träumen jeden Autors und jeder Autorin entsprungen sein: Buchpremieren werden live im Fernsehen übertragen, Schauspieler engagiert, um aus dem Publikum heraus vermeintlich spontane Lobeshymnen anzustimmen, die Bücher selbst wie Reliquien verehrt. Die ganze Nation fiebert ihrer  Veröffentlichungsstunde entgegen wie heutzutage einem WM-Endspiel oder dem Eurovision-Song-Contest-Finale. Schnell wird allerdings klar: Es geht nicht mehr um das, was sich zwischen den Buchdeckeln befindet, sondern nur noch um das Drumherum. Gewicht, Covergestaltung, Farben und Schrifttypen werden in zahllosen Talkshows gefeiert, Dauer, Umstände, Vorbilder und Anekdoten rund um die Erschaffung eines Buches ausführlich verhandelt. Doch dient dies meist nur als Überleitung zu ganz anderen Themen, zum Beispiel zur familiären Situation einer Autorin, oder – bei Nichtvorhandensein von Kindern, wie im Falle der Hauptfigur Jenna Fortuni – ihrem Kanarienvogel. „Das Buch war ein Podest“, konstatiert sie, „der Zugangspass, mit dessen Hilfe man Interviews in Gang halten und Fernsehsendungen besuchen konnte“.

Der Text ist tot, es lebe der Autor!

Roland Barthes würde sich im Grab umdrehen; Michel Foucault vermutlich ebenso. Revaz verkehrt in ihrer Dystopie aber nicht nur das Konzept des Texts als alleinige sinnstiftende Instanz in ihr Gegenteil, sie entfernt den Text gleich vollends aus der Gleichung. Denn obwohl in ihrer Zukunftsvision ein Autor sein Buch stets – wie ein Talisman oder Erkennungszeichen – in Griffweite liegen haben muss, ist er von dessen Inhalt völlig entkoppelt. Das Innere eines Buches ist „ein riskanter und verborgener Ort“ geworden. Ein Buch aufzuschlagen, wird nur noch kleinen Kindern zugestanden – bevor sie lesen können. Somit sind die einzigen, die überhaupt noch wissen, was sich im Innern der Bücher befindet, die Autor_innen selbst. Allerdings ist auch Jenna nicht mehr ganz sicher, was eigentlich in ihren eigenen Büchern steht. Schließlich hat sie nach der Veröffentlichung keines jemals wieder aufgeschlagen. Die meisten Autor_innen, suggeriert Revaz, arbeiten ausschließlich im Copy&Paste-Verfahren. Ob sie sich ihre Versatzstücke aus dem Internet zusammenklauben oder ob eine ehemalige Lehrerin die Hausaufgaben ihrer Schüler abtippt, spielt dabei keine Rolle – da niemand die Bücher tatsächlich liest, gibt es auch keine Plagiatsskandale mehr.

Es sind genau diese ironischen Überzeichnungen des Jetzt, die „Das unendliche Buch“ so lesenswert machen, so komisch und traurig zugleich. Zumindest für alle, die aktuell in einem Independent-Verlag ums Überleben kämpfen. Allzu deutlich spitzt Revaz diverse heute schon abzusehende Entwicklungen im Literatur- und Kunstmarkts zu, und allzu genau wissen wir, dass ein satirisches Buch wie dieses an diesen Entwicklungen rein gar nichts zu ändern vermag. Wohl jede_r, der/die abseits des Mainstream schreibt, kennt Revaz‘ Dogmen des zukünftigen Literaturmarkts zumindest in Ansätzen, hat sie vielleicht bereits in der ein oder anderen Form von einer Agentin oder einem Lektor zu hören bekommen.

Erstens: Ein Buch, das für sich steht, erzeugt Unbehagen. Oder, in Revaz‘ Worten: „Eine zu große Vielfalt konnten die Fernsehzuschauer als bedrohlich empfinden.“ Unangenehm erinnert dies an die bereits heute von den meisten Publikumsverlagen verfolgte Taktik, mit Fließbandware an bewährte Erfolgsrezepte anzuknüpfen. Zweitens: Es geht nicht mehr um Herausforderung, sondern um Wiedererkennung, Bestätigung, Verständlichkeit, kurz – um totale Transparenz. Niemand ließe sich mehr vor seinen Bücherschränken filmen, berichtet Joanna Fortaggi, Jennas einstige Konkurrentin und neue „Zwillingsschwester“: „Es war viel einfacher, vor einem Aquarium gefilmt zu werden. Alle Welt konnte sofort sehen, was darin war.“ Ein ironischer Verweis auf die Angst der Menschen vor dem dunklen Innenleben der Bücher. Was „wenn sie nebulös waren und unverständlich?“ Drittens: Die Medienpräsenz – bzw. die Verwertbarkeit im Rahmen eines bestimmten politischen Diskurses – ist für den Erfolg eines Autors/einer Autorin ausschlaggebend, nicht die literarische Qualität seiner/ihrer Texte. Hierzu erzählt Revaz die Anekdote eines bekannten Autors, der jahrzehntelang leere Bücher veröffentlicht. Als dies schließlich herauskommt (jemand muss es tatsächlich gewagt haben, die Nase in eines seiner Werke zu stecken!), hält sich der Skandal vergleichsweise im Rahmen.

„Die TV-Produzenten sahen es so: Wenn er es fünfunddreißig Jahre lang geschafft hatte, mit Pappschachtelbüchern an seiner Seite auf einem Podium zu sprechen, war das doch der Beweis dafür, dass er immerhin etwas zu sagen hatte.“

Es ist zum Lachen, und es ist zum Weinen, das Bild einer so übersättigten wie verflachten Mediengesellschaft, das Revaz hier in Kurz- und Kürzestkapiteln entwirft. Mit der Zeit allerdings ermüdet ihre Dystopie, da Revaz sich größtenteils auf trockene Zustandsbeschreibungen verlässt, anstatt lebendige Figuren zu erschaffen, die psychologisch nachvollziehbar handeln. Ohnehin ist der Plot in wenigen Sätzen erzählt. Jenna Fortuni und Joanna  Fortaggi, zwei junge, präsentable Erfolgsautorinnen, die schon aufgrund ihrer Namensähnlichkeit ständig verwechselt werden, touren von Talkrunde zu Talkrunde. Kein Wunder, dass ihr neuer Verlag alsbald auf die Idee kommt, ihre Namen zu einer „Superautorin“ zu fusionieren: Joeanna Fortunaggi. Und zugleich ein Buch herauszubringen, auf dessen Cover die Gesichter der beiden Frauen miteinander verschmelzen.

Der bitterböse Clou: Die meisten Verlage sind mittlerweile dazu übergegangen, ihre Bücher ausschließlich per Algorithmen zu produzieren. Mit dem Entstehungsprozess haben die beiden Autorinnen nichts mehr zu tun; sie dienen lediglich nach der Veröffentlichung als Projektionsfläche fürs Publikum (womit natürlich die Fernsehzuschauer_innen gemeint sind; Leser_innen gibt es schließlich nicht mehr). Man könnte sagen: Revaz ruft ein zweites Mal den Tod des Autors aus. Allerdings ein bisschen anders als Roland Barthes, Michel Foucault & Co. sich das vorgestellt haben dürften.

Durchaus scharfsichtig ist diese Satire auf den heutigen Literaturbetrieb und seine Auswüchse. Abseits seiner Kunstkritik wirkt „Das unendliche Buch“ allerdings reichlich unausgegoren. Sei es der Moderator mit dem abnehmbaren Kautschukgesicht oder Joannas Sohn, der per eingepflanztem Chip das Licht an und ausknipst – Science-Fiction-Fans werden über diese unbeholfen-naiven Einfälle vermutlich eher schmunzeln. Wieso das Fernsehen immer noch Leitmedium Nummer eins ist, wo doch die Menschen ständig „die Finger über ihre Bildschirme wandern“ lassen, bleibt ebenso rätselhaft.

Inkongruent erscheint auch das abrupte Happy End: In einem tollkühnen Protestakt beschließen Jenna und Joanna, gemeinsam in ihr Buch einzutreten. Was sie im Innern erleben, gleicht einem LSD-Trip, oder Alice‘ Fall in den Kaninchenbau. Unversehens finden sie sich wieder inmitten eines „ewigen Aufknospens“; unzählige Schmetterlingsflügel erheben sich aus den Seiten, und die beiden Autorinnen verschmelzen (wie auf dem Cover prophezeit) zu einer einzigen Person. Warum  allerdings ein offensichtlich durch Algorithmen verfertigtes Werk in der Lage sein soll, derart ekstatische Zustände hervorzurufen, bleibt unklar. Die eigentliche Botschaft des Romans verlangt schließlich eine Rückkehr zu selbstverfassten Worten, „die ihrem Geist direkt entsprangen“. Was Jenna und Joanna schließlich auch unter allgemeinem Jubel in Angriff nehmen. Als wären sie nie fortgewesen, kehren Originalität, Freiheit, Lebendigkeit und Poesie zurück auf den Plan. Die beiden Autorinnen avancieren zu Leitbildern, denen sowohl Jennas berühmter Ehemann als auch Joannas Kinder begeistert nacheifern.

Worum es in ihrem ersten selbst geschriebenen Buch geht, erfahren wir allerdings noch immer nicht. Sein Inhalt bleibt weiterhin geheimnisvoll und unzugänglich, während die Autorinnen in sämtlichen Fernsehshows als Heldinnen gefeiert werden.

 

Noëlle Ravaz
Das unendliche Buch
Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch
Wallstein Verlag
2017 · 284 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-1870-0

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