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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Neues Licht über ollen Schläuchen

„Der wahre Verleger muss Vater und Mutter sein, Amme und Zuchtmeister, Gläubiger und Fordernder, Duellant und Sekundant, Beichtvater und Ministrant, Heiliger und Hurenbold. Er muss das Gehirn eines Philosophen, den Blick eines Radiologen, die Sanftmut einer Krankenschwester haben. Eines darf er auf gar keinen Fall: ein eigenes Leben haben.“

Fritz J. Raddatz, selber in den sechziger Jahren lange als stellvertretender Leiter bei Rowohlt tätig, hat dieses Bild entworfen zu einer noch nicht lang vergangenen, aber zugegeben völlig anderen Zeit in einer, man möchte meinen: völlig anderen Welt. Daß ein Verleger nicht nur ein Mensch sein, sondern darüber hinaus auch noch menschliche Qualitäten haben sollte – unvorstellbar heute. 
Unsere moderne, schöne, bunte Welt – und zu ihr muß man natürlich die Medien rechnen, und leider auch die Welt des Buches - ist ja in Wahrheit nicht sehr bunt in der Tiefe, sondern ihre Farbigkeit ist eine oberflächliche Uniform. Man wehrt sich schon lange im Kleinen dagegen - das Existenzprinzip der Independents, die im Zuge der Punk-Revolution dereinst die etablierte Schallplattenindustrie unterwanderten, hat auch das Verlagswesen erreicht und es gibt dort viele idealistische Verleger. In der großen Verlagswelt indes kann man autorenzugewandte Menschen als Bosse mit der Lupe suchen und findet dann zwei, drei, vielleicht vier.

Kein Wunder, daß ein so wunderbarer Autor wie Ulrich Holbein, der einmal bei suhrkamp gestartet war, sich mit seinen letzten Büchern in subkulturelle Gefilde zurückgezogen hatte. Im Jahr 2008 erschienen dann plötzlich mit der „Weltverschönerung“ bei Haffmanns
/ Zweitausendeins und dem „Narratorium“ im Ammann Verlag gleich zwei äußerst umfangreiche Werke, die ihn endlich zurück ins Gespräch brachten. Die Feuilletons schreiben nun über ihn, er gibt Interviews, der Stand seines Verlages warb auf der Buchmesse mit Holbeins überdimensionalem Konterfei (das im Übrigen schon ein paar Jahre alt war). Welcome back, Ulrich. Zeit wird’s. In den Feuchtgebieten und auf vielen preisgekrönten Gipfeln, überall fehlt es an literarischer Qualität.

Holbein gibt selbstkritisch zu bedenken: „Daß ich zitierfreudige Literaturliteratur produziere, dieses Gerücht hab ich mir zeitweise selber eingebrockt. So kam es, daß irgendwelche banalen Gestalten als Dichterfürsten rangieren, und unsereins wurde dann nur als Glossist, Kolumnist, Feuilletonist verbucht.“ Tatsächlich hatte er eine Zeit lang nicht schlecht verdient als Kolumnist in der Zeit oder in der Süddeutschen. Daß Holbeins Schreibe dabei immer auch narrative Elemente hatte, übersah man oder wollte diese Mischpoke nicht als einen möglichen neuen Weg in der Literatur sehen, weil sie das Erzählerische als einen Fluß hinnimmt, der die im Kopf existierenden Kanäle, Ströme und Seitenarme ausspült und alle sich loseisenden Bewegungen im Schreiben zusammenführt – ein „philosophierender Schriftsteller“ ist man da bestenfalls (meinte Lorenz Jäger über Holbein in der FAZ, was auch Quatsch ist - man ist ein von Sprache durchflossener). Im Zeitalter der Blogs ändert sich auch hier sehr vieles.

Überhaupt – Holbein eckt allein mit seinem Äußeren an - ein „Hybrid aus Rasputin, Gandalf und Catweazle“, wurde er unlängst in den Literaturen beschrieben. Andernorts ist von Waldschrat die Rede, oder von Öko-Dandy. Das sind natürlich alles Etiketten, um einem Publikum etwas zum Fraß vorzuwerfen. Kinderkram. Holbein hat seinen eigenen Stil und seine eigene Ästhetik, er hat sie ganz gewiß aus keinem Katalog und keinem Kaufhaus. Und diese Art gelebte Konsequenz steckt auch in seinem Schreiben. Wer quer kommt, der bleibt stecken. Auch im Literaturbetrieb. Es sei denn man findet einen idealtypischen Verleger, wie ihn Raddatz entwarf.

Der Züricher Verleger Egon Ammann ist so ein Buchverleger aus Passion, der nicht nach Trends und Literatursternchen schielt, und der die bei ihm einsprudelnden Manuskripte tatsächlich noch selber liest. Und Ulrich Holbein ist so ein Autor, der mit gewöhnlichen Maßstäben nicht zu messen ist. Er verlangt das Besondere, weil er durchaus etwas Besonderes ist, nicht darstellt. Darsteller haben wir genug.

Das Narratorium also, dieses dicke, gehaltvolle, über 1 kg schwere Buch, ist „eine in jeder Beziehung tolle Enzyklopädie mit 255 Lebensbildern von Scharlatanen, Grübelmonstern und Querulanten, närrischen Yogis, Sex- und Drogengurus, Serienmördern, verrückten Dadaisten und weisen Dorftrotteln. Diktatoren wie Idi Amin oder Hitler sind mit von der Partie, «Papa Ratzefatz» und andere Päpste, Religionsstifter von Jesus bis Rudolf Steiner, Osho und Uriella, aber auch der Satanist Aleister Crowley, zwei Dalai Lamas, Kafka, fiktive Figuren wie Perry Rhodan, Hadschi Halef Omar, Schweijk und Pippi Langstrumpf, neuere Fernsehkomiker und Poptitanen wie Michael Jackson und Dieter Bohlen.“  So faßte es Martin Halter im Züricher Tages-Anzeiger zusammen.

Ich spare mir Einzelheiten zum Buch (viele meinen nach fehlenden Namen fragen zu müssen und stellen enthaltene in Frage – das ist töricht: warum hatte der Mörder grüne Socken und nicht rote?, wichtig ist, er hatte Socken), außer dem Hinweis, daß es sich hier tatsächlich um ein literarisches Werk und keinesfalls um ein Sachbuch handelt. Man kann/muß nämlich die einzelnen Lebensgeschichten durchaus als Erzählungen lesen. Ulrich Holbein entwickelt die Geschichten der ausgewählten Beispielhaften mit einer fabelhaften Detailschärfe, die er in einer Art organischen Chemie der Lebensfakten poetisch wirksam werden läßt. So entstehen Bilder, aber mit den Bildern auch Zusammenhänge, implizite wie offensichtliche, und darauf kommt es an, und ich glaube auch Holbein kam es darauf an: zu zeigen, daß nichts auf dieser Welt ein exclusives Geschehen ist, sondern alles – auch das närrischste – ein mit der übrigen Natur verbundenes, ja ein natürliches.

Das folgende Interview mit Ulrich Holbein fand statt im November 2008:

FRANK MILAUTZCKI: Natürlich ist jeder Mensch im Grunde ein Narr, denn  jedes Beharren und Festlegen verliert über eine bestimmte Situation hinaus das Angemessen-Sein und wird zur Narretei. Das Maß, mit dem wir die Welt betrachten, durchdenken, erleben, es ist immer das unsrige, das eigene, das selbst gefundene und es ist in Anbetracht der Unerfaßbarkeit des Weltgeschehens immer nur von uns aus „angemessen“, niemals die wirklichen Verhältnisse spiegelnd. Kann man sagen, die Wahrheit beginnt dort, wo das Messen aufhört – und, in unserem Zusammenhang, das Närrische verliert sich erst, wenn man das Maßband beiseite läßt? Dort ist der Übergang zum Heiligen?

ULRICH HOLBEIN: Das Heilige… die Wahrheit… wirkliche Verhältnisse… das Unsrige… Angemessen-Sein…jeder Mensch – falls es solche Dinge überhaupt gibt, sind das ziemlich große Worte und dicke Dinger,  die ich gern – möglichst unverkopft - den hierfür zuständigen Philosophen  überlasse, weil sie es am Angemessen-Sein gegenüber den wirklichen Verhältnissen in meinem Narratorium fehlen lassen. Darin räsonier ich nämlich keine Sekunde lang über die Unerfaßbarkeit des Weltgeschehens, für die ich sogar viel übrig habe, sondern erzähl einfach nur 255 Schicksale und Lebensläufe von Leuten, die die Welt nicht so sehr betrachten und durchdenken, sondern sich eher leidend und nervend in ihr tummeln, meist verstrickt in präfabrizierte oder selbstgebastelte Ideen und Wahnsysteme, in mehr oder minder kollektive Privatreligionen. Hierbei versuch ich keine Meßlatte und kein Maßband mitzubringen und von außen anzulegen, um armen Gottes- und Menschenkindern Einteilungen aufzuhalsen: Narren zur Linken, Heilige zur Rechten, sooo nicht – das sei ferne von mir; dann würd ich mich ja selber nur in einer wahnhaften Idee, einem Gedankenkonstrukt, einer Sichtweise verstricken, und das wollen wir keinem antun… ich zeichne einfach nur Porträts ziemlich unterschiedlicher Charaktere aus sämtlichen Milieus und Kontinenten, einschließlich Transilvanien, Texas, Samarkand, Timbuktu und Hinterposemuckel… 

FRANK MILAUTZCKI: Ich verstehe die Weise, in der du deine Portraits zeichnest als eine Art Komplettierung, wo das Geistige zurückfindet zur Gebärde und umgekehrt. Du zeigst auf, daß sich der Mensch nicht erschöpft in seinen Gedanken, sondern, daß genau diese ihn zu eigenartigen, bemerkenswerten Lebensäußerungen führen, oft sogar zwingen. Der Mensch also lesbar nicht nur im Wort, sondern auch in der Tat und in der Handlung. Es geht darum die verschiedenen Sprachen zusammenzubinden, die Fragen zu den verschiedensprachlichen Antworten zu finden?

ULRICH HOLBEIN: Nee, ich zeige nichts auf, absichtlich jenseits jeden Zeigestocks. Mit bläßlichen Termini à la „das Geistige“ fang ich, wie angedeutet, auch weiterhin ungern was an, und „das Geistige, das zur Gebärde zurückfindet“ kommt mir gar nicht erst in die Wundertüte meiner Wanderprediger, Wendehälse, Windbeutel, Wonneproppen und Wundenlecker. „In der Tat und in der Handlung“ – das hört sich für mein Ohr wenig nach Verschiedensprachlichkeit an, zu sehr nach 1936, auch 1956… Reinhold Schneider, Tillich, Bonhoeffer – nicht so recht meine Welt, obwohl eigentlich jede Welt genau meine Welt sein müßte, und das Narratorium strotzt und leuchtet entsprechend von religiösen Typen, Hirnen und Geistern, dann aber eher seltsam urwüchsigen Fulltime-Ekstatikern, komischen Mystikern oder fanatischen Schwarmgeistern und hält sich weniger auf bei jenen gottfern ausgebluteten Pfarrern im Industriezeitalter, die sich anmaßlich „Theologen“ nennen, nur weil sie pausenlos von Eucharistie, Transsubstantiation, Theodizé und Seinsebenen faseln, und daß der Mensch lesbar würde im Wort, aber vor Schreck vollrohr in die Hosen machen würden, wenn ihr Gott sie tatsächlich einmal spätgotisch anhauchen tät. Als Abschreckköder hab ich auch von solcher Sorte einige drin, z.B. Billy Graham, General Booth, den glorreichen Gründer der Heilsarmee, und natürlich auch den von Toleranz salbadernden Großinquisitor und Vollzugskardinal Ratzinger.

FRANK MILAUTZCKI: Die Portraits im Narratorium will ich mit einem Begriff in Verbindung bringen, über den heute kaum mehr nachgedacht wird: die Poesie.

ULRICH HOLBEIN: Ich kenn viele, die oft über Poesie nachdenken… aber egal.

FRANK MILAUTZCKI: Sie ist eine Qualität der Betrachtung, also eher eine Dimension.

ULRICH HOLBEIN: Naja, wenn das so ist…

FRANK MILAUTZCKI: Tatsächlich kann die Poesie Zusammenhänge finden, Verbindungen aufzeigen, indem sie Begriffsräume neu aus- und ihre Beziehungsdimensionen beleuchtet. Das geschieht in deinem Buch – es ist höchst poetisch - auch im alten, im kunsthandwerklichen Sinne -, stellt überall Beziehungen her und oft noch in kleinsten Randbemerkungen lassen sich weite kosmische Verzweigungen finden.

ULRICH HOLBEIN: Dem kann ich zustimmen… klar, warum nicht?

FRANK MILAUTZCKI: Ist das deine Art zu denken? Die poetische, also „beziehungs-reiche“?

ULRICH HOLBEIN: Da sag ich einfach nur uneingeschränkt : „Ja“. Besonders zu den kosmischen Verzweigungen…

FRANK MILAUTZCKI: Ich kann mir gut vorstellen, daß deine schonungslosen, umfassenden und beziehungsreichen Schilderungen dem einen oder anderen Idol-Anhänger das Konzept der Anbetung versaut.

ULRICH HOLBEIN: Ich kann mir denken, wen speziell du meinst. Ich kenne Gralshüter, Nachlaßverwalter und zentnerweise Erbsenzähler, die von mir sagen, ich müsse alles zum Kuriosum machen – und echtbürtige Hoffnungsträger und Jahrhundertgestalten, auf die ich Hymnen zu singen glaube, verhunze ich zu Juxfiguren, z.B. Anton Bruckner, Gusto Gräser oder Jürgen von der Wense. Vielleicht fehlt deren Adepten und Adoranten, trotz aller Weihrauchfässer, die richtige Antenne sowohl für die Unfaßbarkeit wie für das Kuriose des Weltgeschehens, und ich stupse sie drauf, und das haben sie dann nicht so gern wie ich besagte kosmische Verzweigungen mag... Schon im Vorfeld gabs viel Gegenwind… ich merkte zu spät, daß ich mir eine Heerschar untalentierter Besserwisser heranzüchtete und aktivierte, die mir von Kompetenz bis Sprachgefühl alles abstritten, was ich so an Rüstzeug mitbrachte… nicht nur Anthroposophen, Muslime, Christen, Sannyasin – am aggressivsten schwollen leider die promovierten Akademiker auf… nirgendwo ein Schlips, auf den ich nicht plötzlich wieder Willen trat…

FRANK MILAUTZCKI: Manche Details, die du zu einem Bild zusammenfügst, lassen den Portraitierten in einem - ich sage: endlich menschlichen! und begrüße es - neuen Licht erscheinen.

ULRICH HOLBEIN: Genau, ich kippe relativ neues Licht aus über relativ ollen Schläuchen.

FRANK MILAUTZCKI: Du zeigst wieder und wieder, daß die Relativität aller Dinge sich nicht in der Physik erschöpft, sondern alle Wahrheiten nur begrenzt gültige Ausschnitte sind, Beschreibungshilfen für besondere Verhältnisse. Ist es denn mit den Wahrheiten so, wie es mit den meisten physikalischen Formeln ist, sie sind verläßlich genug um damit Raketen auf den Mond zu schicken, aber taugen keinen Pfifferling, wenn man ins Elementare vordringt, dort wo alles erst entsteht, das wie Wahrheit aussehen kann. Erschöpft sich das mögliche Wissen in Beziehungswahrheiten, also Relationen, und all diese Narren bilden je nur ein besonderes Beziehungsgeflecht ab, ihre Wahrheiten sind kontextabhängig und deshalb nie universell. Also bist Du ein Darleger von Kontext um der Wahrheit willen?

ULRICH HOLBEIN: Um der Wahrheit willen – wo isse denn? Schon wieder Wahrheit – ist das nicht ein bißchen viel auf so wenig Raum? Lieber guck ich mir den fliegenden Teppich, unter den ich die zur Fuß gehende Wahrheit kehre, etwas genauer an. Die Wahrheit reich ich gratis weiter – zusammen mit „dem Elementaren“ – gewissen verkopften Wortdrechslern und Hirnwixern und ihren Kontextabhängigkeiten, von denen einige Positivbeispiele auch im Narratorium landeten, z.B. Martin Heidegger – nee, der ist grad austreten gegangen - und kreise unterdessen lieber um pralles Leben, um leuchtende Bilderbögen, um herzergreifende, himmelschreiende Schicksale, um verrückte Anekdoten und Syndrome, und um Beziehungsgeflechte aus dem Leben solcher, die wie z.B. der Mykologe Hartmut Geerken tatsächlich um Hummelstaaten, Gongsammlungen, reellere Pfifferlinge, magic mushrooms und Wulstlinge kreisen …manchmal ist dann was im Darm los, doch ansonsten ist der Wulstling harmlos. Sonst noch Fragen? Nicht daß ich irgendwas unter den Teppich kehre, wo es vielleicht nicht hingehört…

FRANK MILAUTZCKI: Natürlich habe ich noch Fragen und werde immer welche haben. Ulrich, ich danke dir für dein tolles Buch und sehr für dieses Gespräch.

Ulrich Holbein
Narratorium
Ammann
2008 · 1008 Seiten
ISBN:
978-3-250105237

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