alles ist sichtbar, für den der sehen will
express! Eine neue Form von Kritik. Wir exp_erimentieren mit neuen Ansätzen in der digitalen Literaturkritik. Wer denkt wie und warum? Was sagt die Autorin dazu? Können Sie das nachvollziehen? Interaktiv und transparent - eine demokratische Debatte über Literatur. Zwei Literaturkritikerinnen und eine Autorin im Dialog. Es geht los! express! yourself!
Blitz der möglichen Gewitter

„Im Grunde fangen wir zu früh an, Kritiken zu schreiben", formulierte Anton Thuswaldner unlängst in Volltext – aber womöglich gilt dies nur, wo Kritik als finales Urteil fungieren will, nicht als Frage, als Impetus, als all das, wovon als Kritik immer wieder geträumt wurde:
„Ich stelle nur einfach gerne eine Kritik vor, die nicht zu urteilen versuchen würde, sondern ein Werk, ein Buch, einen Satz, eine Idee zum Leben erwecken würde […]. Die Urteile fällende Kritik schläfert mich ein; ich hätte gerne eine Kritik in einem Funkenregen von Einfällen. Sie wäre nicht souverän, nicht rot gekleidet. Sie trüge den Blitz der möglichen Gewitter",
formulierte einst Foucault.
Etwas dieser Art gestattet das Format express! – das sich gerade bei A.H.A.S.V.E.R. anbietet, auf der Spur des die Geschwindigkeit entdeckenden Josef, bei dem man sogleich hängen bleibt, der sich nämlich in Interaktion erfährt. Nicht wäre es länger so:
„je schneller du läufst, desto schneller
wechselt die landschaft";
er ist auch selbst ins Auge gefaßt, die Frage, wer er sei, ist ihm gestellt, durch den denominalisierenden Text:
„josef, iosif, joseph
wer bist du gewesen
wer bist du geworden?"
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Stream flüssiger Identitäten

Es geht nicht um Regen oder um Gewitter - es geht um einen stream, der die Richtung wechselt und dessen Verlauf von mehr als einem Faktor bestimmt wird. Das tut Max Czolleks A.H.A.S.V.A.R., nicht allein inhaltlich, sondern auch formal. Derweil Lyrik als smartphonekompatible und zeiteffiziente Literaturgattung gelobt wird, verträgt sich gebundene Rede nicht mit responsivem Design. Die Edition Binaer des Veragshaus Berlin bietet mit ihrem Code - ˇ steht für einen Zeilenumbruch, ¬ für einen Einzug, und so weiter - eine Notlösung an, die genauso Notlösung ist wie der Zeilenumbruch auf dem bedruckten Papier. Das Formale verflüssigt sich so und spiegelt damit einen in Kultur und Medien zu beobachtenden modus operandi von Identität wider, der sich nur auf eine Art adäquat nachzeichnen lässt: als stream.
So beginnt auch Max Czolleks A.H.A.S.V.A.R., welches eine identitäre Prozessualität kritisch nachvollzieht:
josef, iosif, joseph
wer bist du gewesen
wer bist du geworden?
Er sieht sich konfrontiert mit »tannen wie hamburger gitter« - das lässt sich im Kontext seiner (flüssigen) Veröffentlichungsform auf ihr Umfeld übertragen: Eine Literaturszene, die bis auf wenige Ausnahmen weder die veränderten ökonomischen Gegebenheiten ihrer Zeit anerkennen will noch deren mediale Möglichkeiten für sich nutzen will.
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Friede den Kritiken

Lieber Martin A. Hainz, lieber Kristoffer,
ich gebe (an dieser Stelle) (noch) nicht der Versuchung nach, die Kritik kritisch zu beleuchten. Das Futter wäre selbst dann leicht verfügbar, wenn ich nur Beispiele aus den letzten Wochen heranzöge. Der Kritik geht es nicht gut bzw. der Kritik geht es angesichts einer davongalloppierenden Lyrikproduktion nicht gut. Die SZ nennt das Renaissance, ich nenne das Lebendigkeit und denke, mit dem Betrieb hat das nichts zu tun. Dem Betrieb, von dem die Kritik ja eine Reflexionsinstanz ist, ist Lyrik die letzten Jahrzehnte fast völlig egal gewesen. Und da haben wir eben unsere eigenen Instanzen gegründet, unsere eigenen Maßstäbe gesetzt und unsere eigenen Anerkennungsstrukturen geschaffen. Das ist ein Grund, warum Lyrikverlage wichtig sind und dabei so Dinge tun, wie die Edition Binaer. Wir hängen da alle gemeinsam drin - Kohorten Schreibender, Verleger*innen, Typographen, Presseagenturen und alle weiteren, die sich seit Jahren den Arsch aufreißen. Was wir geschaffen haben ist ein eigener Mikrokosmos, dem auch der A.H.A.S.V.E.R entspringt, den er reflektiert und dessen Reaktion er provoziert. Ich möchte behaupten, er greift auch darüber hinaus. Aber darüber schreibe ja nun nicht ich selbst, sondern im besten Fall ihr. Packt die Gewitter aus!
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Donner, Elche, Fahrpläne

Wäre Kritik das Assoziieren von Phänomenen, worum es mir aber bei dem Foucault-Zitat nicht unbedingt ging, müßte man nach Blitz, stream und Donner nun wenigstens letzteren konkretisierend Jandl in Erinnerung rufen, seinen „donner der sprache"; aber mir ging es um das Zusammenspiel des Sprechenden und des ihn Lesenden. Jener „josef, iosif, joseph" – nicht mit dem Autor zu verwechseln – ist ein Akteur, der doch nicht allein als auszurechnende Reaktion erfährt, was sich in seiner Aktion ihm zuträgt.
Der Kritik geht es dabei gut, doch dem nicht, der alles in Bewegung versetzend in seiner Bewegung marginalisiert wird, wobei man wohl nicht Lyrik schreibt, um seinen Kontrollbereich zu vergrößern, auch diesem Text geht es ja zunächst um die Dekonstruktion, die als zugelassene verstören darf, auch den, der sie verfaßte. Insofern geht es der Kritik gut, weil sie da nicht mitmacht. Sie verpaßt dabei aber etwas, ist zufrieden, wo es um Glück gehen könnte und müßte, und ums Glücken.
Gut, daß es die Kritik aber nicht gibt, daß es sie nur gibt, wenn wir uns zurücklehnen, und sei's, um über „die Kritik" zu reden, oder darüber, daß die „Literaturszene […] bis auf wenige Ausnahmen" nicht die „mediale(n) Möglichkeiten für sich nutzen will." So düster ist es nur, wenn man schon dem Kritisierten ähnelt, „die größten Kritiker der Elche" – man kennt das…
Was tut der, der sich verunsichert? – Er erkennt sich nicht zu rasch, nicht über ein äußeres Maß. Er ruht, er verbirgt, was ihn (und ihm: ein trügerisches Sich) verriete, er bleibt nicht bei seinen Wegen und Methoden:
„versuche, dem fadenkreuz zu entwischen
schlage haken bei tag
gib ruhe zur nacht
verberge deine fackel, rekapituliere die route",
man könnte ihm mit Enzensberger noch zum Lesen der Fahrpläne als angedeuteter Optionen raten. Oden können übrigens bessere Fahrpläne sein, gerade an Klopstocks Geburtstag sei das noch erwähnt.
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ist schwierig zu folgen, wenn
Geht es hier um das Buch oder
"Klug über Dichtung zu
Das Buch, um das es geht,
Da ich erst nach den beiden
... oder wir diskutieren nach
Alle vier E-Books der Edition
Weiter wandern (?)

Rechts von der Seite wird aus der Kommentarspalte heraus reingegrätscht: Wir sind nicht am Text. Aber stimmt das? Max Czolleks A.H.A.S.V.E.R. wandert, weil sein Protagonist ein Wanderer oder, besser beziehungsweise schlimmer noch ein Getriebener ist, der nicht zur Ruhe kommt.
hat dir einen graben geöffnet
in den legst du dich nieder
merkst nach wenigen stunden
das sterben will dir nicht glücken
So heißt es im zweiten Gedicht von insgesamt neun. Josef kommt nicht einmal zum Sterben. »nimm einen von den findlingen / bereite ihn dir zum kopflager«, selbst die Ruhestatt ist nur vorläufiger Endpunkt einer quälend langen Bewegung riesigen Gesteins. »josef, cartaphilos, malchus, bottadio / ewig wandernde seid ihr geworden« endet das letzte Gedicht - und also doch nicht. Der ewige Wanderer vervielfältigt sich zum Schluss nochmals.
A.H.A.S.V.E.R. berichtet von einer Reise ohne Ende und vielleicht auch ohne Ziele, dementsprechend wandert der Text als solcher und dementsprechend weit öffnet er sich. Damit nimmt er die unaufhörliche Bewegung des zugrunde liegenden Mythos auf.
Die jeweilige künstlerische Ausgestaltung des Ahasver-Mythos scheint dabei abhängig zu sein
von „der philosophischen oder künstlerischen Anschauung eines jeden und der Mentalität und
dem Denken der jeweiligen Epoche“ (Baleanu 2011: 10 f.)
So schreibt Czollek im Nachwort Inglorious Poets. Rache als Topos jüdischer Selbstermächtigung. Gedanken zum A.H.A.S.V.E.R. Unsere Kritik(en) wandert/n ähnlich wie die Gedichte und ihr(e) Protagonist(en) an sich, wir haben - ähnlich wie der sich zu seiner Lyrik Gedanken machende Czollek es qua Essaytitel andeutet - versucht, unsere Position zum Text zu bestimmen.
Und jetzt?
Von der Angst

Gerade bin ich von einem Seminar bei Berlin zurückgekommen. Thema war Angst in einer pluralen Gesellschaft und ich war als Autor eingeladen, Texte zu lesen und etwas zum Thema beizutragen. Neben einem Gespräch über Lyrik war es mein Ziel, eine Haltung zu formulieren, die den ängstlichen weißen Deutschen aka AFD antwortet: Ihr habt Angst vor uns? Zu Recht! Ich denke, Lyrik kann Haltungen wie diese erkunden. Ihre Lektüre (und ihr Verfassen) unterstützt uns im besten Fall dabei, Reaktionen auf das permanente anbranden fremden Begehrens einzuüben, welches ein Ausdruck gesellschaftlicher Positionierungsprozesse ist: Wer darf die Fragen stellen, wer muss antworten? Wessen Probleme spielen eine Rolle? Wer kann entscheiden, was wichtig ist und was nicht?
Den A.H.A.S.V.E.R verstehe ich als einen solchen Versuch ungewohnter Positionierung. Vordergründung geht es um die Aneignung der antisemitischen Legende vom Ewigen Juden. Über die Strategie und Mechanik des Texte gibt es viel zu sagen, dafür habe ich ja den Essay geschrieben, dessen Titel durchaus programmatisch zu verstehen ist: "Inglourious Poets. Rache als Topos jüdischer Selbstermächtigung". Auch zum hiesigen Thema: Mich interessiert(e) an diesem Text die Rückbesinnung auf den Bannspruch als literarischer Form. Dabei ließe sich nachdenken über die Gegenwärtigkeit sprachmagischer Überzeugungen im linguistic turn, die sich auch in der Vorstellung manifestiert, Sprache konstruiere Welt. Abrakadabra. Ach Umberto Eco, ich vermisse dich wirklich sehr.
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ich stolpere dauernd über
ohne namen

Ahasver codiert sich um; er, der nicht dazugehöre, zeigt, daß das Urteil, wonach er nicht dazugehöre, alle Schuld auf sich lud, die man ihm fälschlich zuweist. Fragt sich das Subjekt – „josef, iosif, joseph" –, wer und was es sei, so entdeckt es zwischen den Namen, daß es auch und vor allem namenlos sei, seine Chance: sich etwas zuzuschreiben, und zwar sowohl sich Eigenschaften zuzuschreiben, aber auch, sich auf etwas hin zuzuschreiben, einer Sache zu verschreiben.
In Tarantinos „Inglorious Basterds", woran sich der Inglorious Poet Max Czollek anlehnt, sucht die Jüdin durch das Medium, das sie zum Objekt machen soll, die heim, die sich für Arier halten, macht ihre Ausschließung zu deren Einschließung.
„bist du der ohne namen
der nicht ohne aufforderung redet"..?
Womoglich redet er, aber nicht als „er", die Sprache wird bei ihm, worin Gerechtigkeit sich denken läßt – wider jene, die um Verständnis heischend einerseits und andererseits marodierend reklamieren, sie seien „das Volk", die aber heimzusuchen sind, denen zu sagen ist, daß sie nicht das Volk sind und nichts mit dem zu tun haben, was sie angeblich verteidigen; daß sie nur ihre Enttäuschung, nicht geworden zu sein, was sie für erreichbar und erstrebenswert hielten, in Haß und Paranoia umgossen.
Man entgehe ihnen, man entziehe sich ihrer Zuschreibung, redefiniere sich, wo diese einen – scheinbar – berührt haben könnte:
„versuche, dem fadenkreuz zu entwischen
schlage haken bei tag
gib ruhe zur nacht
verberge deine fackel, rekapituliere die route"…
… und dann sei man nicht dem gasmaskenbewährte Mörder auch nur ähnlich,
„der kristall in kammern wuchtet
elephantenmasken trägt
auf stille wartet".
Man verzeichne aber die Stille, wo sie geschieht.
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Umgängliche Gespenster

Zuerst finde ich es großartig und bemerkenswert, wie Max selbst Position bezieht. Das fehlt mir so häufig, denn manchmal habe ich schon Lyriker_innen geradeaus die Kinderfrage gestellt: »Was meinst du damit eigentlich?« und die Antwort fiel ausweichend aus. Das kann viele Gründe haben, oftmals sehe ich darin aber eine gewisse Verantwortungsscheu. Ich begrüße es aber eher, klare Ansagen zu bekommen, zu denen ich wiederum Stellung nehmen kann - denn mir selber meinen Teil denken, das kann ich allein.
Zumal ich so die Gelegenheit geboten bekomme, die Umsetzung der Gedichte vor die Folie ihrer Intention zu halten. Du nennst den Bannspruch, Max, das finde ich spannend. Der Getriebene »josef, iosif, joseph« vollzieht ein Ritual der Austreibung. Das ist tatsächlich ein Akt der Selbstermächtigung und damit vielleicht einer der Rache.
Wenn ich durch die Gedichte lese, stelle ich eine Bewegung fest. Mit den Worten »zu beginn, josef, ist es noch einfach« beginnt A.H.A.S.V.E.R., zwischendurch heißt es »wer deutet deine träume, josef / liest deine zeichen, nebukadnezar?« und der Zyklus endet auf »josef, cartaphilos, malchus, bottadio / ewig wandernde seid ihr geworden« und spielt dabei die kulturhistorischen Beinamens Ahasvers an. Das Subjekt der neun Gedichte wird erst in Frage gestellt und wird zum Schluss in Individuationen zersplittert. Es fällt mir schwer, diese Bewegung als Rachefeldzug zu deuten und noch schwerer darin die Konstruktion einer Welt aus Sprache auszumachen oder, wie Martin das ausdrückt, die Verschreibung auf eine Sache hin.
Ich habe meine Kritik an Max' Debütband neu gelesen und muss ironischer Weise zugeben, dass das, was ich darin als Schwäche interpretiert habe, in meinen Augen die Stärke von A.H.A.S.V.E.R. ausmacht. Um die Inglourious Basterds-Referenz aufzunehmen: Josef ist in meinen Augen kein Bear Jew, der mit baseball bat bewaffnet Schädel einschlägt. Nicht in erster, zweiter oder letzter Instanz. Dazu ist er zu unbestimmbar und zum Schluss zu viele verschiedene Individuationen seines ihm zugeschriebenen Selbsts.
Was er aber ist, oder sie sind: Ein hantologisches Echo. Ein Gespenst, das umgeht und mit dem vielleicht eine Drohung einhergeht. Dass diese allerdings nicht offen ausgesprochen, sondern im Gegenteil offen gelassen wird, finde ich an A.H.A.S.V.E.R. umso überzeugender.
Aber vielleicht begegnen wir drei uns damit auf unseren Wanderungen genau hier?
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alles ist sichtbar, für den der sehen will

Es ist wirklich eine Freude zu beobachten, wie sich eure Interpretation des A.H.A.S.V.E.R so langsam herausschält. Wirklich spannend ist, dass ich die Josef-Figur ganz anders interpretiere, was einen nahezu inversiven Effekt auf den Text hat: der Josef ist für mich eine Täterfigur (also nicht der Bear Jews sondern sein Opfer!), dessen Flucht nicht in erster Linie als Conditio Humana oder als Verweis auf die Prozesshaftigkeit des Textes oder des darin agesprochenen Subjektes gedacht ist (danke für diese spannende Analyse!). Vielmehr geht es in dieser Lesart um eine sehr konkrete Verfolgung/Verfluchung einer Täterfigur durch den Text. In diesem Sinne verhält sich der Text durchaus mimetisch zu der ursprünglichen antisemitischen Legende (vielleicht ein weiterer Diskussionspunkt: was passiert eigentlich bei dieser Übernahme der Haltungen; ist es nur das gleiche mit anderen Vorzeichen, oder spielt es auch eine Rolle, wer den Fluch ausspricht?).
Hier taucht für mich die Figur des Inglourious Poets auf. Letztlich ist es ein bisschen wie mit dem Rape-and-Revenge-Film oder eben Inglourious Basterds. Ein psychischer Innenraum wird als Setting inszeniert, der die Machtverhältnisse umkehrt. Darin liegt an sich schon ein kathartischer/empowernder Moment, denn hier wird etwas wie ein utopischer Raum der Formulierbarkeit sichtbar, aber dieser Raum überschreitet gleichzeitig die Logik des Empowerments (die ja weiterhin politisch ist: hier sind wir, da die anderen und darum fordern wir folgendes!). Diese Überschreitung findet auch an dem Punkt statt, wo ihr in bestimmter Hinsicht das genaue Gegenteil von dem im Text findet, was ich darin sehe.
"alles ist sichtbar, für den der sehen will" heißt diese Diskussionsreihe und nun habe ich erstmals einen Punkt erreicht, an dem mir dieser Titel verständlich wird. Schon länger frage ich mich, inwiefern die Interpretation eines Textes mir mindestens ebensoviel Auskunft gibt über den/die Interpret*in wie der Text über den/die Autor*in - seine/ihre Erwartungen, Hoffnungen, Intentionen und Ängste. Ich finde das sehr spannend. Die Dialogform von express! ist wahrscheinlich prädestiniert für so eine gegenseitige Sichtbarmachung.
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ohne namen, Teil 2

„josef, iosif, joseph" ist, ohne die Differenz zwischen Opfer und Täter zu verunklären, im Text Ahasver beides, vielleicht auch Opfer seiner selbst als Täter, im Medium seiner Tat heimgesucht. Ist er der Bärenjude? Nein, viel eher eben Shoshana: In Tarantinos „Inglorious Basterds", woran sich Max Czollek anlehnt, sucht die Jüdin durch das Medium, das sie zum Objekt machen soll, die heim, die sich für Arier halten, macht ihre Ausschließung zu deren Einschließung, wie ich sagte.
Die Sprache als Tätersprache und der Film als Täterfilm, sie werden zur Anklage, zur Verantwortung, die über diesen (meinetwegen:) Täter hereinbricht, der dem gasmaskenbewährten Mörder auch nur ähnlich nicht hätte sein dürfen, nochmals, heute insistiere ich mal ein wenig..:
„der kristall in kammern wuchtet
elephantenmasken trägt
auf stille wartet".
Er durchläuft Täterkarrieren, verfolgt von einer Sprache, die kein Narrativ findet, das ihn entschuldigte – und das erscheint mir zuletzt wichtiger als die Frage, was wir von „josef, iosif, joseph" zu halten haben. Verkündigt wird durch die Sprache, daß Schuld sei – und bleibe. Noch in der Stille, „(w)er Augen hat (,) der sieht [alles] in allem." (Lichtenberg)
Das Verbrechen wird Textkorpus, es
„lässt sich nicht mehr schließen
wie ein bluter aus adligem geschlecht"
Erlösung?
„das sterben will dir nicht glücken",
nicht einmal in die Hölle ließe sich noch flüchten, so läßt Schiller in seinen Räubern den Pastor Moser Franz aufklären…
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Von Wandern und Winden

express! ist seine Prozessualität dermaßen tief eingeschrieben, dass uns erst jetzt die komplette Veröffentlichung vorliegt. Neben dem Gedichtzyklus und dem dazugehörigen Essay beinhaltet diese noch ein Gespräch zwischen Max, seinem Verleger Jo Frank und Micha Brumlik aus dem Jahr 2015 anlässlich der Veröffentlichung von Maxens zweitem Band Jubeljahre.
»Ich denke, es herrscht ein großes Schweigen über die Nazizeit in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik. Und ich denke, dieses Schweigen ist Ausdruck einer Unlust von Autor_innen, die ja auch eine Angst sein kann, sich damit weiter zu befassen«, sagt Max dort und ich kann das zumindest für mich so unterschreiben. Dass Max seine Version als »durchaus mimetisch zu der ursprünglichen antisemitischen Legende« bezeichnet, wollte mir anfangs nämlich nicht einleuchten. Weil ich als Angehöriger des Tätervolks wohl schlicht keinem jüdischen Autor ohne Weiteres vorwerfen wollen würde, antisemitische Klischees zu reproduzieren; beziehungsweise zuerst davon ausgehe, dass empowerment an dieser Stelle ungleich Affirmation ist. Die aber nennt Max neben der Idee der Desintegration als maßgeblich für Jubeljahre und ich beginne langsam zu verstehen, wie sich dies in A.H.A.S.V.E.R. wortwörtlich fortschreibt. Ein antisemitisches Narrativ in der Tätersprache zu verfolgen, schließt sich jedoch mit meiner Interpretation nicht aus, meine zumindest ich.
Sowieso denke ich nicht unbedingt, dass wir einander so stark widersprechen. Denn auch Martins - einleuchtender, wie ich finde, - Verweis auf Shoshana macht eine ähnliche Struktur zur Analogie, wie sie nach Maxens eigener Aussage in A.H.A.S.V.E.R. von ihm angelegt ist.
Die Frage für mich lautet nun, wie ich diese mittlerweile gewonnene Deutung wieder auf den Text überführe, um daraus ein kritisches Urteil abzuleiten. Aus so einer kartoffeligen Gutbürgerlichkeit ließe sich sagen: Rache, das würde doch nur mehr Probleme schaffen. Andererseits fühle ich selbst, wenn ich im Jahr 2016 vor einer Berliner Synagoge mit Maschinengewehren bewaffnete Polizeikräfte sehe, eine wahnsinnige Verzweiflung und einen so abgründigen Hass auf mein eigenes Volk (denn ich finde es simpel zu sagen: dieses Volk ist nicht meins, oder die, die »Wir sind das Volk« schreien, seien es nicht), dass ich selbst nichts dagegen hätte, wenn der bear jew einmal über alle Antisemit_innen dieses Volks hinwegziehen würde. Allerdings implizierte meine Sympathie mit diesem Standpunkt, die Behauptung einer Allianz, die so nicht existiert.
Das erschwert mir die Kritik auf einer ideologischen Ebene. Würde ich Max für A.H.A.S.V.E.R. mit Lob überschütten, wie weit wäre das von dem »Versuch einer deutschen Gemeinschaft, sich von ihrer eigenen Täter*innengeschichte abzugrenzen« entfernt, wie es Max im angesprochenen Gespräch hinsichtlich der Guido Knoppschen Zeitzeugenpornografie konstatiert? Würde ich ihn dafür hingegen kritisieren, weil ich Gewalt - egal, ob der Text sie eher als symptomatisch spiegelt als er dazu aufruft - ablehne, wäre das nicht wiederum selbst ein gewalttätiger (Sprach-)Akt, der wiederum die Form eines strukturellen Antisemitismus zumindest implizit in sich trägt?
So viel zumindest kann ich sagen: Dass A.H.A.S.V.E.R. und insbesondere dieses Gespräch mich zu einer Positionierung zwingt, zu einer »gegenseitige[n] Sichtbarmachung«, wie Max das oben schrieb, ist daran sehr beeindruckend. Dass ich die Figur Josef dabei dennoch nicht festschreiben kann und möchte, umso mehr. Der nämlich wandert, derweil ich mich winde.
Vielleicht kann ich so zu einer vorläufigen Kritik kommen, die sich gleichzeitig an mich selbst richtet. In dem Gespräch zitierst du meine Kritik zu deinem Debütband und welcher ich nicht nur schreibe, dass sich Druckkammern »an ein Publikum [richtet], für die die Hölle die anderen sind und die genau dies auch zu lesen bekommen«, sondern deinen Gedichten auch attestiere, eine Stimme zu suchen. Methodisch vermeidest du mittlerweile diese Stimmsuche mit dem größtmöglichen Effekt:, denn deutlicher hättest du mir meine eigene Hölle nämlich nicht aufzeigen können: die Angst, mich zu äußern. Jetzt aber muss ich reden, und sei es nur mit mir selbst und über meine eigene Position nicht zum, sondern im antisemitischen Diskurs. Das ist, kurz gesagt, genau das, was ich von politischer Kunst erwarte.
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Womit ich übrigens in keiner
niemals würde ich den mut
#autorinnen: Ich bewundere
Radikale Kritik

„Im Grunde fangen wir zu früh an, Kritiken zu schreiben“ zitierte Martin A. Hainz Anton Thuswaldner zu Beginn dieses Experiments literarischer Kritik. Wenn ich mir jetzt die Folge von Kommentaren anschaue, dann bin ich freudig überrascht von dem Ergebnis. Die Diskussion setzt wirklich immer wieder neu an, wirft neue Fragen auf und bringt neue Impulse ein. Die dialogische Kritik hat – und hier schließt sich ein Kreis von Martins Aufschlag zu Kristoffers letztem Kommentar – eine Verortung von Kritiker*in und Autor*in ermöglicht, die zugleich ungewohnt und sehr interessant ist.
Im doppelten Dialog von Verfasser*in und Kritiker*in bleiben beide Seiten sichtbar. Die Interpretation ist hier also beides (und das ist entscheidend!): eine Aneignung des Textes mit den Mitteln der Interpretation und eine Reflektion der eigenen gesellschaftlichen Position, die gewisse ästhetische und normative Rezeptionsraster in Autor*in wie Kritiker*in einschreibt. Mir scheint hier eine Erweiterung jenes Konzepts der totalen Souveränität der Leser*innen angelegt, wie sie nach Barthes Tod des Autors populär geworden ist (und die wir auch in Kritikrunden des Lyrikkollektivs G13 respektieren, indem der Autor / die Autorin bei einer Diskussion des Textes erst einmal den Mund hält).
Im A.H.A.S.V.E.R wie auch in den Jubeljahren geht es mir um Fragen wie: Was wissen wir / wisst ihr von jüdischer Identität? Wie wird dieses (Un-)Wissen erzeugt, welches Begehren steht dahinter und was hat das wiederum mit der Konstruktion einer (deutschen) Identität zu tun? Dabei ist Kristoffers Frage, ob Rache eine unmoralische und daher abzulehnenden Haltung nur eine von vielen, die sich dabei ergeben haben. Als problematisch stellt sich ebenfalls die Überschreitung eines mehr oder weniger geteilten Referenz- und Wissenshorizontes deutscher Kritiker*innen heraus. Eine Rezensentin der FAZ führte diese Ambivalenz jüngst dazu, dem Autor ihr Unwissen zum Vorwurf zu machen. Das erlebe ich häufiger.
All diese Fragen sind eng verbunden mit einem Konzept radikaler gesellschaftlicher Diversität, das gegenwärtig wieder den Charakter einer konkreten weil bitter notwendigen Utopie angenommen hat. In Bezug auf eine literarische Kritik bedeutet das ein Aushalten jener moralischen, ästhetischen und intellektuellen Ambivalenz, die entsteht, wenn der Andere einem als Anderer entgegentritt. Ich denke, das bedeutet kein weniger an Interpretation oder Urteilen, sondern ein mehr an darin enthaltener Reflexivität. Ich denke, unsere Diskussion hat das eindrucksvoll demonstriert.
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Weil ich meine, dass Texte
Die 1. Folge der Reihe
alles ist sichtbar, für den der sehen will - lautet der Satz, der eindrücklich bei mir hängenblieb, als ich begann mich A.H.A.S.V. E. R zu beschäftigen. Ich fand ihn in einer Buchbesprechung aus dem Jahre 1981 von Jurek Becker zu Stefan Heyms Ahasver im Spiegel Archiv. Und ist es nicht ein wahrer Satz für die 1. Folge dieser Reihe gewesen? Für die Leserin war es eine Herausforderung, aber auch für die teilnehmenden Kritikerinnen, denn erst während des Prozesses lag die Endfassung des E- Books vor. Es war eine demokratische Debatte. Eine Sichtbarmachung, in der die Kritikerinnen auch das genaue Gegenteil von dem, was der Autor Max Czollek meint, fanden. Die Kritikerinnen nahmen sich die Freiheit, Worte über Beschaffenheit und Sinn des Textes zu streamen. Das Format bietet ein hohes Maß an Freiheit literarisch zu kommunizieren, verlangt aber gerade deshalb Mut und die Bereitschaft sich darauf einzulassen, etwas Neues zu erfahren und daraus resultierend fortzufahren– nicht zu verwechseln mit einem Chat, an dem häufig mehrere Personen beteiligt sind, die kurz ihre Meinung äußern und dann wieder verschwinden. Eine friedliche Reflexion, in der sich das Gegebene, der Text also, ausdehnen konnte und zu neuer Deutung fand und möglicherweise sogar eine Art Bewusstseinsfindung, ob wir Täter oder Opfer sind. Julietta Fix
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