Atlas der Stiche
über die Jahre hinweg hattest du deine Mückenstiche
auf einer Schaufensterpuppe eingetragen.
denn nichts könne nur Zufall sein,
alles habe System, oder nichtmechanistisch
gesprochen: einen Gott im Gepäck.
und jenem System nach sei dein Atlas der Stiche
längst eine nicht mehr zu leugnende eigene Welt.
aus: Fragmentierte Gewässer, Berlin Verlag 2007
Das System in dir
Das Gedicht beginnt skurril: Eine Person, ein lyrisches du, markiert die Stellen, an denen es von einer Mücke gestochen wurde, auf einer Schaufensterpuppe. Was zunächst wie ein Spleen dieser Person wirkt, wie ein abseitiges Hobby in einer Zeit, die an abseitigen Hobbys nicht arm ist, wird in den Versen drei bis fünf des Textes erläutert, denn „nichts könne nur Zufall sein.“ Der Konjunktiv, in dem dieser Vers steht, offenbart die Distanz des lyrischen Ichs zum Handeln des lyrischen Dus. Diese Distanz wird in den folgenden Versen aufrecht erhalten „alles habe System, oder nichtmechanistisch/ gesprochen einen Gott im Gepäck.“ Damit wird der Spleen des Dus als Suche nach einer Ordnung hinter den Stichen erklärt und damit als Suche nach Gottes Wirken in der Welt gekennzeichnet. Das abseitige Hobby des lyrischen Dus erhält damit eine faustische Komponente, „dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, ist Sinnsuche und Überschreitung des bisherigen Horizontes zugleich. Doch da es sich um eine Sinnsuche durch Deutung von Mückenstichformationen handelt, wird das faustische Element, das Goethe noch als große Verzweiflung aufgrund der Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit charakterisierte, ins Abseitige gewendet. Es scheint ein pathologischer Drang zu sein, der eine Person dazu treibt, sich mit Mückenstichen zu beschäftigen, eine krankhaft fixe Idee. Die letzten beiden Verse machen deutlich, wie dieser Versuch der Sinnsuche für das lyrischen Du endet. Anders als Faust entdeckt es die Zusammenhänge, die es sucht, „jenes System“, und diese Entdeckung setzt eine Eigendynamik frei. Auf jeden Zusammenhang, der sich offenbart, folgen neue Möglichkeiten, weitere Zusammenhänge aufzufinden. Das System wird zum Mikrokosmos, zur „eigenen Welt.“ Da sich der göttliche Weltplan anhand der Position von Mückenstichen nicht äußern wird, muss der Zusammenhang, den das lyrische Du proklamiert, in ihm selbst stecken und auf die Mückenstichformationen der Schaufensterpuppe projiziert werden. Der Konstruktivismus rettet das lyrische Du vor der Verzweiflung Fausts, so dass es schließlich völlig überzeugt von diesem System ist, es als „nicht mehr zu leugnend“ betrachtet und ihm den Status universeller Gültigkeit verleiht.
Die Art und Weise, wie die Sinnsuche des lyrischen Dus erfolgt, ist typisch für das ausgehende zwanzigste und beginnende einundzwanzigste Jahrhundert. Die gängigen Erklärungsmuster der menschlichen Existenz in Form religiöser oder philosophischer Theorien, denen Faust noch nachspüren konnte, haben an allgemeiner Geltung und Attraktivität verloren. Der Erkenntniswille des Ichs, die Sinnsuche und der Wunsch nach Überschreitung des eigenen Horizontes wenden sich ins Private, ins Abseitige und Eigenwillige. Man glaubt konstruktivistisch an seine eigene Wahrheit, sei es eine esoterische, eine durch Sekten oder Verschwörungstheorien vermittelte etc. Je mehr sich der Mensch mit einer Theorie beschäftigt, je überzeugter ist er davon, dass sie allgemeine Gültigkeit besitzt. Das Leben in und mit einem Erklärungsmuster wird eine eigene Welt. Der „Altas der Stiche“ beinhaltet somit eher Landkarten einer pathologischen Störung als Muster einer echten Erkenntnis von Wahrheit außerhalb und unabhängig von einem Ich (oder lyrischem Du).
Der Kunstgriff Ron Winklers besteht darin, dass er alle Äußerungen des lyrischen Dus zur Existenz eines göttlichen Systems hinter den Mückenstichen in den Konjunktiv setzt. Dadurch geht das lyrische Ich auf Distanz zu den Ideen des Dus. Es durchschaut das pathologische Moment, das hinter dieser Form der Suche nach Wahrheit steht, weiß, dass sich das lyrische Du seine Erkenntnis konstruiert, dass es notwendig wäre, das gefundene System auf seine allgemeine Gültigkeit hin zu überprüfen. Das lässt darauf hoffen, dass nicht jeder Mensch monoman mit seinem „Atlas der Stiche“ befasst ist, sondern sich dem zuwendet, was das Leben wirklich lebenswert und sinnvoll macht: den Mitmenschen.