Lesart
Giuseppe Ungaretti* 1888† 1970

Wanderer

An keinem
Ort
der Erde
kann ich
heimisch werden

In jeder
neuen
Gegend
sehn’ ich mich
fort,
denn
ich kannte
sie schon
von
früher

Und gehe stets
als  Fremder

Geboren
zurückgekehrt aus abgelebten
Zeiten

Eine einzige
Minute ursprünglichen
Lebens nur spüren

Die Suche nach einem unschuldigen Land

Im Gegensatz zu seinen Dichterkollegen Salvatore Quasimodo und Eugenio Montale hat Giuseppe Ungaretti (1888-1970) niemals den Nobelpreis erhalten;  dennoch gilt er in seiner Heimat als unbestrittene poetische Größe. In Deutschland machte ihn zu Beginn der sechziger Jahre Ingeborg Bachmann bekannt, die damals in Rom lebte und dort den persönlichen Kontakt zu ihm gesucht hatte.

Wie für viele Künstler und Schriftsteller seiner Generation stellte die Teilnahme am Ersten Weltkrieg auch für den jungen Ungaretti eine einschneidende Erfahrung dar, die seine Weltsicht und die Formensprache seiner Gedichte entscheidend prägte: „ Das Wenigste wollte gesagt sein, weil wenig zu sagen blieb.“, kommentiert Bachmann den innersten Kern seiner Poetik: Zurücknahme als ästhetische Notwendigkeit.

Dass die nüchterne, ja scheinbar durchaus unpoetische Kargheit, zumal des frühen Ungaretti, dabei für sie zur Richtschnur ihrer übersetzerischen Auswahl wurde, vermag kaum zu überraschen, entspricht doch gerade die Tendenz zur Abkehr vom gefälligen  Schreiben ihrer eigenen künstlerischen Entwicklung. Mit dem Zweizeiler „Kein Sterbenswort/ Ihr Worte“ etwa endet ihr bekanntes Gedicht  Ihr Worte, welches ungefähr zeitgleich mit ihren Übertragungen entstanden ist.

Ebenso wie Bachmann selbst ist auch Ungaretti – eine Ausnahme innerhalb der italienischen Literatur, die stark im Lokalen wurzelt -  ein Kosmopolit, ein weit gereister Mann, in dessen Gedichten unterschiedlichste kulturelle Horizonte verschmelzen.
Geboren und aufgewachsen als Kind italienischer Emigranten in Alexandrien, Ägypten, ging er als junger Mann zunächst  nach Italien, dann nach Paris, wo er den Kontakt zu den maßgeblichen Künstlern seiner Zeit suchte. Später ließ er sich in Rom nieder, bis er 1936 auf einen Lehrstuhl an die Universität von Saõ Paolo in Brasilien berufen wurde. Zu Beginn der vierziger Jahre kehrte er nach Rom zurück und lehrte dort  bis zu seiner Emeritierung  zeitgenössische italienische Literatur.

In seinem Gedicht Wanderer verknüpft Ungaretti  die existentielle  Heimatlosigkeit des Vagabunden mit der Utopie des unschuldigen Landes und fügt diese beiden Topoi zu einem Sinnbild des 20. Jahrhunderts zusammen. Über alle Gräben – und Gräber – hinweg ist und bleibt  der Mensch ein Suchender. Jenes sagenhafte Land, das, um mit den Worten Ernst Blochs zu sprechen, jedem in die Kindheit schien, in dem aber noch niemals jemand war, wirkt als geheime Kraftquelle des Lebens und der Literatur ungebrochen fort.

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