An die Blumen am Wege
AN DIE BLUMEN AM WEGE
Es neigen sich die Blumen mir entgegen,
Als wollten sie sich sanft und lindernd legen
An das von tausend Qualen wunde Herz,
Sie sehn mich an, sie schweigen und sie lächeln,
Geschaukelt von dem morgendlichen Fächeln
Des Zephyrs, der sie leis umspielt im Scherz.
Ich dank’ euch, liebe farbenreiche Kinder
Des Lenzes, daß in meinem Lebenswinter
Ihr athmet einen Hauch von Maienluft;
Ihr habt mir nicht vergebens Gruß geboten,
Ich fühle mich erstanden von den Todten,
Ihr blüht mir heute fort in stiller Brust.
Dichter vor erschöpfter Landschaft
1
Neben der Beschwörung der Äther, worum es uns heute nur am Rande zu gehen braucht, ist die dringendste Sehnsucht des Dichters, ein Gegenüber zu finden, in dessen Wahrnehmung seine zugegeben ungewöhnliche Denk- und Sprechweise einmal nur aufgeht. Hölderlin in Gestalt eines Anrufers der Parzen etwa würde für diesen Augenblick sein Leben zu geben bereit sein – er verliert indes, da ihm dieser Moment verwehrt bleibt, auf eine unnachahmliche und für so manchen an der Welt und ihrer Taubheit Leidenden bewunderten Weise nur den Verstand. Weil er als Dichtergigant um viele Jahre verfrüht kam, ist er erst heute ein Heiliger. Anders dagegen Ortlepp, der, noch mehr dem Dazwischensein seiner Zeit verhaftet und an ganz anderen Voraussetzungen leidend, doch eine ebenso tragische Dichtergestalt abgibt: nach dem Sturz eines halben Anfangs, der durchaus vielversprechend genannt werden darf, in die Verarmung und Verbitterung abtreibend und einem ‚vernünftigen‘ Weg nicht mehr zuführbar, wählt er eben nicht den Weg des Verstummens, wie ihn Hölderlin und auf andere Weise einige Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts zur noblen Geste erhoben. Ernst Ortlepp spricht rigoros weiter, nimmt das unkündbare Amt weiter wahr: seine Sprache verändert sich indes, sie ‚richtet sich ein‘, wenn man so will und wendet sich verläßlicheren Dingen zu als dem Tagesgeschäft der Weltveränderung: den Freunden, aber viel mehr noch dem sicheren Geleit durch die Natur, den Trost durch die Blumen am Weg. Ortlepps Bitternis führt nicht in die Wortlosigkeit, will ich meinen, sie führt ihn, mit dem Gesetz zuweilen in Konflikt geratend, in eine Art beredsame Reglosigkeit ... und dahingehend darf, nein, muß das Motto des Kolloquiums als Trost und Tragödie zugleich gelesen werden. Ein Trost überdies, den sich der Dichter selbst zuspricht; und dem letztlich das Gepräch mit den Dingen jenseits der menschlichen Geselligkeit bleibt, das erst spät durch den Kontakt zu einigen Pfortenser Schülern wieder aufbricht und zu einem einsamen Begräbnis hinführt, das der junge und früh-genialische Nietzsche in einem Brief ernst und pathetisch beschreibt.
2
Die Literaturgeschichte ist voll von Verbitterung und gestrandeter Hoffnung, gewissermaßen ist sie mit getäuschter Erwartung zehnmal, hundertmal reicher bestückt als mit dem Trug der Erfüllung; und Ernst Ortlepp, das wissen wir nun dank der Aufklärungsarbeit der letzten Jahre und haben es heute auch mehrfach vernommen, wird im Heer der ‚Gescheiterten‘ ein vorderer Platz eingeräumt. Die Begegnung mit den Eck-Existenzen zweier ausschließlicher Ären, die Ortlepps Biographie beispielgebend, als, so man will, persönliche Tragödie am Rande, verbindet: Goethe und Nietzsche, wird ihm ein Verschwinden im Orkus der vergeßlichen Denkgelehrsamkeiten erspart haben, wer weiß. „Das Lied trägt in sich selbst den Lohn“, das ist ein hehrer Satz allenfalls für Worteklauber, für den Dichter ist es eigentlich ein Geständnis, daß man nur ein Selbstgespräch führt. Die Autonomie des Dichters, zumal des um seinen Erfolg gebrachten, ist eben auch das Substrat seiner ungeheuren Einsamkeit. Das Gespräch mit den Dingen, in Ortlepps Fall etwa mit der Ferne und der belebten Natur, ist, will ich vermuten, vielleicht nicht einmal tröstlich, sondern nur Zeugnis Ortlepp’scher, wenn ich so sagen darf, Gegenüberlosigkeit. So gesehen, ist der Gestus der Anrede im Werk des Dichters weniger das erhabene Gespräch mit den höheren Mächten, sondern zeigt den lange verlorenen Sohn der deutschsprachigen Literatur auf der Höhe der Zerrissenheit zwischen aufklärerischer Sehnsucht und moderner Desillusion ... eine frappierende Erkenntnis, wenn man sie selbst trifft, was ich für Ortlepp nicht hoffen will. Das Eingekleidetsein in die Zeit, der er sich lange einmischend zugewandt hat, verhindert womöglich, sich einer anderen Sache zuzuwenden, und das Gespräch mit den Dingen, einer sich in Blumen, Wind und dann doch dem einen oder anderen Äther erschöpfenden Landschaft kann vielleicht nur Ersatz sein für ein nicht stattfindendes, weil nicht fortgesetztes Gespräch mit dem Menschen; und der Trost eine Maskierung, die den Grad der Enttäuschung und Desillusion etwas verklärt.
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Das alles lebt, wie gesagt, nur im Wagnis, im ‚Vielleicht‘. Über Ortlepps Leben wissen wir noch zuwenig, als daß wir triftige Schlüsse ziehen dürften zwischen dem des Verfassers und den ätherischen Biographien der Sprecher der Texte – einzig über das zeitige Abbrechen einer Dichteröffentlichkeit durch das Metternich’sche Verdikt 1835 und den wenig rühmlichen Tod des verarmten und vereinsamten Autors sind wir ausführlicher unterrichtet. In den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, der Zeit, da viele der Klänge aus dem Saalthal entstehen, mehren sich m. E. mählich die Gesten der Vergeblichkeit und des Stillstands in Ortlepps Gedichten, sie treten, gepaart allerdings mit trotzigem Beharren auf dem Dichteramt, als Gruß in die Ferne, Lob des Krebses oder Eine Winternacht bei den Todten auf. Ersteres Gedicht beschwört zwar die Freunde in der Nähe und der Ferne, allein, es bleibt die vage Beschleichung um die Einsamkeit seines Sprechers: der Gedanke, daß die Beschwörung der Freunde jene in der Vergangenheit meint und ihre Erreichbarkeit etwas Wunschtraumhaftes hat, drängt sich auf. Oder die Zumessungen von Trost und Selbstgenügen, die oft genug, wie zur Versicherung, in der Pose der Selbst-Anrede verfaßt sind:
Vom Lied kann nur der Tod mich scheiden,
Und mußt’ ich um das Lied auch leiden,
So lieb ich’s drum nur doppelt heiß.
Da nun der flücht’ge Sohn des Schalles,
Das Lied, mir in sich selbst ist Alles,
Verlang’ ich kaum noch äußern Preis.
Dem folgt die Strophe, die unser Motto enthält. Ich will sagen, die Anwandlung des zeitigen Aufbruchs, der ja der Zurechtweisung der Welt dienen sollte, ist spätestens hier an ihr Ende gekommen: wenn das Lied sich selbst und seinem Verfasser genügt, ist es womöglich nicht mehr für die Welt zu gebrauchen. Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt sich daraus, will man meinen, die Kunstauffassung des l’art pour l’art, das neunzehnte hingegen behält so den Hauch der vergeblichen Mühe, womit wir wieder beim Tragödischen sind. Es ist der Punkt, an dem sich Ortlepp oft hinter Gelegenheitsgedichte zurückzieht: der zweiflerisch-stoischen Selbstbeschränkung des Lieds folgen im Saalthal-Buch (neben einer bukolischen Kleinigkeit) nur noch die Blumen am Weg, eine Belehrung über das Gefühl und eine Huldigung des toten und also abwesenden Schiller – allesamt im stillen, teils resignierten Anrede-Ton.
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Und schließlich: Lohnt sich Lyrik? Lohnt es sich, für die öffentliche Anzweiflung geistiger Zurechnungsfähigkeit seinen Kragen in die Fall-Schlinge der Kunst einzubringen? Ist es für den Dichter nicht sogar besser, mit den Blumen zu reden? Und – verhallt die Ansprache nicht ungehört in den Äthern, jetzt wie ehedem? Es scheint so. Im Falle Ortlepps ist es wohl so, daß die Kraft und Wildheit des dichterischen Aufbruchs, durch äußere Umstände gestoppt, sich zusehends in einen stilleren, verlöschenden Ton verwandelt: ein, wenn man so will, Einfinden in der Resignation. Das korrespondiert übrigens mit den wenigen Berichten über den Dichter in seinen letzten Jahren, in denen er sich mehr und mehr in ein Zwiegespräch mit den verläßlichen Dingen begibt. So gesehen, mag man hoffen, daß sich der Aspekt des Trostes in der Ansprache an die Natur, den Wind, die verehrten und mittlerweile ätherischen Dichter-Wesen für den alten Ernst Ortlepp erfüllt hat. Er wird auch einer der Gründe für den Mut zur Beharrlichkeit des ja zu Lebzeiten schon wieder vergessenen Autors gewesen sein. Die Wege durch die Wüsteneien der Kreativität sind oft beschwerlich und unergiebig, und man bleibt u. U. auf der Strecke; die Legion dieser auf der Strecke Gebliebenen will man wahrscheinlich nicht kennen, um nicht an Mitleid und Herzdrücken sterben zu müssen. Man darf aber auch unerschrocken sein; und zuweilen bleibt einem womöglich nichts anderes übrig – auch das lehrt uns Ortlepp, der, in verlorener Zeit mit den Blumen redend, durch seine Anregerschaft für den jungen Nietzsche, der nebenbei später die Lyrikflaute des neunzehnten Jahrhunderts beendet, sich vielleicht doch einen Seitenplatz in Sichtweite derer, die sich an den Hängen des Parnassos bemühen, verdient hat; und dafür hätte es sich dann ja gelohnt.
Anmerkung: Bei Ernst Ortlepp (1800 bis 1864) handelt es sich um einen lange Vergessenen der Literaturgeschichte. Das Verbot seines poetischen Nachtstücks „Fieschi“ durch Fürst Metternich im Jahr 1835 beendete die öffentliche, nicht aber die schriftstellerische Biografie des aus dem mitteldeutschen Länderdreieck stammenden Dichters. Seine Wiederentdeckung verdankt Ortlepp dem Umstand, daß er in den Jahren vor seinem Tod in Schulpforta einen wichtigen Einfluß auf die dichterische Entwicklung des jungen Nietzsche hatte. Der Beitrag entstand anläßlich des Kolloquiums „Das Lied trägt in sich selbst den Lohn“ 2007 in Zeitz.
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