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Notiz

Von der Langweile am Betrug

Kritik ist systematischer, erratischer Betrug. Ich selbst betrüge die Welt seit ungefähr sechs Jahren.

Lange habe ich abgewiegelt, wenn mich jemand als Literaturkritiker bezeichnete. »Wenn ich damit meine Miete zahlen kann«, lautete meine lapidare, standardisierte Antwort, wenn jemand Protest gegen meinen Protest anmeldete. Mittlerweile bezahle ich mit dem Schreiben meine Miete. Literaturkritik schmiert mir dabei höchstens den Aufstrich auf die sprichwörtlichen Brötchen. Zu mehr reicht es nicht. Zu mehr habe ich auch keine Lust.

Bin ich jetzt also Literaturkritiker? Oder nicht?

Von allen Formen des systematischen, erratischen Betrugs ist die Lyrikkritik für mich die betrügerischste. Mein Texteditor unterkringelt mir sogar das Wort mit einer roten Linie und flüstert mir so implizit zu: Du musst dich getäuscht haben, überleg noch mal. Oder was soll das sein, Lyrikkritik?

Stellen wir uns vor, ich würde auf ein Uni-Seminar eingeladen und müsste zu einer recht einfachen Frage referieren: »Sag mal, Kristoffer: Wie machst du das eigentlich, Kritik schreiben? « Als erstes würde ich wohl das sagen: Macht euch klar, dass es tausende Arten gibt, ein Buch zu lesen, tausende Arten, eine Platte zu hören. Dann würde ich sagen: Eure eigene ist dabei zuerst recht egal. Dann: Fragt danach, wie das Buch gelesen, wie die Platte gehört werden soll. Und dann danach, ob das so im Kontext von allem, was ihr kennt, auch klappt. Liefert dieses flammende kapitalismuskritische Essay wirklich schlüssige Argumente für eine Revolution? Tut es dieser zweiminütige Punksong? Wird dieser Lyrikband seinem ästhetischen Programm gerecht? Wird dieser House-Tune an einem Sonntagnachmittag die Gardinen der Panorama Bar aufreißen? Am Ende wisst ihr, auf welche Art ihr das Buch lest, auf welche ihr diese Platte hört. Dann schreibt ihr das auf und es ist ein großer Betrug. Weil eure Lesart von den vielen anderen möglichen differiert und sich selbst ändern wird, weil ihr euch und die Kontexte - eure, die der Werke, der gesamten Welt - sich ändern werden. Und ihr reißt doch das Maul auf und behauptet etwas, das einen allgemeinen Anspruch hat, und sei es nur in Hinsicht auf euch selbst. Das ist insbesondere problematisch bei polyvalenten Konstrukten, wie es Gedichte sind. Konstrukte, die auf wenig Raum eine Vielzahl sich kontinuierlich verändernder Kontexte zugleich aufrufen.

Dieser Betrug ist also erratisch, weil er wahllos ist. Er wird systematisch, wenn ihr damit fortfahrt. Denn Kritik wird generisch und ihr werdet es auch. Es gibt in diesem Feld keine Professionalität, höchstens die (Selbst-)Annahme davon. Diese (Selbst-)Annahme läuft dem Zweck der Kritik frontal entgegen. Ich zumindest bin nicht professionell und will es niemals sein.

»Die radikalste Form von Langeweile ist die gegenüber dem eigenen Tun, Denken und dem, was beides vereint: dem Schreiben«, notierte ich kürzlich an anderer Stelle. Weil generische Kritik vor allem Ausdruck eines identitären Stillstands ist. So nach dem Motto: Ich bin, wer ich bin, und das ist meine Meinung, und nur mit ihr im Hinterkopf kann ich dieses Buch lesen oder diese Platte hören.

Ein anderes Wort für diesen identitären Stillstand wäre Egozentrik. Durch so viele verschiedene Communities ich mich beruflich wie privat auch bewege, nie bin ich davon mehr begegnet als in der Literaturszene. Das war ein Grund, weshalb ich im Dezember 2013 als Mitorganisator der Lesereihe Kreuzwort das Handtuch warf, es ist der Hauptgrund, warum ich mich völlig aus der Szene zurückgezogen habe.

Ich erinnere mich an meine allererste Lesung in Berlin. Herbst 2008, eine Lyrikanthologie wird vorgestellt. Danach sitzen wir alle an einem Tisch, trinken Bier und unterhalten uns darüber, wer welche Preise bekommen hat und warum das völlig unverdient ist. Ernüchternder hätte das, egal wie viel Whiskey ich mir zwischenzeitlich reinstellen konnte, nicht ausfallen können. Leider setzte es auch die Messlatte für meine weiteren Erfahrungen in dieser Szene, die ihre prekäre Situation insofern anerkennt, als dass sie lediglich darüber mault anstatt sie reformieren zu wollen.

Solidarität forderte Ulf Stolterfoht im Rahmen einer dieser immer wieder aufkommenden Debatten um den Status Quo der deutschsprachigen Literaturszene vor einigen Jahren. Das ist ein frommer Wunsch, auf den sich alle einigen konnten. Derweil liefen die Gespräche nach Lesungen weiter. Das langweilte mich, ich zog weiter.

Eine andere Form von Solidarität, die genau die prekäre Situation bestärkt, unter der in dieser Szene alle leiden, ruft Tristan Marquardt in einem kürzlich beim Online-Magazin Signaturen erschienenen Essay auf. Er skizziert das Bild einer Buddy-Kultur, wie sie in allen Szenen gängig ist: friends helping friends. Wer nicht dazugehört, muss sich entweder schnellstens reinwieseln oder bleibt draußen. Oder?

Im Laufe des Essays erwähnt Tristan auch mich und meine Lyrikrezensionen, die ebenfalls immer seltener wurden. Tristan - den ich mittlerweile kaum noch sehe, den ich aber als Freund bezeichnen würde - erklärt meinen Rückzug aus der Lyrikkritik damit, dass im Musikjournalismus eine höhere Wertschätzung gegenüber der Kritik messbar ist. Das ist nur zum Teil richtig, zumindest liegt es nicht zwangsläufig am Format allein, sondern an allgemeinen Strukturfehlern.

Ich kann Tristans Essay auf der Homepage von Signaturen nicht kommentieren, auch hat das Magazin keine Facebook-Seite, auf der ich mich öffentlich positionieren könnte. Das ist im Jahr 2016 völlig absurd und ein gediegenes Beispiel dafür, wie festgefahren die Strukturen der Literatur und auch der Literaturkritik sind. Der systematische Betrug der Kritik hat so keine Möglichkeit, sich selbst als so erratisch zu präsentieren, wie er letztlich ist.

Ich musste ein gönnerhaftes Grinsen verschlucken, als Julietta-Ruth Fix die neue Serie express! auf Fixpoetry ankündigte. Von »neuen Ansätzen« war dort die Rede, das fand ich eher komisch. Drei Tage, nachdem ich meinen letzten Beitrag zu der ziemlich fruchtbaren Diskussion mit Martin A. Hainz und Max Colleks A.H.A.S.V.E.R. geschrieben hatte, saß ich mit zwei Autoren des Online-Magazins Das Filter an einem Küchentisch und twitterte: »Musikjournalismus 2016 gonna Musikjournalismus 2016 aka zu dritt Mut [sic] drei Rechnern am Küchentisch rauchen.« Ganz genau wie bei express! übten wir uns zu dritt an einem erratischen Betrug, das heißt der Kritik von drei neuen Alben. Wir widersprachen einander, wir korrigierten unsere Meinungen, und so weiter. Wir arbeiteten dem identitären Stillstand entgegen. Sowohl bei express! wie auch an diesem Küchentisch in Berlin-Mitte änderte, verfeinerte oder verfestigte ich meine Kritik zu dem, worüber wir dialogisierten.

Diese Form von Dialog ist bei Das Filter als Reihe etabliert und keineswegs eine neue Erfindung. Im FACT Magazine wird beispielsweise in der Serie FACT Singles Club wöchentlich über einzelne neu veröffentlichte Songs diskutiert und im hhv.de mag unterhielten sich kürzlich Philipp Kunze und Florian Aigner nur wenige Stunden nach Veröffentlichung von Kendrick Lamars To Pimp A Butterfly über das Album. Musikkritik ist resilient geworden. Literaturkritik braucht das kaum zu werden und kann sich mit dem Stillstand begnügen, weil die Literaturindustrie kaum Veränderungen zulässt: Mit A.H.A.S.V.E.R. schlägt das Verlagshaus Berlin einen Code vor, der die Unvereinbarkeit von gebundener Rede und responsivem Design zumindest teilweise löst. Noch mal: Wir befinden uns im Jahr 2016. Für einen solchen Vorschlag hat es lächerlich lange gebraucht.

Mein gönnerhaftes Grinsen wäre allerdings allein schon deswegen nicht angemessen gewesen, weil Juliettas Claim durchaus Substanz hat. Schriftliche Literaturkritik kennt, ebenso wie sie keine Kürzestformen kennt, keinen Dialog außer dem der langwierigen Essays wie diesem hier. Das ist ein Strukturfehler und er existiert nur deswegen, weil niemand diese Struktur ernsthaft in Frage stellen möchte. So wie bei Signaturen die Kommentarfunktion fehlt, gibt sich Lyrikkritik weiterhin als Atavismus von Printzeiten: Als fixierte Setzung, die Diskussionen zwar anstoßen kann, nicht aber an ihnen teilnimmt. Das ist unter anderem ein Grund, warum ich - abgesehen davon, dass mich diese Szene und das Gros ihrer Produktionen langweilen - kaum noch Lyrikkritik verfasse. Die rot gekringelte Linie unter dem Wort spricht eine kleine Wahrheit über meine Praxis aus. Dabei habe ich das eine ganze Weile sehr intensiv gemacht und damit zumindest einige Diskussionen losgetreten. Weil ich auch mal kritische Töne von mir gegeben habe. Weil es mir immer scheißegal war, mit wem ich es mir dabei verscherzen könnte. Weil ich mir nicht von diesem System abhängig machen wollte, über das alle maulen und damit doch nur festigen.

Mein systematischer, erratischer Betrug will die Teilnahme am Dialog, weil er erratisch ist und sich Systeme unbedingt selbst kritisieren müssen, um sich zu aktualisieren oder, ja, zu verbessern. Wenn das System, in diesem Fall die Lyrikcommunity, sich dermaßen dagegen versperrt, erratisch zu werden, ist ihm nicht zu helfen. Dann auch wird das Schreiben darüber langweilig und es gibt eben keine radikalere Langeweile als die gegenüber dem eigenen Schreiben. Wenn mich also jemand fragt, ob ich Literaturkritiker sei, sage ich meistens, dass ich in erster Linie Musikjournalist bin.

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