Freiheit ist die Tätigkeit des Hinterfragens
Der diesjährige Schweizer Buchpreis geht an Peter von Matt für den Essay-Band „Das Kalb vor der Gotthardpost”. Die feierliche Preisverleihung fand erstmals im Theater Basel vor über 300 Gästen statt. Die Jury würdigte das Werk als „ein Buch, das in herausragender Weise zur Gegenwart der Schweiz spricht.” Weiter heißt es in der Begründung der Jury: “In Analysen von großer sprachlicher Kraft und gedanklicher Originalität beleuchtet Peter von Matt den Zusammenhang zwischen Literatur und Politik”. (Anm. der Redaktion)
„Das Kalb vor der Gotthardpost” ist eines von fünf Werken, welche die unabhängige Fachjury im Namen von LiteraturBasel und des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes SBVV 2012 im September unter 76 eingereichten Romanen und Essays von Schweizer Autorinnen und Autoren nominiert hat. Neben Peter von Matt waren Sibylle Berg, Ursula Fricker, Thomas Meyer und Alain Claude Sulzer auf der Shortlist.
(Quelle: derschweizerbuchpreis.ch)
Schweizer Literatur hat Tradition auf fixpoetry und so ist es nur konsequent das Buch eines Schweizer Germanisten vorzustellen, der anhand von dreißig ausgesuchten Texten verdeutlicht, wie sehr die Literatur eines Landes über seine Bewohner und ihr Politikverständnis Aufschluss gibt. Dieses Vorgehen ist womöglich nicht ganz neu, die Art und Weise, wie weitreichend und überzeugend Peter von Matt dieses Unternehmen durchführt, sucht allerdings ihresgleichen.
Die Vielfalt der Texte, die von Festreden über Rezensionen über Essays, die die Seelenlage der Nation thematisieren, reicht, Fragen der Kunstförderung behandelt, über Symbole, Berge und den Föderalismus nachsinnt, erklärt wie Empörung für Ordnung sorgt und sich naturgemäß immer wieder mit Literatur beschäftigt, hat ihre Grundlage in dem Anliegen Peter von Matts die Freiheit des Denkens zu verteidigen, indem er sich und den Lesern der Beschäftigung des Hinterfragens aussetzt.
Hubert Spiegel spricht in der FAZ vom Peter von Matt Effekt, und meint damit, „das sanfte Hinübergleiten des Lesers aus dem Zustand der Überraschung in den des Einverständnisses. Wir sind verdutzt und gewonnen beinahe im selben Augenblick. Das bewirkt indes nicht der bloße Effekt, sondern das effektvoll entwickelte Argument.“
Anhand einer Bildbeschreibung des Gemäldes „Das Kalb vor der Gotthardpost“ von Rudolf Koller, entwickelt Matt eine Geschichte der „Eigentümlichkeiten der Schweiz im politischen wie im literarischen Leben.“ Die hervorstechendste Eigentümlichkeit sieht er in der „Verquickung von Fortschrittsglauben und Konservatismus, ein janusköpfiges voraus- und Zurückschauen zugleich.“ Eindrucksvoll und ausführlich zeigt von Matt die Macht der Bilder, die tief im Unbewussten verankert, lange nachwirken.
Aus dem jeweiligen nationalen Leitbild ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen:“Wenn ein Land die frontier als Denkbild seiner zivilisatorischen Dynamik in der Seele trägt, die Vision von Aufbruch, Auszug und Landnahme, von unbeschränktem Weltgewinn, dann ist es bedenkenlos auf Ziele in der Zukunft ausgerichtet. Richtig ist, was kommen wird. Wenn ein Land aber eine Vision vom glücklichen Land der Väter in der Seele trägt, wo man weitab von Städten und Fürsten unter sich und zufrieden ist, nicht unterdrückt und nicht unterdrückend, wird jede Zukunft bedrohlich. Richtig ist, was einmal war.“
Schließlich kommt es zu Konflikten zwischen Welt- und Leitbild, spätestens wenn der technische Fortschritt ins Spiel kommt. Dynamik und Veränderung vertragen sich nicht gut mit einem statischen Leitmotiv.
Auch den Zusammenhang von Profitgier und Umweltkatastrophen vermag von Matt literarisch am Beispiel Gottfried Kellers nachzuvollziehen. Ebenso wie das Problem der Demokratie literarisch begründet und gedeutet wird.
„Freiheit ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit“, schreibt Peter von Matt. Und Literatur, könnte man hinzufügen, ohne seinen Widerspruch befürchten zu müssen, ist keine Literatur, wenn sie sich nicht dem Freiheitsgedanken verpflichtet.
Das heißt freilich auch, und dabei kommt ein weiterer Punkt, der von Matt am Herzen liegt, ins Spiel, dass man die Sprache ernst nimmt, immer wieder hinterfragt und sich nicht von einem vordergründigen Verständnis blenden lässt. „Unsere Naivität der Sprache gegenüber ist so groß, dass wir von der Differenz der Wörter zwingend auf die Differenz der Sachen schließen. Deshalb reden wir so oft aneinander vorbei.“ Als Philologe geht von Matt immer wieder den Worten und ihrer Rezeption und Wirkung auf den Grund, bei der Intrige zum Beispiel, oder am Beispiel der Grenzen, des nationalen Gemeinschaftsgefühls.
Worte prägen das öffentliche Bewusstsein, immer wieder gelingt Peter von Matt dieser Nachweis indem er eine „Anatomie des Begriffes“ vornimmt.
Letztendlich mündet all das in die Erkenntnis, dass der Autor im Schreiben frei ist, der Deutung des Geschriebenen aber wehrlos zusehen muss, bis vielleicht einer wie Peter von Matt kommt und nachträglich einige Dinge richtig stellt.
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