Wenn Wahnwitz zu Schönheit wird
Die flamboyanten Text-Bild-Ansammlungen Ulrich Holbeins machen die Grenzen zwischen Literatur und Kunst unsichtbar.
Es gibt Bücher, die sind lang und zäh wie ein einsamer ostfriesischer Winter, dann wieder solche, die funkeln so bunt, sind so kurzweilig und von manischen Schreibeinfällen besoffen, dass man kaum dazu kommen wird, sie wegzulegen, bevor nicht wenigstens einmal das komplette Sammelsurium aus Größenwahn und Detailverliebtheit durchblättert wurde. Und blättern, diese halb lieblose, halb zärtliche Handlung, sie passt ausgesprochen gut zu Ulrich Holbeins „Bitte umblättern! Einhundertundelf Appetithäppchen“, auf das sich problemlos alle Funkel- und Schillerattribute anwenden lassen, die einem nur so einfallen.
Holbein steckt in einem Kopf, der ihm seit seiner Kindheit sicherlich eine Menge an Arbeit bereitet, und so hat er sich für sein neues Buch einen weiteren Kniff ausgedacht, der sich hübsch unter all die anderen Kunstgriffe in seinem Werk einreiht: „Bitte umblättern“ versammelt ausschließlich Anfänge. Die Nonchalance, aber auch der Charme des Buches liegt darin, immer wieder von neuem anzusetzen, die von Doppelseite zu Doppelseite wechselnden Textwelten als Potenzial zu begreifen, anstatt sie auszuschreiben.
Und es sind nicht nur Textwelten, im Gegenteil. Mit nichts geringerem als einem wüsten Bilderbuch haben wir es hier zu tun, das Großformat hat seine Gründe, denn es treten uns ganze Bögen mit essayistischen Kritzeleien des jungen und älteren Holbein entgegen, mit Malereien und Zeichnungen, historischen Abbildungen, Briefen, Zeitungsartikeln, Privatfotos, Fahrkarten, Montagen, Dialogen, Aufsätzen, Sprüchen, Comics, Gedichten … und Bildern, Bildern, Bildern jeglicher Art sowie deren Vertextung.
Alles bleibt in seinem Anfang verhaftet, aber für die Fantasie ist es ein belebendes Experiment, die Dinge weiterzudenken, oder zu rätseln, was hinter den Briefen an Familienmitglieder, Freunde und Feinde steckt. Es sind Anfänge, die einen launisch anspringen, belustigen, befremden, doch schließlich wieder Sympathie empfinden lassen für eine Welt, die in ihrer Eigenheit mal kindlich-verspielt, mal voll heller Entrückung ist und auch alles scheinbar nebensächliche Tun und Denken in kafkaesk anmutender Manie mit in sich einbezieht. Dass hier obendrein und wie nebenbei ein höchst spannender Autor als Kind und Jugendlicher sichtbar wird, macht die Sache noch einmal reizvoller.
Wer das Oeuvre von Ulrich Holbein in der Vergangenheit lesend begleitet hat, den wird es nicht überraschen, dass er sich nun wieder einmal selbst übertrifft, vielleicht nicht an Genialität, denn wer die sucht, der sollte zuerst sein berühmt-berüchtigtes „Samthase und Odradek“ lesen. Aber dieses Buch eignet sich aufgrund seiner Leserfreundlichkeit, seiner Lesebuchartigkeit, seinem sprunghaften Aneignen der Dinge aus der Sicht eines wahrnehmungs-, notier- und kritzelsüchtigen Kindes ausgezeichnet, um einen Autor für sich zu entdecken, der den Status des Geheimtipps zwar mittlerweile weit hinter sich gelassen hat, dessen skurrile Arbeiten aber noch viel mehr an Aufmerksamkeit verdient hätten.
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