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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Experimente mit der Galle

Versuchshalber Melancholie. Eine Geschichtensammlung.
Hamburg

Zwischen dem Moment, als ich Schwarze Galle der türkischen, in Istanbul lebenden Autorin Sema Kaygusuz – von Sabine Adatepe ins Deutsche übersetzt – zum ersten Mal las, und dem Moment, wo ich das Buch wieder zur Hand nahm, um darüber zu schreiben (und es also nochmal gründlich zu lesen), war aus privaten Gründen einige Zeit verstrichen. Dieser unfreiwillige Abstand zwischen Erst- und Zweitlektüre hat es mir erlaubt, vor der erneuten Lektüre zunächst dem nachzugehen, was mir von dem Text nach dem ersten Lesen in Erinnerung geblieben war.

            Es waren vor allem ‚Bilder‘ oder Ausschnitte von Episoden, sechs an der Zahl, an die ich mich, wenn auch manchmal nur bruchstückhaft so doch durchaus lebhaft, erinnern konnte:

            Musa, der unausweichlich seinem gewaltsamen Tod entgegenfährt (und man fährt mit, mitten hinein und auf das Unabwendbare zu); ein Haufen bedrohlich knurrender Hunde, die immer beim Erscheinen eines ominösen Gärtners völlig außer sich geraten; Bora, der eine Flaschenpost findet und einen Anzug geschneidert bekommt; eine eigentümliche Frau, die sich auf nicht minder eigentümliche Art Eintritt in die Wohnung der Erzählerin verschafft und Stahltöpfe und allerlei Küchenutensilien zum Reinigen abschleppt, ganz gegen den Willen der Besitzerin; der Junge, der dem Honig verfällt und regelrecht honigkrank wird, was ihn an den Rand des Todes treibt und die Eltern an den Rand der Verzweiflung, bis Veysel, der Heiler, ihn den Hunger sehen lehrt. Und dann noch das Tal der Schmetterlinge…

            Schwarze Galle ist eine Geschichtensammlung, die aber nicht ‚lose‘ erfolgt, sondern von einem ganz bestimmten ‚Klangfaden‘ durchzogen ist (und fast könnte man sagen: von zweien solcher Fäden, die wiederum einander umspinnen). Und der Eindruck, den diese Sammlung vor allem hinterlässt, ist ‚experimentell‘. Und das will ich etwas genauer erklären. Denn dieses Wort ist – im Zusammenhang mit diesem Buch – weitaus weniger ‚abgedroschen‘ oder ‚überholt‘, als man meinen könnte: Es ist sogar alles andere als dies.

            Schwarze Galle ist ein Text, der aus dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD hervorgegangen ist. Kaygusuz war 2010 Gast des Programms, und der Text wirkt an vielen Stellen wie ein echter Werkstatt-Text, ja, er wirkt auf gewisse Weise wie nicht fertig geworden, und zwar nicht etwa, weil die Geschichten nicht zu Ende erzählt wurden, sondern weil dieses Unfertige auf ganz eigentümliche Art in der Sprache steckt. Was also an dem Text so überrascht, ist vor allem sein, nennen wir es mal, ungeglätterter Charakter. Und das meine ich mit ‚experimentell‘: Selten – so jedenfalls mein Eindruck – bekommt man in der heutigen Verlagswelt Texte zu lesen, die dermaßen ungeschliffen erscheinen (erscheinen dürfen!) und daher von ganz schwachen bis sehr starken Stellen alles bereithalten, dabei aber durchaus, zumindest überwiegend, ‚funktionieren‘. Schwarze Galle jedenfalls entwickelt in seiner eigenartigen Berg- und Talfahrt phasenweise eine sonderbare Sogkraft, einen ganz eigenen Reiz. Und die Stellen, die scheitern, sind wie eingelassen in dieses raue Ringen um die Worte… So anstrengend ich daher bisweilen die Lektüre fand, so anregend fand ich sie, gerade weil Texte dieser Art, denen das Wagnis des Misslingens ebenso eingeschrieben ist wie das des Gelingens, dem heutigen Leser ansonsten so gut wie nie oder nur sehr selten unterkommen. Sie werden meistens vorher mit dem Etikett „nicht publizierbar“ abgefangen oder eben solange „lektoriert“, bis alles „geglättet“ ist. Schwarze Galle aber ist durchgekommen, mit all seinen Ecken und Kanten. Und das ist, bei allen Schwächen des Texts, eine Bereicherung. Hier darf die Literatur ihren eigenen Probelauf voll- und vorführen, und wer will, schaut ihr dabei zu.

            Kehren wir also nochmal zurück zum Inhalt des Buches:

            Die zwei sich umspinnenden Fäden sind zum einen das Motiv der Schlaflosigkeit, dem Gilgamesch, „[dieser] an Schlaflosigkeit leidende Herrscher aus zwei Bissen Gottheit und einem Biss Mensch“ zugeordnet ist, und zum anderen die Dichterin Birhan Keskin, die eben genau dieser Gruppe von Menschen – denen nämlich, die nicht schlafen können und die mit besonders spitzer Sinneswahrnehmung ausgestattet sind – zuzurechnen ist.

            Sechs Erzählungen, die auch für sich stehen könnten, enthält das Buch (und die eine Erzählung enthält eigentlich zwei Erzählungen: Also sind es genau genommen sieben). Jeder der sechs Erzählungen ist zunächst ein Passus, der irgendwie mit Gilgamesch und Birhan zu tun hat, vorangestellt, doch ergeben diese Passagen keine eigene, sprich zusammenhängende Erzählung, sondern transportieren vielmehr den Grundgedanken der übersteigerten bzw. besonders ‚grellen‘ Wahrnehmungsfähigkeit immer weiter. Bis hin zur siebten (bzw. achten) Erzählung. In all den Geschichten geht es also um die  überstarke Wahrnehmung der Welt aus besonderen Zuständen heraus. In der letzten Erzählung dann ist Birhan – Kaygusuz’ Dichterfreundin – selbst die Hauptfigur. Sie wandelt durch das Tal der Schmetterlinge, das so sehr mit Schmetterlingen bedeckt ist, dass man kaum gehen kann, ohne auf einen drauf zu treten…

            Die Schlaflosigkeit ist also Pulsgeber, sie bildet den ‚Rahmenzustand‘ des gesamten Buches. Und so lässt Kaygusuz den Band auch mit dem Trommelschlag – danga da dan dan – des Gilgamesch beginnen. Er löcherte, wie es sehr schön heißt, die Finsternis mit „flammende[n] Fragen“. Und Birhan dient der Autorin durch ihre Schlaflosigkeit hindurch ebenfalls als Pulsgeberin. Und so wie ohnehin in allen Geschichten die Dinge stets miteinander zu verschmelzen scheinen und daher eben gerade oft nicht kristallklar (ich komme darauf zurück) sondern vielmehr sonderbar verhangen sind, so gibt es auch zwischen Birhan, der Ich-Erzählerin und Sema Kaygusuz Überlappungen und sich auflösende Linien. 

            Ich werde hier nicht näher auf jede einzelne der Geschichten und ihre Deutungsmöglichkeiten eingehen. Der Leser entdecke sie selbst.  

            Zwei Stellen möchte ich jedoch kurz herausgreifen, die eine aufgrund des Inhalts, die andere aufgrund eben jenes ‚Scheiterns‘, von dem die Rede war.

            Die erste Stelle findet sich in dem Abschnitt, der den Titel „Gelöbnis“ trägt. Die beiden Figuren – Bora, der eine Flaschenpost findet, in der eine Nachricht aus einer Schneiderei von der anderen Seite des Marmarameeres steckt, die besagt, dass er sich dort umsonst einen neuen Anzug schneidern lassen kann, und Helin, die Schneiderin, die nach Boras Auftauchen diesem tatsächlich den per Flaschenpost versprochenen Anzug schneidert – die beiden Figuren führen über das gesamte Kapitel hinweg Gespräche, die während des Maßnehmens und der Anproben stattfinden und viel mit verschiedenen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Welt zu tun haben. Dabei geraten sie auch schon mal (auf oft subtile Art) aneinander, in anderen Gesprächen wieder finden sie Berührungspunkte ihrer Sicht der Welt.

            Besonders schön ist dabei die Erzählung Helins über die Mutter Osman Şahins, eines anderen türkischen Autors, dem Helin einmal einen Zweireiher nähte. Helin berichtet:

            Während seiner Militärzeit hat er einmal an einem Erzählwettbewerb teilgenommen und ihn auch gewonnen. Darauf schrieb er sofort seiner Mutter, die auf dem Lande lebte und nicht lesen und schreiben konnte. Da Osman Şahin wusste, dass jemand seiner Mutter den Brief vorlesen musste, bemühte er sich, möglichst explizit zu schreiben: „Liebe Mutter, bei einem Wettbewerb, der von einer bedeutenden türkischen Institution ausgeschrieben wurde, bin ich mit meinen Erzählungen Erster geworden.“ Einen Monat später bekam er aus ihrem Dorf einen Brief, einen ganz kurzen nur, mit krummen Buchstaben auf einer herausgerissenen Heftseite geschrieben, also offensichtlich einem Schulkind diktiert. Die Antwort der Mutter lautete: „Lieber Junge, ich gratuliere dir, dass du Erster geworden bist. Hoffentlich wirst du auch Zweiter und Dritter.“ […] Osman Şahin begriff nicht, was sie ihm da sagen wollte, und als er nach seiner Demobilisierung ins Dorf fuhr, sah er, wie seine Mutter unter einem Baum saß und Äpfel sortierte; die einen sollten gleich gegessen, die anderen getrocknet werden. Er fragte: „Mama, hast du dich denn nicht gefreut, dass ich Erster geworden bin?“ Seine Mutter nahm ein paar Äpfel in die Hände und hielt sie ihrem Sohn hin. „Was soll ich denn nur mit dem ersten, schau doch, so nebeneinander sind es viel mehr.“ Die Frau hat also die Welt sammelnd wahrgenommen, und nicht zählend. Weil sie nicht einzelne Äpfel sah, sondern reichen Segen.

            Und darauf Bora nachdenklich:

            Schon merkwürdig […], dass Mutter und Sohn so unterschiedlich sprechen. Wo sie doch mit den gleichen Äpfeln aufgewachsen sind.

            Und Helins Antwort:

            Wie man sich an die Welt gewöhnt, so redet man.

            Mit einem fast schon lapidar klingenden Satz dreht Helin das Verhältnis von Wirklichkeit und Sprache so, dass die Sprache nicht etwa wirklichkeitsbildend wirkt, sondern im Nachhinein ‚erfolgt‘ und lediglich wiedergibt, was sich zuvor bereits durch einen Prozess der ‚Gewöhnung‘ herausgebildet hat. Der zählbaren und gezählten Welt, die stets dem Ersten (dem vermeintlich Besten) den Vorrang gibt, steht die Welt gegenüber, die in allem Fülle erkennt und damit keine Rangordnung vorsieht, und der Beginn beider Welten liegt bei Helin nicht etwa im Wort, sondern… und hier fängt das Leserhirn natürlich an zu suchen.

            Und zu dem zweiten Punkt:

            Einer der Abschnitte, die mir beim Lesen wirklich Bauchschmerzen bereitet haben, ist ausgerechnet der, in dem die Erzählerin dem Unterschied zwischen Hüzün – diesem dem Türkischen eigenen hochberühmten Ausdruck für eine ganz spezifische Art der „Traurigkeit“ – und Gram nachgeht. Der Abschnitt zieht sich über etwas mehr als sieben Buchseiten hin, und außer den Worten „Hüzünler“ und „Gramerfüllte“, die ständig angeführt werden, bleibt von den seltsam ungelenk vor sich hin theoretisierenden Sätzen nicht viel hängen. Der ganze Abschnitt wirkt leider ungemein bemüht. Und nach diesen sieben viel zu langen Seiten ist man mürbe und schwört sich, von nun an einen großen Bogen um eben diese sieben Seiten zu machen.

            Im Klappentext der Ausgabe von Matthes & Seitz ist von Kaygusuz‘ kristallklarer, bildmächtiger Sprache die Rede. Ich muss zugeben, dass ich dies genau nicht so empfunden habe, zumindest nicht durchgängig. Es gibt Geschichten, bei denen dies zutrifft. Die Erste z. Bsp., die von der Ermordung des kurdischen Intellektuellen und Schriftstellers Musa Anter berichtet. Mein Eindruck beim Lesen aber war, dass es kristallklare und bildreiche Momente gibt, dass aber Kaygusuz‘ Sprache, zumindest im Deutschen, oft an der versuchten Überschärfe der durch sie geschilderten (bisweilen allzu langatmigen) Wahrnehmungen scheitert. Schön (und bisweilen dann auch kristallklar, aber das ist auch dann nicht ihr durchgängiges Merkmal) wird die Sprache eigentlich immer genau dort, wo die Bemühung um jene Überschärfe nicht stattfindet.

            Insgesamt lässt sich also sagen:

            Schwarze Galle besticht wirklich vor allem durch zwei Dinge. Durch die in dem Band konsequent durchgezogene unbedingte Experimentierfreude und durch die damit einhergehende experimentelle Freiheit. Denn das Unfertige ist auch genau dies: Es ist, als schaue der Text sich selbst bei seiner (unabgeschlossenen) Entstehung zu.

            Und diese beiden Kräfte – unbedingte Experimentierfreude und experimentelle Freiheit – sind es auch, die ich persönlich bei aller Kritik an dem Band schätze und die diesen Band empfehlenswert machen, insbesondere empfehlenswert für alle, die genau dieses Bestreben im ‚Literaturbetrieb‘ vermissen. Den Schutzumschlag des Buches ziert übrigens die Abbildung eines Bildes des belgischen Malers Leon Spilliaert – Pose Solitude von 1901 –, das perfekt zu dem Band und seiner ‚Pose‘ passt.

            Das Schöne am wirklich, d.h. gelungen Experimentellen: Dass es keineswegs immer gelingt, ja, es scheitert mitunter sogar, und sogar ganz wunderbar, aber eben nie nur. Das ist seine ‚Natur‘. Etwas experimentell zu nennen, ergibt nur dann einen Sinn, wenn man anerkennt, dass dem so Zugelassenen stets auch die Möglichkeit, ja das Risiko des z. Bsp. Holprigen und Störrischen innewohnt, dass es durchaus ungeglättet daherkommen kann, ohne dabei z. Bsp. gleich von vorne bis hinten schlecht zu sein. Denn ein nicht geglücktes Experiment ist eben keineswegs zwangsläufig ‚unhinnehmbar‘ schlecht, es kann eben auch experimentell sehr gelungen sein (der Hüzün-Passus allerdings kann wohl als experimentell misslungen gelten, aber auch das kommt bei einem solchen Unterfangen vor). Und der Band Schwarze Galle hat etwas von genau dieser Art des Funktionierens und Scheiterns, mal so, mal so, mal so. Und das ist gut, trägt es doch dazu bei, das Literatur und damit Autoren wie Leser gleichermaßen eine immer vorhandene, doch viel zu wenig belebte Nische erkunden dürfen, eine Nische, die fast schon aufgegeben zu sein scheint bzw. in die sich die allerwenigsten Menschen noch hineinwagen: die Nische ihres eigenen Sich-Erprobens, das sich als genau Solches zeigen darf. Werkstatt live.

Sema Kaygusuz
Schwarze Galle
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller.
Matthes & Seitz
141 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-88221-049-1

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