Schiffsmeldungen
Nachrichten, Gerüchte, Ideen,
Leute & Jobs
aus der Verlagswelt,
Fachpresse & Handel
Links
Bücher-Charts
l
Verlage A-Z
Medien- & Literatur
l
Museen im Internet
Rubriken
Belletristik -
50 Rezensionen
Romane, Erzählungen, Novellen & Lyrik
Quellen
Biographien, Briefe & Tagebücher
Geschichte
Epochen, Menschen,
Phänomene
Politik
Theorie, Praxis & Debatten
Ideen
Philosophie & Religion
Kunst
Ausstellungen, Bild- & Fotobände
Tonträger
Hörbücher & O-Töne
SF & Fantasy
Elfen, Orcs & fremde Welten
Sprechblasen
Comics mit Niveau
Autoren
Porträts, Jahrestage & Nachrufe
Verlage
Nachrichten, Geschichten & Klatsch
Film
Neu im Kino
Wir empfehlen:



Andere
Seiten
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms
Virtuelle Texbaustelle
Alf Poier
Genie & Wahnsinn
Reiner Stachs
Franz Kafka
counterpunch
»We've
got all the right enemies.«
Riesensexmaschine
Nicht, was Sie denken?!
texxxt.de
Community für erotische Geschichten
Wen's interessiert
Rainald Goetz-Blog |
Wir wunden Kinder (3)
Ein Statement von Uve Schmidt
Mit 17 hat man
noch Träume, auch Allmachtsphantasien, deren Umsetzung in Amokläufe
zeittypisch ist, aber kein kriminelles Brauchtum werden wird wie das
Rowdytum auf unseren Bürgersteigen und Autobahnen. Da ich (*1939) niemals
Tagebuch führte, kann ich nicht nachschlagen, welche Unsterne und
Erleuchtungen mich leiteten. Susan Sontag (*1933) notierte als
Vierzehnjährige: „Ich glaube, daß es keinen Gott gibt und kein Leben nach
dem Tode, daß es das Allerwichtigste ist, die Freiheit zu haben, um zu sich
selbst ehrlich zu sein, und daß der einzige Unterschied zwischen Menschen
ihre Intelligenz ist.“ Das alles glaube auch ich, mit der Einschränkung,
bzw. Erweiterung, daß ich an das Bestehen einer göttlichen Weltordnung
glaube, welche wir weitgehend entschlüsselt haben, aber nicht hinreichend
kontrollieren können und niemals beherrschen werden. Daraus folgt, daß ich
ebenso gut an Gott glauben kann, daß ich auch in Unfreiheit wahrhaft zu mir
finde und stehe, und daß trotz der Anerkennung menschlicher Intelligenz als
dem einzigen elementaren Unterschied zu Tieren, Geistwesen oder anderen
Menschen ich den mir überlegenen Kräften roher Gewalt unterworfen bleibe:
Der Natur als Ursprung geophysikalischer Katastrophen und menschlicher bzw.
kreatürlicher Bösartigkeit.
Susan Sontag starb betagt und berühmt, indes hat ihre Intelligenz sie weder
vor menschlichen Enttäuschungen, noch vor fachlichen Fehleinschätzungen
bewahrt, und so muß man in Würdigung ihrer überragenden Lebensleistung
sagen: Ohne Glück geht garnix! Als Vierzehnjähriger schrieb ich in einem
Schulaufsatz zum Thema Mein schönstes Ferienerlebnis: „Wer sich in
den vergangenen Wochen gelangweilt hat oder rabotten mußte, könnte diesen
Aufsatz mit einem sehr kurzen Geständnis beginnen und beenden: Ich hatte
leider überhaupt keine schönen Ferien. Und wenn der Arme trotzdem etwas
Schönes erlebt hat, könnte er sich fragen: Gehört das denn zu den Ferien,
kann mir das nicht auch an einem Schultag passieren? Und was heißt schon
schön und was ist schöner – die siegreiche Teilnahme an der grossen
Ernteschlacht in der Börde oder das nächtliche Rendezvous im Heu?“ Ich
erinnere mich noch genau, daß ich mir die Schreibung von Rendezvous
vom aufsichtführenden Lehrer (der nicht Deutschlehrer war) buchstabieren
ließ und ungern erinnere ich das Buhei bei der Rückgabe der Aufsätze: Ich
erhielt nicht nur meine erste und einzige 5 in Deutsch, sondern auch eine
nachhaltige Standpauke in Stilistik und sozialistischer Moral. Womit
ich nicht beantrage, Fräulein Sontag via Zeitmaschine in der DDR-Provinz und
mich in New York großwerden zu lassen, denn es hätten auch andere Eltern,
Nationalbezüge und Geschichtsverläufe gegeben sein müssen. Und
wahrscheinlich hätte ich auch unter anderen Umständen keine
Sontagskindkarriere gemacht, denn als Susan bereits eine kleine
Schriftstellerin und profunde Nachdenkerin war, schrieb ich aus eigenem
Antrieb noch keine Zeile, sondern zeichnete Obszönes und dachte überwiegend
nur an das Eine sowie an die Möglichkeiten, den mir zugedachten bürgerlichen
Lebensentwurf in eine bequeme und libertine Laufbahn zu lenken, mehrspurig
und irgendwie endlos, und während Susan den Pulitzerpreis anpeilte, träumte
ich in Westberlin davon, an einem warmen Frühlingstage in meine Vaterstadt
einzureiten unter dem Gedröhn eines elektronischen Bandwaggons und dem Jubel
tausender Ehrenjungfrauen auf einem kreideweißen Schimmel vom Bahnhof zum
Marktplatz, wo man mir die Stadtschlüssel überreicht und alsdann meine
Ausrufung des „Deutschen Himmelreiches auf Erden“ freudetrunken akklamiert…
Im Wachzustand bewegte mich die Idee, der notorisch devisenklammen DDR die
Lutherstadt Wittenberg als grosses Museumsdorf aufzuschwatzen, begrenzt von
den reformationsgeschichtlichen Stadtmauern, innerhalb derer eine
Sonderwirtschaftszone mit dem Standard der Lutherzeit zum weltweiten
protestantischen Pilgerziel und – per Kostümwechsel – zum Mittelaltertrip
für Kulturtouristen einlädt, natürlich unter vollständiger
Zivilisationskontrolle: Keine zugeschissenen Gassen, keine Wanderratten,
keine Beulenpest, aber auch keine Autos und Glühbirnen. Eine derart
historistische Oase auf historischem Boden perfekt zu entwerfen und
schrittweise zu realisieren ist eine Sache, eine andere wäre gewesen, von
der Machbarkeit und dem Erfolg eines solchen Vorhabens überzeugt zu sein.
Ich war es nicht, obwohl ich das Ganze für machbar und in jeder Hinsicht
erfolgversprechend hielt, doch ich kannte meine deutschen Pappenheimer, ohne
die nichts zu machen gewesen wäre: Die protestantischen Oberen und ihre
biedere bis erzreaktionäre Basis sowie deren kommunistische Obrigkeiten, die
zwar den ökonomischen und propagandistischen Nutzen sahen, aber in der
Furcht lebten, mit jeder Öffnung zum Westen den Staat zu destabilisieren;
meine dem weißen Paradeross folgende Geschäftsidee mußte sie an das
Trojanische Pferd erinnern. Womit wir an einem Punkte sind, der nicht nur
Männer und Frauen, Juden und Christen, Preußen und Ostmärker scheidet: Die
intellektuelle Redlichkeit nachdenklicher Deutscher. Wir wunden Kinder waren
alles andere als unbefangen und keineswegs eingeschüchtert, über Recht und
Moral hatten wir nur wenig abweichende Meinungen, denn bevor die erwachsenen
Bezugspersonen (Mütter, Großeltern und Väterdarsteller) uns ihre wackeligen
Weltsichten anvertrauten, verwiesen sie auf bewährte Kinderbücher und
Jungenliteratur, auf christliche Hausschätze und das klassische Erbe,
primär auf jene Dichter & Denker, die von Hitler schwerlich „mißbraucht“
worden waren. Und weil ich 1945 wegen Überfüllung nicht eingeschult wurde
(die meisten Schulen dienten als Hilfslazarette für Zivilisten), lernte ich
daheim lesen mittels alt-neuer Fibeln und Erbauungsbüchern
antifaschistischer Imprimatur.
Da sich sehr früh meine bildnerische Begabung manifestierte, war klar, daß
ich „Kunstprofessor“ werden würde, mitnichten Politiker. Gleichwohl wehrte
ich die Versuchung nicht ab, es mit der Politik als Wissenschaft der
Ungelernten zu probieren, etwa als eines Feldherrn tapferster
Trommeljunge oder Kurier der Zarin, entschieden abenteuerlicher als der
Versuch des jungen CDU-Stadtverordneten Michel Friedman, sich beim damaligen
Frankfurter Oberbürgermeister eine Assistentenstelle einzurichten, quasi als
OB-Lehrling mit Option auf das Amt. In dem Frankfurter Bilder- und Lesebuch
Es muß anders werden (Hrsg. Henner Drescher 1998) heißt es in meinem
Beitrag: „Als ich selbst wählbar geworden war, verlegte ich mich lieber aufs
Heiraten, statt einer etablierten Partei mein Jawort zu geben. Nach diversen
Verlöbnissen hatte ich herausgefunden, daß ich überhaupt keiner
demokratischen Partei ein politisches Kind machen könnte, geschweige den
angeheirateten Kindern mehr Mumm oder bessere Tischsitten beizubringen
vermochte.“ Diese Erkenntnis dürfte sinngemäß unter meinesgleichen nicht
selten gewesen sein, indes hörte man sie so nicht, und andererseits wußte
man, daß zwei Drittel aller einfachen Parteimitglieder ihre Zugehörigkeit
verschwiegen, sogar gegenüber nahen Verwandten und engen Freunden. Während
in der DDR davon ausgegangen werden konnte, daß vom Brigadier und der
Abteilungsleiterin aufwärts die SED-Mitgliedschaft eine Folge oder die
Voraussetzung für leitende Laufbahnen war, erfuhr man hierzulande eher
zufällig davon, welche Rolle Parteibücher fürs Fortkommen spielen, und
natürlich war es immer eine zweischneidige Sache für die Parteien selbst:
Weder wollte man den Anteil der Opportunisten überproportional zulassen,
noch sollten zu viele intellektuelle Eiferer in der Partei mitwirken. Ergo
blieb bloß, die Revolution zu machen. Daß daraus nix geworden ist, liegt vor
allem daran, daß kaum ein regulärer Arbeitnehmer bereit war, sich aktiv zu
beteiligen – weshalb auch?
Während unsere Eltern
sich mehrheitlich der Politik verweigerten und ihre folgsamen Kinder sich
enthielten, entstand ein riesiges Potential politischer Arbeitskräfte in den
Arbeitsuchenden aller Schichten, primär junge Erwachsene, welche nicht
bereit oder imstande waren, ein Kernforschungszentrum oder eine Imbißbude zu
betreiben, wohl aber „etwas mit Menschen zu machen“, d.h. Sozialarbeit zu
lernen oder auf elektronisch gestützte Art und Weise Dienstleistungen zu
erbringen, welche bereits ihre Urahnen verrichtet hatten. Wer die
minderqualifizierten Lebenszeitverkäufer für Opfer der Reproletarisierung
hält, irrt: Diese Leute wurden ins Technische Zeitalter hineingeboren als
Urenkel von Kutschern und Mägden, Nachtwächtern und Wäscherinnen, doch im
Gegensatz zu ihren Vorfahren können sie weder ihre Stiefel flicken, noch
Kleinvieh schlachten etc., archaische Fertigkeiten, auf welche sich die
meisten Immigranten durchaus verstehen. Diesen Vierten Stand hat das
hochmoderne Deutschland nie wirklich integrieren können, gleichzeitig aber
als Konsumentel und Wählerschaft derart hofiert (d.h. verzogen), daß die
neoplebejische Unkultur als Entkrampfung und „fröhlicher Volksstolz“
begrüßt und gefördert wird. Bedenkt man ferner, daß zwei Drittel dieser
Jobs durch englische Etikettierungen verkleidet werden, ergo eine
soziologische Verschleierung stattfindet, und daß der nicht anders zu
nennende gewaltige Überschuß an unverlangten Einwanderern niemals freiwillig
heimkehrt, dann wird deutlich, was für eine politische Manövriermasse auf
Europa, zentral auf uns lastet. Kein schöner Bild in dieser Zeit
als der Einsturz des Kölner Stadtarchivs, die gleichzeitige Beerdigung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft infolge säkularen Gottvertrauens und
neuerungswütiger Metropolität. Die Vorstellung, wie sich das Desaster als
Dominoeffekt fortsetzt, den Dom und die Rheinbrücken ergreifend durch die
westdeutschen Weinkellereien bis ins U-Bahnnetz zu Frankfurt am Main usf.,
immer auf der Spur des großdeutschen Luftschutzkellerverbundsystems und der
diversen Bernsteinzimmerverstecke recte Stollen, Höhlen, Schächte, Grüfte
und Gräber seit der Hermannsschlacht – na, das wäre doch die Lösung! Wir
wunden Kinder kennen das Gelände und die vorausgehenden Vibrationen, nur
werden die wenigsten von uns davor warnen. Es sei hiermit geschehen…
|
Abendlanddämmerung
Alle Träume auf einen Blick
|