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Wir wunden Kinder (3)

Ein Statement von Uve Schmidt

Mit 17 hat man noch Träume, auch Allmachtsphantasien, deren Umsetzung in Amokläufe zeittypisch ist, aber kein kriminelles Brauchtum werden wird wie das Rowdytum auf unseren Bürgersteigen und Autobahnen. Da ich (*1939) niemals Tagebuch führte, kann ich nicht nachschlagen, welche Unsterne und Erleuchtungen mich leiteten. Susan Sontag (*1933) notierte als Vierzehnjährige: „Ich glaube, daß es keinen Gott gibt und kein Leben nach dem Tode, daß es das Allerwichtigste ist, die Freiheit zu haben, um zu  sich selbst ehrlich zu sein, und daß der einzige Unterschied zwischen Menschen ihre Intelligenz ist.“ Das alles glaube auch ich, mit der Einschränkung, bzw. Erweiterung, daß ich an das Bestehen einer göttlichen Weltordnung glaube, welche wir weitgehend entschlüsselt haben, aber nicht hinreichend kontrollieren können und niemals beherrschen werden. Daraus folgt, daß ich ebenso gut an Gott glauben kann, daß ich auch in Unfreiheit wahrhaft zu mir finde und stehe, und daß trotz der Anerkennung menschlicher Intelligenz als dem einzigen elementaren Unterschied zu Tieren, Geistwesen oder anderen Menschen ich den mir überlegenen Kräften roher Gewalt unterworfen bleibe: Der Natur als Ursprung geophysikalischer Katastrophen und menschlicher bzw. kreatürlicher Bösartigkeit.
Susan Sontag starb betagt und berühmt, indes hat ihre Intelligenz sie weder vor menschlichen Enttäuschungen, noch vor fachlichen Fehleinschätzungen bewahrt, und so muß man in Würdigung ihrer überragenden Lebensleistung sagen: Ohne Glück geht garnix! Als Vierzehnjähriger schrieb ich in einem Schulaufsatz zum Thema  Mein schönstes Ferienerlebnis: „Wer sich in den vergangenen Wochen gelangweilt hat oder rabotten mußte, könnte diesen Aufsatz mit einem sehr kurzen Geständnis beginnen und beenden: Ich hatte leider überhaupt keine schönen Ferien. Und wenn der Arme trotzdem etwas Schönes erlebt hat, könnte er sich fragen: Gehört das denn zu den Ferien, kann mir das nicht auch an einem Schultag passieren?  Und was heißt schon schön und was ist schöner – die siegreiche Teilnahme an der grossen Ernteschlacht in der Börde oder das nächtliche Rendezvous im Heu?“ Ich erinnere mich noch genau, daß ich mir die Schreibung von Rendezvous vom aufsichtführenden Lehrer (der nicht Deutschlehrer war) buchstabieren ließ und ungern erinnere ich das Buhei bei der Rückgabe der Aufsätze: Ich erhielt nicht nur meine erste und einzige 5 in Deutsch, sondern auch eine nachhaltige Standpauke in Stilistik und sozialistischer Moral. Womit ich nicht beantrage, Fräulein Sontag via Zeitmaschine in der DDR-Provinz und mich in New York großwerden zu lassen, denn es hätten auch andere Eltern, Nationalbezüge und Geschichtsverläufe gegeben sein müssen. Und wahrscheinlich hätte ich auch unter anderen Umständen keine Sontagskindkarriere gemacht, denn als Susan bereits eine kleine Schriftstellerin und profunde Nachdenkerin war, schrieb ich aus eigenem Antrieb noch keine Zeile, sondern zeichnete Obszönes und dachte überwiegend nur an das Eine sowie an die Möglichkeiten, den mir zugedachten bürgerlichen Lebensentwurf in eine bequeme und libertine Laufbahn zu lenken, mehrspurig und irgendwie endlos, und während Susan den Pulitzerpreis anpeilte, träumte ich in Westberlin davon, an einem warmen Frühlingstage in meine Vaterstadt einzureiten unter dem Gedröhn eines elektronischen Bandwaggons und dem Jubel tausender Ehrenjungfrauen auf einem kreideweißen Schimmel vom Bahnhof zum Marktplatz, wo man mir die Stadtschlüssel überreicht und alsdann meine Ausrufung des „Deutschen Himmelreiches auf Erden“ freudetrunken akklamiert…

Im Wachzustand bewegte mich die Idee, der notorisch devisenklammen DDR die Lutherstadt Wittenberg als grosses Museumsdorf aufzuschwatzen, begrenzt von den reformationsgeschichtlichen Stadtmauern, innerhalb derer eine Sonderwirtschaftszone mit dem Standard der Lutherzeit zum weltweiten protestantischen Pilgerziel und – per Kostümwechsel – zum Mittelaltertrip für Kulturtouristen einlädt, natürlich unter vollständiger Zivilisationskontrolle: Keine zugeschissenen Gassen, keine Wanderratten, keine Beulenpest, aber auch keine Autos und Glühbirnen. Eine derart historistische Oase auf historischem Boden perfekt zu entwerfen und schrittweise zu realisieren ist eine Sache, eine andere wäre gewesen, von der Machbarkeit und dem Erfolg eines solchen Vorhabens überzeugt zu sein. Ich war es nicht, obwohl ich das Ganze für machbar und in jeder Hinsicht erfolgversprechend hielt, doch ich kannte meine deutschen Pappenheimer, ohne die nichts zu machen gewesen wäre: Die protestantischen Oberen und ihre biedere bis erzreaktionäre Basis sowie deren kommunistische Obrigkeiten, die zwar den ökonomischen und propagandistischen Nutzen sahen, aber in der Furcht lebten, mit jeder Öffnung zum Westen den Staat zu destabilisieren; meine dem weißen Paradeross folgende Geschäftsidee mußte sie an das Trojanische Pferd erinnern. Womit wir an einem Punkte sind, der nicht nur Männer und Frauen, Juden und Christen, Preußen und Ostmärker scheidet: Die intellektuelle Redlichkeit nachdenklicher Deutscher. Wir wunden Kinder waren alles andere als unbefangen und keineswegs eingeschüchtert, über Recht und Moral hatten wir nur wenig abweichende Meinungen, denn bevor die erwachsenen Bezugspersonen (Mütter, Großeltern und Väterdarsteller) uns ihre wackeligen Weltsichten anvertrauten, verwiesen sie auf bewährte Kinderbücher und Jungenliteratur, auf christliche Hausschätze und das klassische Erbe, primär auf jene Dichter & Denker, die von Hitler schwerlich „mißbraucht“ worden waren. Und weil ich 1945 wegen Überfüllung nicht eingeschult wurde (die meisten Schulen dienten als Hilfslazarette für Zivilisten), lernte ich daheim lesen mittels alt-neuer Fibeln und Erbauungsbüchern antifaschistischer Imprimatur.
Da sich sehr früh meine bildnerische Begabung manifestierte, war klar, daß ich „Kunstprofessor“ werden würde, mitnichten Politiker. Gleichwohl wehrte ich die Versuchung nicht ab, es mit der Politik als Wissenschaft der Ungelernten zu probieren, etwa als eines Feldherrn tapferster Trommeljunge oder Kurier der Zarin, entschieden abenteuerlicher als der Versuch des jungen CDU-Stadtverordneten Michel Friedman, sich beim damaligen Frankfurter Oberbürgermeister eine Assistentenstelle einzurichten, quasi als OB-Lehrling mit Option auf das Amt. In dem Frankfurter Bilder- und Lesebuch Es muß anders werden (Hrsg. Henner Drescher 1998) heißt es in meinem Beitrag: „Als ich selbst wählbar geworden war, verlegte ich mich lieber aufs Heiraten, statt einer etablierten Partei mein Jawort zu geben. Nach diversen Verlöbnissen hatte ich herausgefunden, daß ich überhaupt keiner demokratischen Partei ein politisches Kind machen könnte, geschweige den angeheirateten Kindern mehr Mumm oder bessere Tischsitten beizubringen vermochte.“ Diese Erkenntnis dürfte sinngemäß unter meinesgleichen nicht selten gewesen sein, indes hörte man sie so nicht, und andererseits wußte man, daß zwei Drittel aller einfachen Parteimitglieder ihre Zugehörigkeit verschwiegen, sogar gegenüber nahen Verwandten und engen Freunden. Während in der DDR davon ausgegangen werden konnte, daß vom Brigadier und der Abteilungsleiterin aufwärts die SED-Mitgliedschaft eine Folge oder die Voraussetzung für leitende Laufbahnen war, erfuhr man hierzulande eher zufällig davon, welche Rolle Parteibücher fürs Fortkommen spielen, und natürlich war es immer eine zweischneidige Sache für die Parteien selbst: Weder wollte man den Anteil der Opportunisten überproportional zulassen, noch sollten zu viele intellektuelle Eiferer in der Partei mitwirken. Ergo blieb bloß, die Revolution zu machen. Daß daraus nix geworden ist, liegt vor allem daran, daß kaum ein regulärer Arbeitnehmer bereit war, sich aktiv zu beteiligen – weshalb auch?

Während unsere Eltern sich mehrheitlich der Politik verweigerten und ihre folgsamen Kinder sich enthielten, entstand ein riesiges Potential politischer Arbeitskräfte in den Arbeitsuchenden aller Schichten, primär junge Erwachsene, welche nicht bereit oder imstande waren, ein Kernforschungszentrum oder eine Imbißbude zu betreiben, wohl aber „etwas mit Menschen zu machen“, d.h. Sozialarbeit zu lernen oder auf elektronisch gestützte Art und Weise Dienstleistungen zu erbringen, welche bereits ihre Urahnen verrichtet hatten. Wer die minderqualifizierten Lebenszeitverkäufer für Opfer der Reproletarisierung hält, irrt: Diese Leute wurden ins Technische Zeitalter hineingeboren als Urenkel von Kutschern und Mägden, Nachtwächtern und Wäscherinnen, doch im Gegensatz zu ihren Vorfahren können sie weder ihre Stiefel flicken, noch Kleinvieh schlachten etc., archaische Fertigkeiten, auf welche sich die meisten Immigranten durchaus verstehen. Diesen Vierten Stand hat das hochmoderne Deutschland nie wirklich integrieren können, gleichzeitig aber als Konsumentel und Wählerschaft derart hofiert (d.h. verzogen), daß die neoplebejische Unkultur als Entkrampfung und „fröhlicher Volksstolz“ begrüßt  und gefördert wird. Bedenkt man ferner, daß zwei Drittel dieser Jobs durch englische Etikettierungen verkleidet werden, ergo eine soziologische Verschleierung  stattfindet, und daß der nicht anders zu nennende gewaltige Überschuß an unverlangten Einwanderern niemals freiwillig heimkehrt, dann wird deutlich, was für eine politische Manövriermasse auf Europa, zentral auf uns lastet. Kein schöner Bild in dieser Zeit als der Einsturz des Kölner Stadtarchivs, die gleichzeitige Beerdigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft infolge säkularen Gottvertrauens und neuerungswütiger Metropolität. Die Vorstellung, wie sich das Desaster als Dominoeffekt fortsetzt, den Dom und die Rheinbrücken ergreifend durch die westdeutschen Weinkellereien bis ins U-Bahnnetz zu Frankfurt am Main usf., immer auf der Spur des großdeutschen Luftschutzkellerverbundsystems und der diversen Bernsteinzimmerverstecke recte Stollen, Höhlen, Schächte, Grüfte und Gräber seit der Hermannsschlacht – na, das wäre doch die Lösung! Wir wunden Kinder kennen das Gelände und die vorausgehenden Vibrationen, nur werden die wenigsten von uns davor warnen. Es sei hiermit geschehen…

Abendlanddämmerung
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