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Jugendsünden (3)
Ein Statement von Uve Schmidt

Es war einmal im November 1967, als im Untergrund der Frankfurter U-Bahnbaustelle Hauptwache der spätere Bundesvorsitzende des VS Horst „Hobi" Bingel (1933-2008) seinen Kollegen Gerhard Zwerenz eine Holzauktion leiten ließ: Die Versteigerung tannenharzhaltiger Hocker zu Gunsten eines Fonds Maschinengewehre für den Vietcong. Die dem Buchhandel irgendwie nahestehenden multifunktionalen Kleinmöbel erhielten ihre Gebotswürdigkeit durch das Zutun anwesender SchriftstellerInnen, welche die Sitzflächen mittels Filzschreibern betexteten und signierten, natürlich nicht im Akkord, sondern jeder Autor, jede Autorin nur einmal pro Nase und Hocker. Ich weiß nicht mehr, welche Berühmtheiten welche Preise erzielten, ich erinnere mich aber, daß mein Beitrag nicht verschenkt werden musste, denn um die 50.- DM erbrachten Zwerenz Hammerschlag und meine Parole ENTEIGNET DIE DEUTSCHE ROMANTIK! Keine Ahnung, wo das sinnige Stück abgeblieben ist, doch erinnere ich mich, erst ad hock (!) über geeignete Aufschriften nachgedacht zu haben, da ich geglaubt hatte, es handle sich bloß um eine Autogrammstunde, und natürlich kann ich nicht behaupten, der junge Rüdiger Safranski hätte damals meinen Hocker gelesen oder gar bezahlt. Ich behaupte auch nicht, daß hernach beim Freibier (o.s.ä.) beschlossen worden wäre, im kommenden Jahr fröhliche Ostern in Hanoi zu feiern, bevor wir als Internationale Brigade den Ho-Chi-Minh-Pfad beschritten, doch bin ich gewiß, daß sich in Mitteleuropa einige tausend Freiwillige gemeldet hätten, wäre ein entsprechender Aufruf ergangen und der große Flieger bereitgestanden, etwa in Schönefeld. Und natürlich wurden am 31.12. 1967 in zigtausend Studentenkneipen und Bürgerstuben zwischen 24h und 0.30h die historischen Worte gesprochen: „Auf das Neue!“, „Auf los geht’s los!“ oder „Jetzt lassen wirs richtig krachen!“ und „Dieses Jahr wolln wirs aber wissen!!“, was sich schwerlich autorisieren und lokalisieren lässt…

Für mich begann alles mit einem Rock’n Roll-Konzert, das ich als 16 jähriger Heimschüler im Westberliner Rundbau am Zoo, einem Catcherzirkus hinter der Gedächtniskirche, an einem kühlen Abend besuchte. Es spielte eine No-Name-Band, die nur schnelle Kasse machen wollte, denn professionelle und prominente deutsche Rocker gab es noch nicht und die US-Stars dachten nicht daran, in Europa zu gastieren. Hingegen berichteten die Zeitungen laufend über Rockkonzerte, wo die Fetzen flogen, und über Krawalle, nachdem Rock’n Roll-Filme aus USA gezeigt worden waren. „Krawall“ stand natürlich immer für Sachschäden, die von Polizei und Presse übertrieben wurden, so auch nach jenem Abend, was fast zur Folge hatte,  meine schüttere Schulkarriere abrupt zu beenden, denn natürlich hatte es einen Mordsrabatz gegeben und deshalb einen Großeinsatz  der Polizei etc pp. mit vielen Verletzten und Festnahmen. Was die Musikfilme anging, handelte es sich um banale Romanzen begabter Dorfkapellen und Dorfschönheiten immergleicher Machart und trotz des Rock’n Roll völlig ungeeignet, soziale Gewalt zu säen oder weitertragende Funken zu schlagen, aber Anlaß genug, die Krawallbilanz der Nachbarstadtteile und der Metropolenkonkurrenz auszustechen sowie „die Görls“ zu beeindrucken, und deshalb wurden Werkzeuge  mitgebracht, um das stabile Gestühl von Lichtspielhäusern, Filmtheatern und Schauburgen  zu demontieren. Dies alles geschah im dramatischen Banne von Massenschlägereien in Klamaukfilmen, wo auf Heimatfilmniveau  in Bierzelten und Hafenkneipen die Sitzmöbel zerkleinert und das Geschirr zerteppert wurde, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Bei der Begegnung mit der realen Staatsgewalt kam es freilich zu Blessuren, zumeist durch Wurfgeschosse, Stürze, interne Prügeleien und Kollisionen mit Kraftfahrzeugen, doch es brannten weder Autos, noch splitterten die Schaufensterscheiben von Bankfilialen und Juwelieren zufolge gezielter Attacken. Bis dahin gingen noch viele fette Jahre ins Land und bevor in Berlin der Bär los war am Kudamm und in Moabit, vor dem Schöneberger Rathaus und rund ums Amerikahaus, vor den BILD - Druckereien und an den Universitäten, also vor all den späteren brachialen Kraftproben mit der Dritten Gewalt fanden die Schwabinger Krawalle statt, drei tolle Sommertage an der Leopoldstrasse im Herzen Münchens, eine schwere Erschütterung der bundesdeutschen Ordnungspolitik, die kein Vorbeben angekündigt hatte, ein in der Geschichte der BRD bis dato beispielloses Ereignis, welches sich als spontaner unpolitischer Ungehorsam entzündet hatte, als ein paar Polizisten das auf den Boulevard drängende Publikum zweier Straßenmusikanten zerstreuen wollten und nach Hinzuziehung berittener Beamter von den Flaneuren (mehrheitlich Studiker) angegriffen wurden. Der Tumult wiederholte sich am nächsten Abend als Zusammenrottung versus Ordnungsmacht, es gab viele Verletzte, vor allem unter den jüngeren Polizisten. Am vierten Tag brachte BILD bundesweit Absichtserklärungen von Rockerbandenchefs aus Hamburg und dem Ruhrgebiet, welche eine Sternfahrt hunderter Biker nach München ankündigten und versprachen „den bayrischen Bullen den Arsch aufzureissen“.  Tatsächlich passierte nichts dergleichen; das asoziale Element der Polizeifeindschaft blieb draussen vor. Als ich wenige Wochen nach diesen Ereignissen in Schwabing eintraf und zu bleiben beschloß, geschah es der Liebe wegen, nicht, weil ich Blut & Pulver gerochen hätte. Es herrschten Bierruhe und die Gaststättenordnung, doch nicht nur in den Köpfen von Politkern und Polizeioffizieren hatte ein neues Denken begonnen (dem zunächst die Position des Polizeipsychologen  entsprang und damit  ein erstes Präventionskonzept deutscher Stadtfriedenshüter), sondern auch und vor allem bei den anarchistischen Kellerkadern der heimlichen Räterepublik, die über Nacht erkannt hatten, wie geschwind und grübelfrei eine gemeinhin moderate und manierliche Menge akademischer und musischer Müßiggänger zu gewaltbereiten Manifestanten motiviert und mobilisiert werden könnte in absehbarer Zukunft: Die jungen bürgerlichen Gefühlslinken hatten endlich ihr Fronterlebnis gehabt! Gingen Teilnahme & Sieg im „Krieg der Knöpfe“ – den blutigen Straßencliquenkämpfen der späten 40er-Jahre – noch an meine Generation als pseudosoldatische Erfahrung derer, die den ganz großen und echten Krieg bewußt miterlebt hatten, so war es nun an den Twens und Teenagern, mit viel Vergnügen Bürgerkrieg zu spielen.

In der Tat kam es nur zu Konfrontationen zwischen Demonstranten, Interventen, Blockierern, Objektbesetzern etc. und der Staatsgewalt; lebensbedrohliche Gefechte zwischen APO und Antikommunisten, Chaoten und Christdemokraten fanden selbst als Saalschlachten nicht statt. Hingegen erlebten die Westdeutschen (zumindest in den Medien) die unentwegten Beeinträchtigungen des öffentlichen, halböffentlichen und nichtöffentlichen Lebens durch einen neuen Typus des Friedensstörers: Der politisierte Poltergeist, herbeigerufen von alten Sünden und neuen Verfehlungen, das nimmermüde Tag- und Nachtgespenst des unberechenbaren Aktionismus zur Erregung allgemeinen und individuellen Ärgers als humanster Form des gegen Autoritäten, Klüngel, Branchen, Institutionen, Ideen und Sachen gerichteten Terrors, von den Lausbübereien der Spaßguerilla bis zum Todeskampf der RAF. Als Baader, Meinhof & Co sich entleibten, starben mit ihnen weder Legionen Getreuer, noch waren die Toten von Stammheim die letzten Hauptschuldigen gewesen. Indes, wer die aktiven 68er als verantwortungslose Urheber irreversibler gesellschaftlicher Fehlentwicklungen und schwerster irreparabler Beschädigungen tradierter Sicherheitssysteme und sogenannter sittlicher Fundamente anklagt, muß mindestens Mitwisser gewesen sein, und natürlich wissen nicht nur Insider, daß der Lange Marsch durch die Institutionen als größte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in den modernen Dienstleistungsannalen erfolgte, bis zur „Wiedervereinigung“ der kostspieligste und fragwürdigste Integrationsversuch unserer Geschichte. Ein Grund zum Feiern ist das nicht wirklich, aber eine prima Gelegenheit, sich die Generalabsolution selbst zu erteilen. Versteht sich, daß die Weihrauchschwenker und Blümchenstreuerinnen unsere Enkel sein könnten, wenngleich die meinen nicht.
                                                                       

 


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