Den Blues lesen! Gedichte von Václav Hrabě (1940-1965)
Am 05. März 1965 verstarb in Prag Václav Hrabě im Alter von nur fünfundzwanzig Jahren an den Folgen einer Kohlenmonoxid-Vergiftung. Er zählte zu den erfolgversprechenden jungen Autoren der sogenannten Beat-Generation. Deren Protagonisten entsprachen freilich nicht den Vorgaben einer marxistisch-leninistischen Kulturpolitik, konnten aber von der spürbaren Liberalisierung im Zensurbereich zu Beginn der 1960er Jahre in der ČSSR profitieren. Václav Hrabě verkörperte geradezu paradigmatisch den Typus dieser nonkonformistischen kulturellen Bewegung. Er arbeitete in verschiedenen Berufen und hielt Distanz zum offiziellen Kulturbetrieb. Nachhaltig war Hrabě von dem amerikanischen Dichter Allen Ginsberg beeinflusst worden. Hrabě orientierte sich am Blues, am Jazz und an der aufkommenden Beatmusik, die zum Ausdruck eines unangepassten Lebensgefühl geworden war. Seine Gedichte konnte Hrabě verstreut publizieren – der einzige Gedichtband ist in kompletter Form erst posthum erschienen.
Hraběs Lebenshaltung wie auch seine Gedichte, die über Jahrzehnte hinweg in seiner böhmischen Heimat auf handgetippten Abschriften oder als Songs verbreitet worden waren, hatten in der sozialistischen ČSSR so etwas wie einen Kultstatuts eingegenommen. Als nach der politischen Wende von 1989 endlich sein gesamtes Werk erscheinen konnte, erwies es sich sehr schnell, daß seine Verse nichts von ihrem betörenden Charme und ihrem suggestiven Charakter verloren hatten.
Hrabě, der selbst zuweilen als Jazzer musizierte, verstand es meisterhaft, seine Verse im Duktus eines melancholischen Blues zu modellieren. Das Gedicht „Prolog“ gleicht einer Aufzählung von Widmungen, für wen er schreibt und an was er beim Niederschreiben denkt. Im Rhythmus eines melancholischen Blues verabreicht Hrabě prall mit Leben gefüllt Bilder: „Was ich jetzt auf die Beine stelle / ist nicht für euch bestimmt / Nur für die wahren Menschen die ich mal traf“. Bevorzugt werden dann Lebensschicksale sogenannter kleiner Leute geschildert, einfache Arbeiter und Rentner beschrieben. Der Dichter singt aber auch für Invaliden oder „für ein verrücktes Mädchen dessentwegen ich angefangen habe Jazz zu spielen“. Diese in einfach skizzierten Strichen angedeuteten Erinnerungen verwandeln mit einer betörenden Fähigkeit den Leser zum Zuhörer. Der Leser liest den Blues!
In besonders dichter Weise findet eine derartige Performance im Gedicht „Blues zur Erinnerung an Vladimír Majakovskij“ statt. Obwohl dieser Gesang in Prag stattfindet, tragen den Dichter Töne und Melodien in die Welt hinaus und er begegnet Vincent van Gogh in Arles und Vladimír Majakovskij auf dem Nevskijprospekt: „Hört Die Musik / Wie ein warmer Wind / über dem Leib eines Soldaten / der in einem nutzlosen Krieg gefallen ist / Wie der Tau der auf seinen Kopf fällt / während in der Ferne / die Walaugen der Häfen / blitzen“.
In der Tradition von Majakovskij findet sich Václav Hrabě auch, wenn er in Errungenschaften des Sozialismus wie zum Beispiel den trostlosen Plattenbausiedlungen den alltäglichen Wahnsinn des Spießertums wittert, „Verloren im Meer / aus Asphalt und Anbaumöbelglück“.
Aber Hrabě war kein eindimensionaler Dichterrebell um der reinen Provokation willen. Immer wieder werden Texte von Prag, seinen Stadtteilen und auch den Jahreszeiten inspiriert und immer wieder finden sich Verse zärtlicher und freilich auch unkonventioneller Liebeslyrik: „Deine Augen sind wie Tabak / Und die Bäume auf dem Friedhof von Podolí / sind Zypressen und silberne Hechte“.
Die Lebensfreude in Hraběs Gedichten sind der spezifisch tschechischen Tradition des Poetismus der 1920er Jahre geschuldet. Doch Hraběs Verse sind zusätzlich angereichert von vergeblichen Träumen, unerfüllter Sehnsucht und einer erstaunlichen Lebensreife. Das Spiel mit der Wahrnehmung, wieder ganz dem Poetismus nahe, findet sich in unvermittelten Verknüpfungen. Dann dichtet Hrabě angesichts des Nachthimmels: „Und die Sterne trotz der Weite / riechen nach Gurkenlake“.
Das vorliegende Bändchen ist konsequent zweisprachig gehalten. Einige nostalgischen schwarz-weiß-Photographien von Prag sowie zwei Porträtaufnahmen des jungen Dichters ergänzen das schlicht aber engagiert aufbereitete Bändchen.
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