Kritik

Ein atheistisches Mosaik der Momente

Raoul Schrott bedient virtuos die Klaviatur der Metaebenen
Hamburg

Die edle Kunst, an nichts zu glauben, die im Titel von Raoul Schrotts jüngstem Gedichtband propagiert wird, ist die von den Gegnern der Literatur vielgeschmähte Fähigkeit, eine offensichtliche Fiktion für wahr zu erklären, auch zum Beispiel dann, wenn einer vorgibt, in der Biblioteca Classense in Ravenna auf das Manuskript eines gewissen Matteo Cnuzen gestoßen zu sein, der natürlich niemand anderes sein kann, wie Schrott in seinem ein übersprudelndes philologisches Wissen launig persiflierenden Vorwort darlegt, als der 1646 im friesischen Oldenswort geborene Matthias Knutzen —: nämlich auf das Traktat

Manuale Dell’ Esistenza Transitoria (De Arte Nihil Credendi)

das in näherem Zusammenhang mit einigen weiteren atheistischen Schriften der frühen Neuzeit stehen soll —: eine Kunst wohlgemerkt, weil dies einschließt, nicht leichtfertig abzulehnen, abzuleugnen, sondern die kritische Haltung selbst zur Kunstform zu erheben.

Den Mosaiken von Ravenna habe Raoul Schrott nacheifern wollen, denn sie seien

ein derart diesseitiges Phänomen, dass ich wünschte, das Hier und Heute mit Worten ebenso darstellen zu können wie diese Steinstifte die Figuren ihrer Welt.

Angeblichen Auszügen aus dem Manuskript — das aufgrund seiner Diktion freilich schnell als Produkt dieses, unseres Jahrhunderts entlarvt werden kann — hat Schrott Gedichte gegenübergestellt,

als Illuminationen von fremder Hand.

Ein solches Spiel mit der Les- und Unlesbarkeit der Welt klinkt sich lückenlos in die Bibliotheksmetaphern eines Borges oder Eco ein, um eine eigene manichäische Tradition fernab des kirchlich sanktionierten Glaubens zu erschaffen. Die Kunst, an nichts zu glauben, ist hier außerdem die pointierte Forderung an den Leser, dem Buch mit seinen Texten kritisch (oder zumindest nicht kritiklos) gegenüber zu stehen, die Masken, die Fiktionen, hinter denen sich (unvermutet) Wahrheiten allgemeinen Charakters verbergen, als solche zu erkennen, und die Datierungen (von denen zwei gar in der Zukunft liegen) womöglich als Irritationen zu betrachten —: eine Kunst also, die Lektüre des Buchs mit jener von der Vernunft diktierten kritischen Distanz vorzunehmen.

Aus dieser Distanz ergibt sich tatsächlich die Illustration dessen, was eines der vorgeblichen Bruchstücke aus dem Manuskript behauptet:

alles was wir erleben — alles was real ist — sind einzelne augenblicke.

In die Stimmen eines Museumswächters, eines Busfahrers, einer Ornithologin, eines Pizzabäckers, einer Souffleuse, eines Geschiedenen, eines Informatikers und vieler anderer mischen sich Blickwinkel über Orte und Momente, über Zeitläufte und allegorische Situationen zu einem Chor der Gegenwart, der jedoch nur an den Soli, an der Summe der Solisten, erkennbar ist. Nach solchem literarischen Perforceritt steht wohl unumstößlich fest: Die Kunst, an nichts zu glauben, wie sie Roul Schrott definiert, ist durch das Purgatorium eines festen Glaubens gegangen, den man vielleicht mit einigem Recht atheistisch nennen darf, der sich aber sehr wohl auf die religiösen Funktionen der Literatur beruft, nämlich auf die Invokation und Inthronisation säkularer Einzelheiten in der Diesseitsfeier der Imagination.

Die Kunst, an nichts zu glauben, ist in ihrem Wesen nach also höchst paradox, verlangt sie doch einerseits, die literarischen Fiktionen als solche zu durchschauen, andererseits aber doch darauf zu vertrauen, daß das Buch kein (oder: „nicht nur“?) Narrenspiegel ist, eine Vortäuschung falscher und letztlich irgendwie doch richtiger Tatsachen —: sodaß am Ende die Kunst dieses Nichtglaubens ein Akt des Vertrauens ist, aufklärerisch durchleuchtet allerdings, und die Beschwörung des Moments, von jeder Gottesvorstellung gleich welcher religiösen Couleur losgelöst, plötzlich säkular religiös wird, als eine Kunst-Religion eben. Wo andere Autoren eine Erneuerung des katholischen Glaubens fordern, will Raoul Schrott eine Welt der Einzelheiten und Augenblicke feiern, und er tut dies mit der Inbrunst eines wahrhaft Gläubigen.

die erde das sediment des himmels
darauf dieses flächenhafte wuchern des schimmels
aus dessen fäden und sporen wir hervorgingen
um im nervengeflecht von hirnschlingen
zeiten und welten zu vergleichen
sie auf papier zu skizzieren als würden solche zeichen
etwas von der wirklichkeit wiedergeben
die wir kaum begreifen . der wir trotzen . die wir leben

Kunstvolle Gebilde sind es allemal, die gegen eine sanktionierte Sicht auf die Welt sprechen, eine a-theologische und vor allem a-teleologische, die den Moment feiert, das Augenblicks-Paradies, in ihrer Perfektion aber eine gewisse unnahbare Kälte aussstrahlen. Das liegt nicht an der — scheinbaren — Abwesenheit des Autor-Ichs (dessen Vita am Schluß des Bandes nur aus den Titeln der von ihm verfassten Bücher besteht), sondern an der raffinierten Verschränkung der Reime im Verbund mit genau abgemessenen Zeilenlängen und, auf der inhaltlichen Ebene, mit häufig sentenzenhaften Versen. Doch das Gefühl darf gerne — nein: sollte unbedingt — einen Umweg über den Intellekt nehmen. So ist die Kunst, an nichts zu glauben, eine Einübung ins Faktische, Vorhandene, Gegenwärtige, die nicht geglaubt, sondern gelebt werden muß —:

denn am ende sind wir nur tot.

Raoul Schrott
Die Kunst an nichts zu glauben
Hanser Verlag
2015 · 168 Seiten · 18,40 Euro
ISBN:
978-3-446-24965-3

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