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Kritik

Das Leben als Gemenge und Möglichkeit zu mehr

Pierre Zaouis Philosophie hat Lust auf Leben

Ein „Überlebenshandbuch“, ein „manuel de survie“ nennt der französische Philosoph Pierre Zaoui (geb. 1968), der an der Pariser Universität VII-Diderot unterrichtet, sein Buch „La traversée des catastrophes. Philosophie pour le meilleur et pour le pire“. Der Titel ist Programm. Es geht um den Umgang, um unseren alltäglichen und den der Philosophie, mit katastrophalen Erfahrungen, mit Krisen, Brüchen und Rissen, mit schweren Krankheiten, tiefem Schmerz und Tod. „Neu“ und interessant ist dieser Zugang, insofern er sich nicht auf theoretische Konzepte versteift, keine abstrakte Abhandlung über den „Tod an sich“ oder über das „Sein zum Tode“ oder über den „Todestrieb“ intendiert, sondern von der konkreten Schmerz- und Leiderfahrung ausgeht, diese analysiert und daraus seine Schlüsse zieht. Was der Autor damit vermeiden möchte, ist einerseits eine von der konkreten Lebenserfahrung abgekoppelte Philosophie und andererseits ein in einem falschen Voyeurismus festgefahrenes Gebanntsein auf den Schmerz. Pierre Zaoui schlägt einen anderen Weg vor, einen wenn man so will „vitalistischen“ und zugleich „atheistischen“. Er benennt die Notwendigkeit, in die unteren Gefilde menschlicher Erfahrung hinabzusteigen – „Il faut bien descendre un jour dans ces souterrains impurs, impropres, obscurs, au moins quand on est philosophe“ (S. 12) – und sich dem Schmerz, dem Unappetitlichen, dem Abstoßenden zuzuwenden. Nicht, um es in der Folge heroisch-philosophisch zu überwinden, sondern um es zu akzeptieren.

Erster Anhaltspunkt und Gewährsmann bei diesem Unternehmen ist der „Parmenides“ von Platon, aus dem Zaoui für ihn wichtige Schlussfolgerungen zieht wie jene, dass es für die Philosophie keine „unwürdigen“ Gegenstände geben kann, dass Theorie und Praxis ebensowenig zu trennen sind wie Denken und Leben, oder die Forderung, dass die Philosophie sich ihre Gegenstände nicht aussuchen dürfe, sondern sich mit dem beschäftigen müsse, was ihr zufällt. Dieser Ansatz sei u.a. von Deleuze umgesetzt und vollendet worden und Deleuze bleibt – neben Heidegger, Spinoza und Nietzsche – ein wichtiger Bezugspunkt für das, was Zaoui öfter eine „philosophie de la boue“ (S. 38 u.a.), eine Philosophie des Drecks nennt.

Die Erfahrung von Krankheit, Schmerz, Leid, Siechtum verändert alles. Auch wenn die Bedeutung und die Folgen einer Krankheit je nach Kultur und Zivilisation sich ändern, so gibt es doch auch so etwas wie eine „Universalität“ der Erfahrung von Krankheit: das Herausfallen aus einer Lebenssicherheit nämlich, die Erfahrung der Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit des Lebens – „apprendre que vivre en vérité c´est vivre sans garantie“ (S. 65). Auf der Suche nach Orientierungsmarken nach der ersten großen Betäubung und Benommenheit können noch am ehesten die alten Griechen helfen, die Vorsokratiker. Die verschiedenen Strömungen des Epikureismus, der Stoizismus, der Skeptizismus und des Kynismus bieten Möglichkeiten an, Strategien, um des Schmerzes Herr zu werden, Wege, wie mit Krankheit und Schmerz adäquat umzugehen sei – und zwar im Hier und Jetzt, ohne auf ein besseres Jenseits zu hoffen oder sich mit religiösen Tröstungen beschwichtigen zu lassen. Bei den frühen Griechen u.a. holt sich Zaoui Bausteine für sein „modernes“, „atheistisches“ Überlebenshandbuch, das mit unglaublichem Einfühlungsvermögen und großer Akribie beschreibt, was dem modernen Menschen angesichts großer Traumata widerfährt: die existentiell bedrohliche Verunsicherung und danach, peu à peu, das Sich-Einrichten im Chaos. Das „Durchqueren der Katastrophen“ meint einen Prozess, in dessen Verlauf verschiedene Etappen unterschieden werden können. Da steht am Beginn der Sturz in den Abgrund, das große Erstarren, das Chaos. Allzu vertraute Begriffe wie „Glück“, „Zukunft“, „Verlust“, „Vernunft“ etc. verlieren ihre Bedeutung, Chaos macht sich breit, die Bilder von sich selbst und von den anderen lösen sich auf. Nichts hält mehr. Und doch, und doch! Inmitten der desaströsen Erfahrung von Verlust, Abgrund und Selbstauflösung machen sich unerwartete Lebenskräfte bemerkbar, ein neuer Lebensgeist regt sich, der ebenso unerwartet wie irreal und beglückend ist. Das Leben formiert sich neu und es formiert sich zu etwas „Neuem“. Eine „neue“ Sicht des Lebens, der Welt und des Ich stellt sich ein, die vor nichts mehr zurückschreckt, die alles zu akzeptieren und zu integrieren bereit ist: das Tiefste und Traurigste und das Skurrilste und Bizarrste, das Überraschendste und Deprimierendste und das Begeisterndste und Überschwänglichste. Es ist eine „atheistische“ Sicht des Lebens, weil sie nicht auf Legitimation und Schutz von „oben“ hofft, weil sie gut gemeinte Erklärungen und Tröstungen ablehnt und auch weil ihr der Glaube an ein besseres Jenseits und auf eine „höhere“ Gerechtigkeit abhanden gekommen ist. Ihr bleibt nur das Leben hier und jetzt, dieses ebenso erbärmliche wie grandiose Leben, das in all seiner Niedrigkeit und all seiner Glorie angenommen werden will. Das bedeutet keine Übersteigerung „des Lebens an sich“, keine Resignation, sondern die Akzeptanz der Unerklärlichkeit und Ungesichertheit des Lebens. Diese Haltung schließt auch das Wissen mit ein, dass inmitten der Trauer und der Verzweiflung Funken von Glück und Freude sich auftun (werden) und dass dies alles, dieses seltsame Gemenge, eben das Leben ausmacht.

Diese so „moderne“ und „atheistische“ (weil Zaoui darauf besteht) Vision des Lebens findet der Autor in den Psalmen des Alten Testaments und er lädt alle, auch oder gerade die Atheisten, zu einer Lektüre dieser Texte ein. Hier bereits würde sich, meint Zaoui, eine Vorstellung von Glück finden, die von einer zu engen Vorstellung von Glück als „Ruhe“ oder „Überschwang“ Abstand nimmt und eben die Unerklärlichkeit und Unabwägbarkeit des Lebens mit in Betracht zieht. So wie das Leben ist auch das Glück nicht einfach, nicht ungebrochen, nicht immer „gut“, nicht „sicher“. Auch das Glück verdankt sich oft dem Unglück, es besteht manchmal im Unglück der anderen, es ist ungerecht und unerwartet, es ist groß und manchmal klein. Von all dem erzählen die Psalmen, sie reflektieren eine Glücksvorstellung, die alles ist: hoch und niedrig, einfach und kompliziert, moralisch und unmoralisch – „pas un bonheur spécifique, pur, immaculée dans sa différence d´avec toutes les joies communes et toutes les autres eudémonologies, mais l´éclat de tous les bonheurs communs, des plus hauts aux plus bas, des plus moraux aux plus immoraux […].“ (S. 294)

Es ist ein Fest des Lebens und der Lebensfreude, das Zaoui zeichnet, gegen jede Tröstung über den Tod gerichtet, gegen jede Akzeptanz und Integration des Todes aufgestellt, ein Appell gegen den Tod und für das Leben und für die Liebe. Es spannt den Bogen von der frühgriechischen Philosophie bis zur Philosophie der Moderne, es integriert Kunst und Literatur (besonders Kafka und Beckett), es führt zum Holocaust und zu Antigone und es macht Mut zu leben. Mehr, denke ich, kann man von einem philosophischen Buch nicht erwarten, und zu hoffen ist auf eine baldige Übersetzung ins Deutsche.

Pierre Zaoui
La Traversée des catastrophes
Philosophie pour le meilleur et pour le pire
SEUIL
2010 · 384 Seiten · 23,30 Euro
ISBN:
978-2-021029833

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