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Kritik

Die Angst und der Entwurf

Paul Virilio im Gespräch mit Bertrand Richard

Paul Virilios Befunde gehören seit vielen Jahren zu den erhellendsten, weshalb jeder seiner Texte aufs Neue sehr zu begrüßen ist – auch der aktuelle, ein Gespräch, das zwar manchmal den roten Faden vermissen lässt, doch dann noch immer kluge Assoziationen bietet.

Ausgangspunkt ist jedenfalls ein hysterisierter Globus, wie man es mit Michel nennen könnte, eine „Verwaltung der Angst“, mit der Herrschaft gestützt wird, während die Ge- und Befangenen systematisch verdummen sollen. Die Grunderfahrung ist dabei Paranoia: nicht zu wissen, was das Eigene und was das Fremde sein mag, eine in Zeiten der Fremdbesetzung indes lebenswichtige Unterscheidung, wie Virilio vom okkupierten Frankreich erzählt. Sie macht indes nicht intellektuell agil – nicht umsonst wurden bei behind line operations immer gerne deutliche, aber zugleich unklare Spuren hinterlassen, so etwa von den „schwarzen Teufeln“ der amerikanisch-kanadischen 1st SSF, die Sticker in infiltrierten Regionen Nazideutschlands hinterließ.[1]

Das Resultat ist zum einen, daß die Provinz – deren sozusagen unsicherer Status gewiß ist, wie es auch „nicht Kollaborateur […] wie […] Widerständler an sich“ (19) gibt[2] – am ehesten fruchtbar ist, „abgelegener und nur lückenhaft besetzt“ (21) ermöglicht sie eine Resistenz; Zeit und eine diffuse Identität gepaart mit „Mikrokollektivität“ (21) wird hier zur Utopie. Zum anderen zeigt sich, daß Angst, wo sie verleitet, in einem System, das sicher ist, aufzugehen, zwar nicht den Menschen tötet, aber sein Selbst: ihn als Individuum einer Demokratie, die mit seiner Verantwortung (dies zweifach..!) letztlich verschütt geht.

Es gibt aber die Zeit noch, die man virtuell verknappt, also auch die Geschichte, das post-histoire-Gerede ist ein Trug, wie es auch das Leben im Jetzt ist; dessen Proponent Onfray lese sich seltsam unerquicklich, wie Virilio bemerkt: Onfray, dessen Stern endlich sinkt, lese widerwillig doch des Hedonismus und seine eigene „Totenmesse.“ (58) Was es braucht, das ist Entschleunigung, eine Rückgewinnung lebensfreundlicher, demokratischer Rhythmik in einer Zeit, die „nur noch […] den Rhythmus der stetigen Beschleunigung” (28) kennt. In der Tat bedarf es dessen, während noch die meditativen Zeiträume von der Verwaltung der Angst erfüllt werden – ein lieber Freund, der Berliner Autor Peter Hodina, entdeckte unlängst in einem Tibet-Laden eine batteriebetriebene goldene Gebetsmühle aus Plastik, die keiner sie anstoßenden Hände mehr bedurfte…

Hier scheidet Virilio etwas willkürlich die Akkumulation von der beschleunigten Wirtschaft – könnte man doch auch ebenso sagen, beide verhandelten jene „schlechte Unendlichkeit”, die die „Form des Progresses des Quantitativen ins Unendliche” (Hegel) hat: Akkumulation, nur scheinbar transformiert durch die virtuell unendliche Tempo-Erhöhung, die die Akkumulation als solche schon wie einen unmittelbaren Umschlag der qualitas erscheinen läßt – womit also nicht etwa angesichts der „Beschleunigung” „(d)ie Anhäufung […] überholt” (66) ist, wie Virilio schreibt, sondern die eine das Wesen der anderen hier nicht ohne Raffinement verhüllt…

Was sich aber jedenfalls vollzieht, das ist eine Degeneration des Weltverhältnisses und dann der Welt, deren ökologische Probleme wie eine Folge der erodierten Politik erscheinen. Ob die Angst all das bewirkt, eine vom entmachteten Staat, der sich qua Angst im Gedächtnis halte, befreite Demokratie besser wäre, das ist freilich Spekulation. Auch ist die Angst nicht unbegründet, Virilio konzediert etwa, daß die „Möglichkeit, dass ein einzelnes Individuum den totalen Krieg beginnen kann“, wie der Terror von 9/11 letztlich erst ansatzweise zeigte, in der Tat „furchteinflößend“ (29) ist. Natürlich fürchtet man hier etwas, das zugleich Symptom der anderen Angst ist: Kontrollverlust infolge unzeitigen Lebens, der Selbstmordattentäter als Konsequenz eines pseudo-religiösen oder „nihilistischen Philo-Wahnsinn(s) […] ist das Bild des postindustriellen Heldentums“ (48), das Virilio als „Mono-Atheismus“ und „Hyper-Faschismus“ (73) zu benennen sucht…

Man ahnt hier eine gewisse Hilflosigkeit, die Virilio auch mehrfach eingesteht, er sei nur „kritischer Theoretiker“ (54), er sehe Aporien, auf die man aber mit Entscheidungen antworten muß, die nicht die einer Einzelperson sein müssen, genauer: es nicht sein dürfen. Das ist nicht understatement, sondern Konsequenz seines Ansatzes.

So scheidet Virilio Begriffe, erarbeitet Aporien und aus ihnen Optionen – grob skizziert die hier rekapitulierten, worin sich freilich der Band längst nicht erschöpft. Man bekommt also einen in kleinen, kritischen Interventionen servierten großen Wurf, der aber nur zu ahnen bleibt – eine elegante wie auch intellektuell redliche Option. Man mag nicht allem zustimmen, was Virilio formuliert, gewiß, doch die Lektüre ist sehr zu empfehlen.

 

[1]cf. http://www.boker.de/images/gross2/02bo1942_3.jpg (Stand: 1.10.2011)

[2]cf. etwa Martin A. Hainz: In hoc Signo [Pro]vinces. Out-Sourcing the Hearts of Empires, the Case

of Chernivtsi (Czernowitz, Cernauti). In: kakanien revisited, 07 | 01 | 2008, S.1-4, passim

Paul Virilio · Peter Engelmann (Hg.)
Die Verwaltung der Angst
Übersetzung:
Paul Maerker
Passagen
2011 · 96 Seiten · 12,90 Euro
ISBN:
978-3-851659818

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