Lesart
Albert Verwey* 1865† 1937

Sommerwiese

Die weißen Kühe waten durch das Gras,
smaragdgrün glänzen Halme hoch und dicht,
und auf die Rücken prallt das Sonnenlicht,
es bricht aus wenig Wolken und Topas.

Den Strom begrenzt das Schilf, das grün einsticht,
dazwischen dehnt sich das gewellte Spiegelglas.
Erst dieser Dampfer stört sein Ebenmaß.
Das Schilf ist laut, wo sich das Wellenkommen bricht.

In meinem Hirn liegt Mittagsstille, warm
läßt der Körper seine Glieder liegen, lauscht
was Wiesen flüstern und der Fluß hinrauscht.

Zwischen Wimpern ein feines Sintern
der Lichtlinien, und matt heb ich den Arm
und kein Dampfer kann den Schlaf verhindern.

Das Gedicht entstand um 1900

Nachdichtung von Frank Milautzcki (2008)

Es gibt keine Luft, in die man sich rettet

„Die Einfachheit von Verwey ist trügerisch“  hat Rudolf Pannwitz erklärt, als er 1965 in einem Buch zu Verweys (1865-1937) hunderstem Geburtstag die Beziehungen zwischen dem Kultdichter Stefan George und dem Holländer aufzuzeigen versuchte. Wenn man den Namen Albert Verweys heute googelt, bekommt man fast ausschließlich Ergebnisse in denen er neben Stefan George genannt wird. Eine Nachbarschaft, keine Gefolgschaft.
Während George die dichterischen Hohepriesterwürden anstrebte, wollte Verwey auf dem Teppich bleiben und so kritisierte er bereits 1897 Georges strenge Vornehmheit, mit dem er alles und jeden auf Abstand hielt, auch das, was der Holländer als das wahre und pure Leben ansah – so einfache Dinge, wie an einem großen Fluß im Gras zu liegen zum Beispiel. Verwey hatte sehr schnell erkannt, daß George ein Erzeuger von Klüften unter Erhöhung menschlicher Eitelkeiten und nicht der Überbrücker zum Leben hin war, der hätte den Menschen der Moderne mit seiner Anwesenheit auf der Welt versöhnen können. Verwey sah Georges Bedürfnis „nach Symbolen zum Ausdruck von Gefühlszuständen“ und deren kultischen Gebrauch als heimlichen Kerker. George bot damit aber den Opfern der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der Jahrhundertwende, wie George Lukács es einmal benannte, ein trockenes Fleckchen. Spätestens seit dem siebten Ring zog Verwey einen klaren innerlichen Trennstrich: die Grenzen seines Mitgefühls seien dort erreicht, wo der geliebte Jüngling zum Gott erhoben werde.
Dennoch hielt er George für einen der bedeutendsten zeitgenössischen Dichter und hat ihn schließlich bis inklusive 1928 immer wieder ins Holländische übersetzt. In jenem Jahr allerdings definiert er für sich die endgültige Trennung; Das neue Reich erscheint, Georges idealisierte Vorwegnahme von etwas weitaus Schlimmeren, das kommen sollte, weil man es haben wollte.

Viele sind George auf den Leim gegangen und haben geglaubt, daß Dichterei so etwas wie den Mehrwert des Menschen ausmache und ihre Betreiber zur Elite. Dabei war hier einfach nur einer am Werk, der sich für seine homosexuelle pädophile Veranlagung schämte und deshalb eine große Dichtershow abzog. In den Meister-Schüler-Beziehungen ließ sich relativ sauber ausleben, was er am liebsten sehr schmutzig und eindeutig getan hätte und wohl auch immer wieder getan hat bis hin zum Fellatio mit ihm anvertrauten Jugendlichen (und mit Strichjungen sowieso). „Der Stern des Bundes“, schrieb Thomas Karlauf in seiner äußerst lesenswerten, 2007 erschienenen George-Biographie, „war der ungeheuerliche Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären.“

Daß beachtliche innere Formen in selbstgestrickten Mustern dort auftreten, wo Leben ungelebt bleibt, hat ja genau zu tun mit komplexen Rückzugsgefechten und Kopfparties. Wenn es nicht zur Depression kommen soll, muß man dem Druck Strukturen anbieten, in die er abfließen kann. Und am besten man verflechtet sie ins Unauffindbare. Das verschafft Zeit – eine trügerische Ruhe. Denn was man im Dunklen parkt, holt einen ein.
George war ein kranker Mann. Er litt an Entzündungen der ableitenden Harnwege, die zu einem fortschreitenden Verlust der Nierenfunktion führte, und musste sich Anfang der zwanziger Jahre mehreren Blasensteinoperationen unterziehen. Weil er weder in sich hinein noch aus sich herauslassen konnte. Alles Selbst und was damit zu tun hatte, sammelte sich. Er bestand darauf, daß sich alles um ihn herum und in ihm sammelte. Er war der Macker, der den Weg aufzeigte. Der Vorangeher, der Held, der die Dichtung um der Dichtung willen schrieb, weil die Poesie ihn durchfloß ... Lauter erfundener Kram, der in der wahren Welt keine Bedeutung hatte. Und von durchfließen konnte keine Rede sein. Die Poesie stockte. Sie nahm seine Form an und blieb „gelenkt auf“ und „mißbraucht zu“. Sie verkam zum steinernen Muster.

Hätte er einmal auf Verwey, den Küstenmenschen, gehört und sich in Noordwijk in die Sommerwiese verabschiedet. Sich vergessen, alles weg, Augen zu, einnicken. Nein, er mußte  mit gekreuzten Beinen ganz in Weiß auf den Kanapees seiner Bewunderer sitzen und den Märtyrer geben und von jenseitigen ungeheuren Dingen künden. Und dabei junge, orientierungssuchende Leute einschwören und sich selbst als Vorbild installieren. Hitler in klein. Wir meinen es ja gut. Wir sind ja die Besseren. Wir haben das Recht und die Zeit auf unserer Seite. Wir sind ein verschworener Geheimclub und niemand durchschaut uns. Wer heute noch George mit Begeisterung liest, hat nicht nur eine Schraube locker.

Verwey redet, so befindet Pannwitz „zu sich selbst, so einfach wie die Leute miteinander.“ Das stimmt nicht ganz. Verwey redet nicht einfach - er empfindet einfach, weil er die Gezeiten kennt, das Meer und alles was den Menschen umwirft und aufrichtet von jeher, einfach und unverfälscht und weil er weiß, es gibt keine Luft in die man sich rettet, oder eine entferntere Erde, auf die man hinflieht – es gibt die eine gemeinsame Luft und in der Zeit eine Szene, die dich zeigt und das, was du bist, während die Welt sich einmischt und fragt wer du bist, selbst wenn du müde im Gras liegst und schläfst.

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