Lesart
Stephen Dunn* 1894† 1980

The Routine Things Around the House

When Mother died
I thought: now I’ll have a death poem.
That was unforgivable

yet I’ve since forgiven myself
as sons are able to do
who’ve been loved by their mothers.

I stared into the coffin
knowing how long she’d live,
how many lifetimes there are

in the sweet revisions of memory.
It’s hard to know exactly
how we ease ourselves back from sadness,

but I remembered when I was twelve,
1951, before the world
unbuttoned its blouse.

I had asked my mother (I was trembling)
if I could see her breasts
and she took me into her room

without embarrassment or coyness
and I stared at them,
afraid to ask for more.

Now, years later, someone tells me
Cancers who’ve never had mother love
are doomed and I, a Cancer,

feel blessed again. What luck
to have had a mother
who showed me her breasts

when girls my age were developing
their separate countries,
what luck

she didn’t doom me
with too much or too little.
Had I asked to touch,

perhaps to suck them,
what would she have done?
Mother, dead woman

who I think permits me
to love women easily,
this poem

is dedicated to where
we stopped, to the incompleteness
that was sufficient

and to how you buttoned up,
began doing the routine things
around the house.

Unanfechtbar

Weder zu viel, noch zu wenig gewährt die Mutter ihrem heranwachsenden Sohn. Und was sie ihm bereit ist zu geben, gibt sie ihm ohne jeden Vorbehalt:  Einen Moment höchster Intimität, der ihre innere Verbundenheit für immer besiegelt.

Man sieht die Szene vor sich: ein bürgerliches Schlafzimmer im Stil der fünfziger Jahre, darin Mutter und Sohn, die unverhofft aus der häuslichen Routine treten und die Schwelle des Konventionellen überschreiten, um wenig später wie selbstverständlich wieder in den vorgegebenen Rahmen zurückzukehren.Dieses Gedicht ist unserem Innehalten gewidmet, / der Unvollständigkeit,/ die gerade genug war.

Stephen Dunns Häusliche Routine läßt mich denken, dass die Tiefe einer Beziehung in  einem solchen Moment gründet, in dem zwei Menschen etwas Unaussprechliches miteinander erleben.  Etwas, das man beim besten Willen nicht erklären oder erzählen kann. Die Aura dieses ihres Geheimnisses ist der Schutzmantel, der ihre Beziehung fraglos und unanfechtbar macht. 

Häusliche  Routine

Als Mutter starb
dachte ich: Das gibt ein Gedicht über den Tod.
Dieser Gedanke war unentschuldbar,

und doch habe ich mir mittlerweile vergeben,
so wie  Söhne es vermögen,
die von ihren Müttern geliebt wurden.

Ich starrte in den Sarg
und dachte an ihr Leben und daran,
wie viele Leben
in den Erinnerungen der Erinnerung verborgen sind.
Schwer zu sagen,
wie wir uns von unserer Traurigkeit befreien können.

Ich erinnerte mich an den Zwölfjjährigen, der ich war,

1951, bevor die Welt
ihre Bluse aufknöpfte.

Zitternd hatte ich meine Mutter gefragt,
ob ich ihre Brüste einmal sehen dürfte,
und sie nahm mich mit in ihr Schlafzimmer,

weder schüchtern noch verlegen.
Ich starrte auf sie und wagte es nicht,
sie um mehr zu bitten.

Heute, Jahrzehnte später, sagt mir jemand,
Krebse, die keine Mutterliebe kennengelernt haben,
seien verflucht, und ich, Krebs meines Zeichens,

darf mich wieder einmal als Glückspilz fühlen. Welch ein  Segen,
eine Mutter gehabt zu haben,
die mir ihre Brüste zeigte,

zu einer Zeit, da die Mädchen in meinem Alter
ihre eigenen Kontinente erkundeten,
welch ein Segen,

dass sie mir weder zu viel
noch zu wenig gewährte.
Hätte ich sie darum gebeten, sie anzufassen,

oder gar an ihnen zu saugen,
wie hätte sie wohl reagiert?
Mutter, tote Frau,

die es mir leicht gemacht hat,
die Frauen zu lieben,
dieses Gedicht

ist unserem Innehalten gewidmet,
der Unvollständigkeit,
die gerade genug war,

und dem Augenblick, in dem du deine Bluse wieder zuknöpftest
und zur häuslichen Routine
zurückkehrtest.

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Golisch

Quelle Foto: stephendunnpoet.com

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