Verschärfung der Wahrnehmung
Der Wunderhorn Verlag legt in seiner „Reihe P“, einer „neuen Bibliothek der modernen Poesie“ den Band „Logbuch“ mit einer Auswahl von Gedichten des englischen Dichters Tom Raworth vor, kongenial ins Deutsche übertragen von Ulf Stolterfoht und mit einem äußerst instruktiven Nachwort seines Kollegen Andrew Duncan versehen.
Für mich ist das Ganze eine riesen Entdeckung und es fällt mir schwer, meine Begeisterung zu zügeln. Entsprechend schwierig ist es auch, diese Rezension zu verfassen, kann ich mich doch nicht außerhalb der Sprache bewegen, von meinen Tänzen und Tänzchen berichten, die ich unter dem Einfluss der Lektüre aufführte. Der Bericht würde lediglich aus ekstatischen Ausrufen der Freude und Bewunderung bestehen. Aber wir sind Knechte des Geschriebenen. Nur als Leser sind wir frei, aber auch da nur in den Situationen der erfüllenden Lektüre. Da allerdings gibt es eben jene Momente der Befreiung, in denen es gelingt, das Ego hinter uns zu lassen.
Mit Raworth Texten geht es allerdings nicht auf die Reise in ein psychodelisches Zugedröhntsein. Es ist nicht das Verschwimmen der Bilder was uns haltlos im Raum schweben lässt, sie sind also in diesem Sinne keine Droge. Eher vollziehen wir eine Schärfung und Verschärfung der Wahrnehmung mit. Im Text „Mit + Tag = Mittag (funktioniert nicht spiegelverkehrt)“ heißt es „fenster hört am fensterrahmen auf und tür am türrahmen: der betrachter schließt die augen und setzt die reise fort. erinnerungen zerschellen am begriff. ...“
Andrew Duncan schreibt im Nachwort, Raworth Texte seien am Bebop geschult. „Bebop entwickelte sich (womöglich ist das nur Küchenlatein) aus einer Spielform die zur Begleitung von Stepptänzern diente, einem Stil mit extrem schnellen Tempi, durchgängigem Stakkato, rhythmisch äußerst präzise, leicht manieriert, aber fast ohne erkennbaren Personalstil.“ Dieser Charakterisierung einer Musikrichtung, zumal des Jazz, wohnt meiner Meinung nach, auch eine Anweisung zur Selbstbefreiung inne. Allerdings verwehrt Raworth sich dagegen, mehr vom Jazz als von der Rockmusik beeinflusst zu sein. Zu Letzterer habe er eine durchaus innige Beziehung.
Raworth ist 1938 in London geboren. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gründete er gemeinsam mit Barry Hall die Goliard Press (später Cape Goliard), die unter anderem Charles Olsen, dem Frontman der Blak Mountain Poeten einen ersten Band in England bescherte. 1966 debütierte er mit dem Buch „The Relation Ship“. Seine literarischen Anfänge liegen also durchaus in einer Zeit des musikalischen Umbruchs. Und diese Energie ist bis ans Ende des Buches spürbar. Stolterfohts Übersetzungen funktionieren wundervoll als Brücke und als Transformator.
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