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Foto: Barbara Niggl
Radloff
Könnt ich Magie
von meinem Pfad entfernen,
Die Magie von
jenem Pfad entfernen, auf dem man sich irrtümlich befindet; die Zaubersprüche
verlernen, um wirklich Mensch zu werden: Hannah Arendt hat wohlüberlegt Goethes
Vers als Motto für den letzten Teil ihrer Trilogie Vom Leben des Geistes
ausgesucht, denn es trifft exakt den Kern ihrer eigenen Politischen Theorie, die
um die Bedingungen der Möglichkeit einer humanen Gesellschaft kreist und das
»Faktum menschlicher Pluralität« fokussiert.
Mit Arendts
Kritik am Mensch der Moderne geht eine Kritik an der modernen Gesellschaft
einher, die allenthalben noch das reine Funktionieren goutiere. Gerade
Anforderungen dieser Art aber beraubten den Mensch seiner Fähigkeit, eine Sache
auch vom Standpunkt eines Anderen zu betrachten; es beraube ihn der Fähigkeit,
sich die Folgen seines Tuns überhaupt vorstellen zu können. So kannte Eichmann
bloß noch den »Kadavergehorsam«, das unhinterfragte Ausführen von Befehlen,
gleich, wie absurd und bestialisch diese auch sein mochten.
Diesen
Weg des Neubeginns hat sie, so Marie Luise Knott, freie Publizistin in Berlin
und ehemalige Chefredakteurin der deutschen Le Monde diplomatique, in
ihrem überaus klugen Buch zu Hannah Arendts Denkwegen, selber eingeschlagen. In
Knotts Buch geht es um die verschiedenen, doch im politischen Kontext
miteinander verwobenen Denkwege, »darum, wie und warum« Arendt einem bestimmten
Begriff, »dessen tradierte Vorstellung in der Gegenwart nicht mehr trug, eine
neue Gegenwart schuf.« Arendt spricht von »gefrorenen Gedanken«, die das Denken
auftauen müsse. Knott veranschaulicht Arendts Auftauversuche, das heißt ihre
Neuerfindung sinngeronnener Begriffe anhand von vier Kapiteln über das Lachen,
das Übersetzen, das Verzeihen und das Dramatisieren. Sie
erläutert: »Kein Maler steht, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze es
einmal formulierte, vor einer weißen Leinwand. Kein Autor sitzt einfach vor
einem weißen Blatt. Tatsächlich ist die Fläche, wenn der moderne Künstler vor
sie tritt, voller überkommener Bilder, so dass er die Leinwand seiner
Imagination erst einmal leeren, »reinigen« muss, um selbst ein Bild zu
entwerfen. Deleuze beschreibt diese Arbeit als einen »verzweifelten Kampf«, der
mitunter Jahre oder Jahrzehnte dauere. Einen solchen »verzweifelten Kampf« hat
auch Hannah Arendt geführt.« Radikal geht Arendt diesen Weg im Eichmann-Buch. Darin heißt es: »In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch.« Etwa dann, wenn er sich auf Kants kategorischen Imperativ beruft und ihn sich, so Arendt, »für den Hausgebrauch des kleinen Mannes« zurechtbiegt. Komisch muss Eichmann auf Arendt aber auch deshalb gewirkt haben, weil er sich in einem Umfeld artikulierte, das ihm völlig fremd war: Das Ethos eines »SS-Obersturmbannführers« und Leiter des »Referats für Juden- und Räumungsangelegenheiten« war das israelische Gericht eben nicht, im Gegenteil musste er sich zum ersten Mal in seinem Leben rechtfertigen. Das war mehr als ungewohnt für einen, der nie selber gedacht hat. Wenn Knott Arendts noch immer umstrittenes Eichmann-Buch verteidigt und hierbei auf ihre Ironie und das Lachen, das in diesem Buch stecke, zu sprechen kommt, so scheinen darin immer wieder indirekt auch Henri Bergsons Reflexionen aus dem im Jahre 1900 erschienenen Buch Le rire. Essai sur la signification du comique auf. Darin definierte Bergson das Lachen als Angriff auf Stereotypenbildung unseres Verhaltens. Wenn wir uns durch Isolierung in einer zwanghaft gelenkten Kollektivität einander gleich geworden sind und uns kein Raum mehr für Individualität und Freiheit bleibt, werden wir zu solchen Stereotypen. So wirke ein Mensch genau dann komisch, wenn er sich in eine Sache verwandelt habe oder wie eine Sache funktioniere. Bergson bemerkte ferner, das Komische brauche etwas, das er die »Anästhesie des Herzens«, sprich: Gefühllosigkeit, nannte. Beide Aspekte wird Hannah Arendt in Eichmann wiederfinden: Die Verwandlung der Person in eine Sache sowie die Gefühllosigkeit, die Unfähigkeit, sich in die Welt eines Anderen hineinversetzen zu können.
Wenn
wir uns mit Bergson nun fragen, worüber wir eigentlich lachen, so ist die recht
triviale Antwort: Über das Komische. Aber was ist das? Komisch ist nach Bergson
vor allem ein mechanisch-sinnloser Ablauf von Bewegungen und Handlungen. Fehlt
dem Menschen die nötige Aufmerksamkeit oder Flexibilität, dann kommt es, so
Bergson, entweder zur Krankheit (physisches Fehlen von Geschmeidigkeit), zur
Torheit (fehlender Verstand/Vernunft) oder gar zum Verbrechen (wenn die
entsprechende moralische Gesinnung fehlt).
Begeben wir uns mit Knott auf Arendts
Denkwege, so zeigt sich, dass die jüdische Philosophin zahlreiche
Denktraditionen und -wege vom Gestrüpp, das auf ihnen wucherte, befreit und
nicht selten einen verstörenden Perspektivenwechsel gewagt hat. Die
Geistestätigkeit, so Arendt, sei als solche durch einen Rückzug von der Welt der
Erscheinungen gekennzeichnet. Der menschliche Geist vergegenwärtige, was die
Sinne auf Grund mangelnder Synthesisleistung nicht vergegenwärtigen könnten: Der
Geist stellt (sich) die Dinge vor. Diese Vor-Stellung nennt Arendt mit Kant auch
»Einbildungskraft«. Es ist das Vermögen der Anschauungen auch ohne die
Anwesenheit des Reflexionsobjektes. Damit wird Denken durch Vor-Stellen
vorrangig ein Nach-Denken, ein kritisch-reflexiver Akt. Die Vergegenwärtigung
des nicht sinnlich Gegebenen kann sich nun entweder auf das Nicht-mehr oder aber
auf das Noch-nicht des Seienden beziehen. Im ersten Fall sprechen wir von
Erinnerung (des Vergangenen), im zweiten von Antizipation. Alle geistigen Tätigkeiten sind selbstständig,
autark und un-bedingt, da die geistige Tätigkeit Ermöglichungsgrund alles
Seienden ist in dem Sinne, dass nur durch die Vor-Stellung »etwas« ist.
Die Haupteigenschaft des Geistes ist seine Unsichtbarkeit; er erscheint nicht in
Welt, sondern zeigt sich allenthalben dem denkenden, wollenden und urteilenden
Ich selbst, und zwar durch einen Akt der bewussten Reflexion auf die Welt der
Erscheinungen. Nicht Denkfähigkeit als solche steht dabei zur Disposition – denn der Mensch ist ein denkendes Wesen –, vielmehr fragt Arendt, ob das Denken und Nach-Denken uns davon abhalten könne, Böses zu tun. Sapere aude sagte Kant: Wir müssen uns unseres eigenen Verstandes bedienen, um tradierte Gedanken und Ideen zu verlernen und somit allererst das Denken erlernen zu können. Genau hierauf zielt Marie Luise Knotts Buch in der Auseinandersetzung mit der Denkerin Hannah Arendt.
Für Arendt, so
Knott, bedeutet Verlernen den Verzicht auf die üblichen Tätigkeiten des
menschlichen Alltags, es meint den Rückzug aus der Welt des Offensichtlichen,
meint Einlassen in die innere Welt der Gedanken, die für sie schlechthin die
Bedingung für das Verstehen von Sinn ist: Alles Denken ist ein Nach-Sinn-Streben
des Menschen, ein Bedürfnis der Vernunft. Denken wird für Arendt somit zur
ausgezeichneten Möglichkeit, hinter die Erscheinungen zu dringen, sie als Schein
überhaupt erst entlarven zu können. Das ist vornehmlich das Geschäft der
Philosophie: In der Geistestätigkeit des Philosophen wird alles Gegenwärtige
abwesend. Der Denkende ist im Vollzug seines Denkens mit sich allein ohne einsam
zu sein. Denn er verkehrt mit sich wie mit einem Anderen: Denken heißt, sich
selbst Gesellschaft leisten. Im Kapitel über das Übersetzen macht Marie Luise Knott auf Arendts Sprachverständnis aufmerksam: Auch die bereits beherrschte Sprache muss verlernt werden, um ihr neuen Sinn abzugewinnen. Arendt will, so Knott einleitend, einen »neuen Pakt der Sprache mit dem Leben.« Denn schließlich sprechen wir, um zu überleben, schreiben wir, um nicht zu sterben. Sprechen und Schreiben sind existenzielle Aufgaben des Menschen. Als sprachbegabtes und schreibendes Wesen, als homo loquens und homo scriptor weiß der Mensch: Was er ist, das ist er nur durch Sprache, durch ein schier unerschöpfliches System der Zeichen, der Wörter und Symbole. Die Grenzen des Sprachsystems bilden zugleich die Grenzen seines Weltverständnisses. Wer wie Hannah Arendt, die fast zwei Jahrzehnte lang Staatenlose, diese Grenzen immer wieder überschreitet, der wird sich selbst neu erfinden, ja der wird das Land hinter sich abbrechen und Grenzen überschreiben müssen. Arendt kannte beide Arten von Grenzüberschreitungen – die territoriale und die sprachliche. Und sie wusste, dass Migration die Welt ein wenig aus dem Gleichgewicht bringt: »Zu den kulturellen Leistungen, die ein Exilant in der Fremde absolvieren muss«, schreibt Knott, »gehört das schrittweise Hineingelangen in Sprache, Kultur und Politik des neuen Landes, eine Anpassungsleistung, die nicht mit Assimilation zu verwechseln ist.« Der indische Kulturtheoretiker Homi Bhabha glaubt gar, es wären die transnationalen Räume der Migranten und der Flüchtlinge sowie ihre Vorstellungswelten, die die Wiege der europäischen Kultur bilden. Das stimmt zumindest dann, wenn Kultur die Organisation der Dinge in Bewegung ist. Genau dann bilden Flüchtlinge wie Hannah Arendt das Salz der Erde, das die ansonsten so fest am Boden klebende Kultur über den Planeten verbreitet. Wer es auf sich nimmt, die gewohnte Sprache wieder zu verlernen und Grenzen zu überschreiten, dem fallen unzählige Bibliotheken entgegen; Bücher, deren Sprache zu verstehen eine große und ehrfürchtige Herausforderung bedeutet. Denn im Anfang jeder Grenzüberschreitung ist das Wort: Nomina ante res. Und es gilt hierbei zu bedenken, dass wir die Grenzen mitnehmen, die wir überschreiten, das heißt die Zäsur, den Schock, den Schnitt in unserer Biografie. Mit uns und in uns wandern die Grenzen selbst. Bezogen auf Hannah Arendt schreibt Marie Luise Knott: »Arendts Texte verausgaben sich nicht, sie entfalten sich mit jedem Wiederlesen. In dem Maße, in dem sich unsere Gegenwart von den ursprünglichen Zeitumständen und Denkanstößen entfernt … stellt sich heraus, dass Arendts Werk ganz andere neuartige Dinge zu sagen hat.« In ihrem Werk zeigt sich die Sprache, eine neu durchdachte Sprache, als das einzige Medium für die Tätigkeit des Geistes. Durch Sprache »zeigt« sich der Geist des Menschen. Sich-Zeigen ist eine Form der Selbstdarstellung: Ich entscheide, was erscheinen soll und wie ich als »Jemand« erscheinen will. Ich bringe mich durch mein Erscheinen allererst zur Geltung. In der Welt sind Sein und Erscheinen dasselbe. Mein Erscheinen in Welt setzt jedoch einen Zuschauer voraus, der mich als Erscheinenden wahrnimmt. Erinnern wir uns: Pluralität ist das Gesetz der Erde. Diesen Gedanken aus »Vita activa« aufgreifend, konstatiert sie, dass die »res cogitans«, die Sphäre des reinen Denkens, nicht erscheine, doch müssen die cogitationes, wenn sie sich in und als Sprache äußern, Hörer und Zuschauer voraussetzen: Der Mensch ist somit Wahrnehmender und Wahrgenommener zugleich, er ist erscheinend in einer erscheinenden Welt, wobei Welt das tertium comparationis des Menschseins bildet. Das Leben des Menschen hat den Drang zur Selbstdarstellung als Reaktion auf die eigene Erscheinungshaftigkeit: Alle Lebewesen haben ihren Auftritt. Das ist der Moment, den Marie Luise Knott im letzten Kapitel ihres Buches untersucht und unter dem Stichwort der Dramatisierung analysiert. Da der Mensch in einer erscheinenden Welt »haust«, sind Sinn und Bedeutung allem voran in dieser zu suchen. Die Sinnsuche des Denkens bezieht sich damit unweigerlich auf die erscheinende Welt als dem Aufenthaltsraum des Menschen. Nun wird nicht das, was ist, sondern das, was erscheint zum vorrangigen Forschungsproblem der Philosophin. Für sie ist das Sich-Zeigen-Wollen genuin menschlich. Das philosophische Problem hierbei: Der Schein gehört unleugbar zur Welt der Erscheinungen. Das Denken kann diesen Schein entlarven. Als Grund der Erscheinung erscheint es selber jedoch nicht, kann aber durch Sprache ans Licht gebracht werden. Das Denken kann kein reines Ding an sich bleiben, sondern zeigt sich als Gespräch in Welt, wenngleich der Akt des Denkens unsichtbar bleibt. Denn aus dem reinen Denken kann nur auf die Existenz der cogitationes selbst geschlossen werden. Arendt unterscheidet des Weiteren mit Kant zwischen Vernunft und Verstand. Welche Eigenschaften kommen in diesem Zusammenhang dem Verstand zu, was trennt ihn von der Vernunft? Zunächst zieht sie Thomas´ Idee eines »sensus communis« heran. Darunter versteht der Aquiner einen alle Sinne übergreifenden Sinn des Menschen. Arendt spricht vom »Kontext«, in dem uns etwas überhaupt erst erscheinen kann. Dieser Kontext sei für alle Menschen derselbe, wenn auch aus je unterschiedlicher Perspektive wahrgenommen. Sie entdeckt hier eine dreifache Gemeinsamkeit des Menschen, die sich durch Wahrnehmung, Beobachtung und Kommunikation als Kontext konstituiert. Wahrnehmung bezieht sich auf Innenweltliches, Beobachtung auf Außenweltliches, Kommunikation auf Mitweltliches. Innen-, Außen- und Mitwelt bilden das, was Arendt »Intersubjektivität« nennt. Intersubjektivität verleiht dem Gegenstand unter einer je eigenen Perspektive eine besondere Bedeutung. Diese besondere Bedeutung heißt bei ihr »Wirklichkeitsempfindung«. In diesen »Kontext« eingebettet vollziehen sich Denken und Erkenntnis, Sinnsuche und Erkenntnisstreben. Der sensus communis oder Gemeinschaftssinn ist ein »innerer Sinn« und bezieht sich im Gegensatz zur Vernunft (als Denkvermögen) auf das Erkenntnisvermögen des Menschen. Er dient dem Verstehen der Wahrnehmungen im Gegensatz zum Begreifen der Frage nach Sinn und Bedeutung des Denkvermögens. Da die Vernunft noch bei Kant die je spezifischen Verstandesleistungen bündeln musste, so wie der Verstand die Sinne bündelte, geriet sie in Antinomien und Paralogismen, weil Erkenntnis eine Sache des Verstandes, Sinn eine Sache der Vernunft war, diese Sinnsuche aber zugleich ihre eigenen Grenzen übersteigen musste. Nur weil für Kant aus diesem Grunde auch die Wahrheit und eben nicht der Sinn das letzte Kriterium der Erkenntnis war, geriet die Vernunft in Widerstreit mit sich selbst. Damit herrschte schon im Denken des Philosophen selbst ein Widerstreit zwischen gemeinem Verstand (sensus communis) und spekulativem Denken vor. Denken und Erkennen seien nicht dasselbe, meint aus diesem Grunde Hannah Arendt. Denken manifestiere sich in aller großen Philosophie, während Erkennen Wissen vermittele, Gewusstes ansammele und ordne. Erkennen schlüge sich deshalb in erster Linie in den Wissenschaften nieder, heißt es in ihrem Buch über das Denken. Für Arendt entspricht dem Erkenntnisvorgang dann auch primär das, was in der praktischen Tätigkeit unter die Sphäre des Herstellens fällt, während Vernunftdenken auf Verstehen (Handeln) ausgerichtet ist. Um es kurz zu fassen: Dem Verstand korrespondiert das Selberdenken, der Vernunft das mit sich selbst in Übereinstimmung denken.
Arendt
hat bezüglich der Sphäre des Denkens klargemacht, inwieweit wir im Denken nicht
dort sind, wo wir eigentlich sind, weil das Denken die raumzeitliche Dimension
des Menschen und dessen Erfahrungen gewissermaßen aufhebt. Heidegger nannte dies
»Seinsvergessenheit«. Der topos noetos deckt sich damit in gewisser Weise
mit dem, was schon die Griechen mit λαθε βίώσας forderten – ein Leben im
Verborgenen, das nur den »Zugwind des Denkens« (Heidegger) an sich vorübereilen
lässt. Demgegenüber besitzt das Wollen/der Wille — so der zweite Teil des
Doppelbandes Vom Leben des Geistes — weitaus mehr Freiheiten, zumal er
nicht den streng logischen Maßstäben des Denkens (Widerspruchsfreiheit etc.)
unterworfen ist. Arendt fasst den Willen zunächst – mit Aristoteles – als
Prüfstein einer freien Handlung, als Wissen um das Unterlassen und Tun-Können
von etwas. Diese Wahlfreiheit verbürgt allererst den größeren Freiheitsraum des
Wollens. Diese Erwartungshaltung des Willens ist eine, wie Arendt behauptet, neue Errungenschaft des philosophischen Denkens. So gab es ihr zufolge in der griechischen Literatur keinen äquivalenten Begriff für das, was wir als »Wille« bezeichnen. Erst mit Kant, heißt es ferner, konnte es zu einer Gleichsetzung von Wollen und Sein (Kants »guter Wille«) kommen. Damit erst habe sich dem Menschen die Zukunft eröffnet. Von nun an sei es geradezu fatalistisch und töricht gewesen, dem eigenen Willen nichts zuzutrauen, ihn wie Eichmann einschläfern zu lassen, weil man sich dadurch auch seiner eigenen Handlungsoptionen beraubte. Mag dies eingedenk aktueller neurobiologischer Theorien altmodisch klingen, doch: So sehr der Wille als Motor des Handelns betrachtet wurde, so sehr musste nach Arendt auch klar sein, dass der Willensakt sein eigenes Ende in sich trägt, und zwar genau dann, wenn das Wollen ins Tun übergehe. Denn dort, wo eine Handlung vollzogen würde, erlösche der Wille automatisch, weil er nur prospektiv orientiert sei und dementsprechend agiere. Damit aber nichte er gewissermaßen die Gegenwart.
Die Stimmung des
wollenden Ichs sei vornehmlich Ungeduld, Unruhe und Sorge. So setze nämlich der
Plan des Willens ein Ich kann voraus, das keinesfalls gesichert sei.
Unruhe sei mithin der Grund allen Seins; der Wille »lebe« in steter Anspannung.
Das Heilmittel dieser Anspannung heißt bei Arendt: Versprechen. Denn ich kann
die Sorge und Unruhe durch meine Macht, ein Versprechen zu geben, lindern, indem
ich sie in Absehbares/Voraussagbares verwandle. Hier zeigt sich umso deutlicher,
dass der Wille Zukunftsbezug hat. Mein Versprechen verhindert, dass meine
private Welt zur Hölle wird. Das Pendant des Versprechens in Bezug auf die
Vergangenheit ist das Verzeihen: »Verzeihen«, interpretiert Marie Luise Knott
Hannah Arendts Begriff, »Verzeihen … kann nur derjenige, der das Unrecht
erlitten hat. Außerdem braucht Verzeihen den Dialog, nämlich die geäußerte
Sinnesänderung von Seiten des Unrechttuenden. Und schließlich mündet Verzeihen
im »frei gehen lassen«, also darin, dem anderen die Freiheit zu seinem Neuanfang
zu gewähren.«
Für Arendt bedeutet
Urteilen Rechenschaft ablegen über das, was man denkt; es heißt, eine Brücke
zwischen Contemplation und Praxis zu schlagen und zu sagen, welche Gründe
unserer Meinung zu Grunde liegen; es bedeutet eine Pflicht zur Antwort, und
besagt, kritische Maßstäbe auch auf das eigene Denken anzuwenden.
Das Handeln ist als
einzige Tätigkeit auf Pluralität angewiesen. Es ist ein Vorrecht des Menschen,
denn Tiere handeln nicht, sie verhalten sich allenfalls. So heißt Handeln vor
allem Frei-sein (von den Zwängen unserer Umwelt). Tragisches Kennzeichen unserer
heutigen Welt aber ist gerade das uniforme und berechenbare Sich-Verhalten, das
das Handeln außer Kraft setzt; es ist die totale Bürokratie und das bloße
Verwalten sowie die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu Ungunsten der Muße
und des Miteinander-Handelns. Dieser Sichtweise hat Hannah Arendt ihr eigenes Denken zeitlebens entgegengesetzt und zu zeigen versucht, warum es der Mühe wert ist, ein Mensch zu sein. Sie hat, wie Marie Luise Knott zu Recht konstatiert, verlernt, die gemeine Sichtweise zu ihrer eigenen zu machen: »Mit den Begriffen«, schreibt Knott weiter, »die wir uns von der Welt machen, leben wir; sie ermöglichen einem Autor den Übergang von der Erschütterung zur Beobachtung und schaffen schließlich einen Raum für das Handeln — für Schreiben und Sprechen. Wie erst die Gesetze den öffentlichen Raum, das Gehege für freies politisches Handeln garantieren, so gewährleistet das begriffliche Denken den Raum … für die Urteilskraft … Neben ihrer Arbeit am begrifflichen Fundament, mit der sie im Labyrinth der Gegenwart den Ariadnefaden spann, nutzte Arendt eine besondere, ihr naheliegende Qualität der englischen Poesie: die Fähigkeit, äußerst prosaischen Worten und idiomatischen Wendungen neues Leben einzuhauchen.« Arendt entkleidet die Begriffe ihren Selbstverständlichkeiten. Das ist das ureigene Metier der Philosophen, das sie auf besonders eindrucksvolle Weise beherrscht hat. Hier schließt sich zugleich auch der Kreis von Arendts Denkwegen, die darum bemüht sind, die politischen Zaubersprüche zu verlernen.
Marie Luise Knott, deren Buch für den Preis
der Leipziger Buchmesse nominiert ist, hat diese Denkwege souverän und fast
spielerisch, anschaulich und ungewohnt leicht nachgezeichnet. Auch ohne die
wundervollen kleinen Bildgeschichten von Nanne Meyer, Professorin für Visuelle
Kommunikation in Berlin, ist »Verlernen« eine Schrift, der ich von ganzem Herzen
große Anerkennung und Öffentlichkeit wünsche; mit den Zeichnungen und
Sprachspielen der Illustratorin, die den Text auf humorvolle wie nachdenkliche
Art widerspiegeln und weiterdenken, wird »Verlernen« ein ganz besonderes Buch,
das Hannah Arendt gewiss gefallen hätte. |
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