Die Geburt des Clickbaits aus dem Geiste der DJ Culture
Es gibt im Musikjournalismus kaum einen größeren Superlativ als das Wort »Klassiker«. Als Klassiker werden Alben oder Songs gehandelt, die sich gegen die massenhafte Konkurrenz durchsetzen können, den Zeitgeist in der kritischen Wahrnehmung besser auf den Punkt bringen als andere das vermögen und weit über ihre Zeit hinaus relevant bleiben – was auch immer das heißt.
Das Schreiben über Musik produziert selten Klassiker, und wenn, dann eher im literarischen Bereich. Ist Rainald Goetz‘ Rave ein Klassiker? Vermutlich, und sei es nur als literarisch-historisches Dokument herrlich zerfranster Zeiten. Sein zusammen mit dem DJ und Produzenten Westbam verfasstes Hybrid aus Narration, Interview und Manifest mit dem Titel Mix, Cuts & Scratches aber? Wohl eher nicht. Weil es darin doch zu sehr um die Person Westbam geht und diese an Relevanz verloren hat. Das zumindest ist der Tenor in der deutschen Techno-Szene, obwohl die ohne Westbams Einsatz so nie existiert hätte. Der Tropen-Verlag hingegen hält ihn für den »wichtigsten DJ unserer Zeit«. Das ist ebenfalls ein Superlativ, vielleicht ein noch größerer.
Eines zumindest ist sicher: Maximilian Lenz, wie Westbam bürgerlich heißt, kann noch immer fantastisch schreiben. Anspielungsreich, wortwitzig und meinungsstark. Seine im vorigen Jahr erschienene Autobiografie Die Macht der Nacht zog jedoch viel Kritik auf sich, unter anderem von ehemaligen Weggefährten wie Tanith. »Weil es so emotionslos gegenüber dem ist, was ihn ja so groß gemacht hat, der Musik«, beklagte sich der im März auf seinem Blog über Die Macht der Nacht und endet mit Anspielung auf den Namen des von Westbam gegründeten Labels auf einer vernichtenden Note: »Es wirkt als würde die Begrifflichkeit des Namens Low Spirit erst nach dem Verkauf seine persönliche Wirkung entfalten.« Das impliziert neben dem tatsächlichen Verkauf des Labels nämlich auch einen Vorwurf, der in der auf Integrität und Authentizität pochenden Techno-Szene schwer wiegt: Den des Ausverkaufs aller Werte.
Eben jener Westbam schreibt in einem Text mit dem Titel Eine kurze DJ-Kultur-Geschichte der Neuzeit über das Phänomen des »Super-DJ«, welcher »nichts mehr dem Zufall zu überlassen« scheine und sich Anfang der Nullerjahre etablierte, bevor langsam das Mega-Spektakel des EDM-Zirkus in den USA Wurzeln schlagen konnte – bunte, megalomanische Shows, in deren Zentrum nicht die Musik, sondern das reine Event steht. Und obwohl Westbam in seinem Text selbst darauf hinweist, dass DJ-Kultur schon von Vornherein kapitalistisch vereinnahmt war, klingt das despektierlich, und deshalb ironisch aus der Feder eines DJs, der auf Veranstaltungen spielt, die von Supermarktketten finanziert werden.
Eine kurze DJ-Kultur-Geschichte der Neuzeit ist das Nachwort der Neuauflage von Ulf Poschardts DJ Culture, das als eines der ersten deutschsprachigen Bücher überhaupt DJ-Kultur ernst nahm und in der Tiefe analysierte. DJ Culture war Poschardts Dissertation, die von Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen geprüft und vom deutschen Godfather of Kulturwissenschaft Friedrich Kittler höchstpersönlich abgenommen wurde. Kittler selbst taucht nicht nur hier und dort in den Fußnoten auf, sein eigenes Denken ist tief in die Grundstruktur von Poschardts Arbeit eingewoben. Das beginnt schon mit dem Einstieg, der die ersten Worte aus Kittlers Grammophon. Film. Typewriter fast eins zu eins übernimmt: Alles beginnt bei Kittler wie bei Poschardt mit Thomas Alva Edison, der sein »Hulloo« ins Telefonmundstück brüllt. Das aber ist nicht nur verzeihlich, sondern im Grunde ein methodisches Präludium für das Kommende: Poschardts Ausführung über postmoderne (Re-)Mixstrategien verwendet selbst eben solche, um ihre Argumentation nicht allein inhaltlich, sondern auch formal zu stützen. Das ist smart, aber gefährlich: Je mehr historische und theoretische Referenzen, desto höher die mögliche Fehlerquote. Die tatsächliche fällt allerdings gering aus.
DJ Culture könnte ein Buch über Musik sein, das den Superlativ »Klassiker« verdient hätte. Es konnte sich gegen die Konkurrenz durchsetzen, obwohl diese im deutschsprachigen Raum kaum existent war oder wie Mix, Cuts & Scratches die eigene Methode zu weit trieb. Zumindest aber konnte DJ Culture kurz vor dem endgültigen Durchbruch von Techno im Mainstream und dem Ende des Golden Age der Hip Hop-Kultur den Zeitgeist besser auf den Punkt bringen als andere.
Mit der aktualisierten Neuauflage im Herbst 2015 stellt sich jedoch die Frage, ob dieses Buch, das keineswegs mit einem Nachwort vom »wichtigsten DJ unserer Zeiten«, sondern eben von Westbam daherkommt, weit über seine Zeit hinaus relevant bleiben konnte. Die Diskurse, die Westbam Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre so scharfsinnig wie kaum jemand sonst anstieß, werden von anderen vorangetrieben, bestimmt und ausgewertet. Auch ist DJ Culture insofern nicht mehr relevant, als sich an ihr nicht mehr – wie noch zur Zeit seiner Veröffentlichung – von dem Phänomen des DJing ausgehend eine umfassende Kulturanalyse des Zeitgeists unternehmen ließe. Immerhin aber lässt sich daraus extrapolieren, warum unsere heutige, von Pop und Technik gleichermaßen völlig durchdrungene Kultur zu dem geworden ist, was sie ist.
Poschardt beginnt seine Aufarbeitung der DJ-Kultur nicht nur mit einem Kittler-Echo, er widmet sich auch intensiv der Geschichte des Radio-DJs, die maßgeblich die kapitalistische Vereinnahmung von Musik beförderte. Zum Einen, weil DJs wie Martin Block – laut Poschardt der »erste DJ-Star« – das Radio früh als perfektes Werbemedium begriffen. Zum Anderen, weil sich durch das Radio die Musik selbst veränderte, formalistische Konventionen geschaffen wurden und Erfolg durch die Einführung des Top-40-Systems quantifizierbar wurde. Und zuletzt, weil DJs in eben jenem System ihre Rolle als »Influencer« ausnutzen konnten: »Payola« hieß die Praxis, in deren Rahmen DJs sich dafür bezahlen ließen, bestimmte Songs zu spielen, um diese zum Hit zu machen. Die ersten DJ-Stars und die Star-DJs, über die sich der Supermarkt-gesponserte Westbam mokiert – sie sind einander der enormen zeitlichen Differenz zum Trotz gar nicht so unähnlich. Was sich allerdings geändert hat: Das Publikum, das nicht mehr nur am Empfänger sitzt oder in zwei Plattenspieler, einen Mixer und tonnenweise Vinyl investieren muss, um im wahrsten Sinne des Wortes mitzumischen.
Was für die ersten DJs von jamaikanischen Soundsystems, in New Yorker Discos, aus der Bronx als Wiege der Hip Hop-Kultur, Chicagoer House-Clubs und britischen oder deutschen Techno-Raves die Plattenkiste war, das sind für uns in der westlichen Wohlstandsgesellschaft heutzutage die internetfähigen Geräte, mit denen wir unsere kulturelle Erfahrungen kuratieren. Aus scheinbar endlosen Archiven können wir auswählen und zusammenbringen, was wir wollen. Dermaßen nahtlos, dass der Philosoph Byung-Chul Han mittlerweile nicht ganz zu Unrecht vom Glatten als »Signatur unserer Gegenwart« sprechen kann. Die Perfektion, die Hip Hop-DJs wie Grandmaster Flash anstrebten, ist längst zum Standard geworden.
»HELP!!! Is any one of you a doctor?«, fleht in einem Comic von MM & Taber eine Figur eine Gruppe von Menschen an, die hilflos vor einem auf dem Boden liegenden Mann steht. »I am a DJ«, antwortet eine, »Me too«, eine andere und so weiter. Da ist mehr dran, als es auf Anhieb scheinen mag: DJing ist zur etablierten Kulturtechnik geworden, die sich lange schon nicht mehr auf Medium beschränkt. Wir alle sind DJs.
Poschardt selbst hat das schon vor langer Zeit verinnerlicht und nach außen weitergetragen. Ihm gelang in seiner Position bei DIE WELT etwas, das den meisten Printmedien wohl so schnell nicht glücken wird: Die Etablierung einer starken digitalen Marke. Der WELT, unter deren Markendach übrigens auch N24 gehört, gelang es, eine Strategie zu entwickeln, die multimedial aufgestellt ist und maximale Aufmerksamkeit einfordert, weil sie nicht nur mehrere Sinne zugleich anspricht, sondern auch auf emotionale Affekte abzielt. Zeitweise ließen sich Artikel auf dem Portal mit Smileys bewerten: Das macht mich wütend, das finde ich lustig, das lässt mich kalt, und so fort. Das erlaubte Datenerhebungen, aus denen sich Rückschlüsse ziehen ließen, was die stärksten Reaktionen hervorrief. Die WELT hat es perfektioniert, starke Reaktionen hervorzurufen. Wie ein guter DJ, der weiß, welche Platte zu welcher Nachtzeit dem Publikum die Hände in die Höhe reißen wird. Allerdings sind es jetzt Shitstorms und keineswegs Begeisterungswellen, die im Online-Journalismus Geld in die Kassen spülen.
Von Mathias Matusseks tumben homophoben Auslassungen bis hin zu Ronja von Rönnes anti-feministischen Spitzen lieferte die WELT in den letzten Monaten und Jahren einerseits ausreichend polarisierende Meinungen, die dementsprechend viel diskutiert wurden. Im selben Zuge eignete sie sich andererseits in ihrer Direktkommunikation ein Verhalten an, wie es sonst eher von US-amerikanischen Großkonzernen bekannt ist: Sie wurde spontan, spitzfindig und somit beliebt. Der so genannte WELT-Praktikant, der in den Kommentarsektionen auf Facebook mit trockenem Humor für Lacher sorgt und hinter dem vermutlich eher ein mehrköpfiges Team steht, generiert mindestens genauso viel viralen Content wie ein bissiges Thinkpiece zu sozialpolitischen Themen.
Es ist also, als würde die WELT mehrere völlig verschiedene Platten mit ganz verschiedenen Stimmen durch einen Mixer laufen lassen. Das Endresultat ist vielleicht eine ästhetische Katastrophe, in erster Linie aber ein ökonomischer Gewinn. Die Geburt des Clickbaits, sie fand aus dem Geiste der DJ Culture statt. Eine digitale Marke wie die WELT nimmt sich kaum etwas mit einem »Super-DJ«: Keine Zufälle, dafür aber viel Feuerwerk und maximale Gewinnausschöpfung.
Das allein macht DJ Culture zu einem Schlüssel zum Verständnis von kulturellen Techniken, die sich in die Gegenwart herübergerettet haben – und sei es auch in transformierter Form in anderen Medien als dem der Musik. Das heisst aber noch lange nicht, dass DJ Culture ein Buch wäre, das sich seine Relevanz bewahrt hat. Die Ausgabe, die anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Erstveröffentlichung im Jahr 1995 neu aufgelegt wurde, ist zudem trotz kleiner Einschübe zur jüngeren Vergangenheit und zum aktuellen Geschehen keineswegs gründlich aktualisiert worden. Grateful Dead werden immer noch Greatful Dead genannt, die Auslassungen über mögliche Hörschäden durch zu laute Walkman-Wiedergabe wurde nicht durch vergleichbare Studien auf iPod- und Smartphone-Verhältnisse angeglichen und von Public Enemy-Mitglied Flava Flav wird gesagt, er gebe den Clow, der er »wohl immer wahr«. Sic.
Vielmehr ist die Neuauflage von DJ Culture perfiderweise Produkt der Reissue Culture, die im Laufe des Vinyl-Booms der letzten Jahre immer größere Dimensionen annahm: Anstatt Bruce Springsteen-Platten für ein paar Euro auf dem nächstgelegenen Flohmarkt zu kaufen, zieht es die Menschen mit neuentdecktem Vinyl-Faible und alten Vorlieben wieder in die Plattenläden, um die gleichen Platten auf 180-Gramm-Vinyl für sehr viele Euro mehr zu kaufen. Eine Entwicklung, die Simon Reynolds in Retromania noch als Symptom für die von ihm postulierte These nahm, Popkultur habe es verlernt, in die Zukunft zu schauen.
Das ideologische Unterfangen dieser Überlegungen
schreibt Poschardt selbst,
ist, anhand des Phänomens der DJ Culture die Idee einer progressiven, kulturellen Produktion schlüssig und sinnfällig zu retten.
Das Medium dafür hat sich geändert und vervielfacht, die DJ Culture ist zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden. Damit haben sich auch die Klassiker überlebt, allem voran DJ Culture.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben