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Comic
sprengt Unterhaltungsgrenzen
Dem Amerikaner Jason Lutes
gelingt es in seinem zweiten Berlin-Band, die Faszination des Untergangs der
ersten deutschen Republik in all seinen Facetten darzustellen. Dabei kratzt er
nicht nur an der historischen Oberfläche, sondern erforscht die Untiefen einer
Gesellschaft am Abgrund.
Endlich ist es soweit.
Fünf Jahre mussten die Comicfans darauf warten, bis Jason Lutes Berlin-Trilogie
nun mit „Berlin. Bleierne Stadt“ ihre Fortsetzung erhält. Wie schon im ersten
Band entwirft Lutes ein vielschichtiges Panorama auf die Stadt in einer Zeit
radikaler Umbrüche. Beleuchteten die ersten acht Abschnitte dieses auf 24
Kapitel angelegten epochalen Werkes den Anfang, die Krise und den beginnenden
Niedergang der Weimarer Republik aus den verschiedenen Perspektiven des
Lutes’schen Personenkarussells, stehen in den Kapiteln neun bis sechzehn,
versammelt in dem nun vorliegenden Band, der Niedergang der Weimarer Republik im
Mittelpunkt des Geschehens. Nach den Steinen der Arbeiter schwängert nun
zunehmend der Gewehrrauch der Milizen die Berliner Luft. Die Hauptstadt der
Weimarer Republik wird in Lutes Band zu jener „unwirklichen Stadt“, als die
T.S.Eliot in seinem Jahrhundertgedicht The Waste Land das London seiner
Tage beschreibt.
Die
Erzählung nimmt dabei ihren Ausgang im Berliner Blutmai 1929 und verfolgt das
Schicksal der ersten deutschen Republik bis zu dem erdrutschartigen Wahlerfolg
der Nationalsozialisten im September 1930. Der Tod Gustav Stresemanns, der
Weltbühne-Prozess gegen den Herausgeber des Berliner Wochenblattes Carl von
Ossietzky, das Ende der großen Koalition unter Hermann Müller, das Einsetzen der
Regierung Brüning und der Tod Horst Wessels bilden den historischen Kontext, vor
dem Lutes den inneren Kampf der gesammelten Linken und die gleichzeitige
Eroberung der deutschen Köpfe durch die Nationalsozialisten veranschaulicht. Im
Zentrum der Handlung stehen wieder die beiden aus der „Steinernen Stadt“
bekannten Hauptfiguren, der Journalist Kurt Severing und die Künstlerin Marthe
Müller. Während Severin als „verzweifelter Pazifist“ (Severin über Severin)
versucht, die Deutschen mit seinen Beiträgen vor dem gesellschaftlichen
Niedergang im Nationalsozialismus zu warnen und zu bewahren, verliert sich
Marthe Müller in den Verlockungen der Berliner Bar- und Kabarett-Szene und
vergisst dabei ganz, welch gesellschaftliche Tragödie sich um sie herum anbahnt.
Geschickt greift Lutes in seinem Fortsetzungsband die verschiedenen Schicksale
aus dem ersten Band seiner Trilogie auf und entwickelt sie weiter, während er
fast beiläufig noch weitere Personen und Geschichten in das von ihm geordnete
gesellschaftliche Chaos der Großstadt Berlin einfügt. In „Berlin. Bleierne
Stadt“ gleiten sie alle dahin, diese verteufelten Figuren aus Eliots Poem,
„unter dem braunen Nebel eines Wintermorgens“, wie es darin heißt. Unter den
Bradford-Millionären der High Society kommt die kulturierte (kaum kultivierte)
Schicht des Snobs, dann die kleinen Angestellten und schließlich die Niederen,
auf die die Knute der Zeit herniederfährt. Das ganze Sosostris’sche Kabinett ist
in Lutes genialem Comic versammelt und betreibt, bekämpft oder befeiert den
Niedergang der Demokratie.
Lutes ist ein wirklicher
Künstler unter den Schaffenden in der Comic-Branche. Ihm gelingt es auf
außergewöhnliche Art und Weise, seine verschiedenen Leidenschaften, Talente und
Passionen symbiotisch so zu verbinden, dass sich deren Einzelwirkung im
Zusammenspiel potenziert. Jason Lutes macht Comics auf hohem Niveau –
künstlerisch, literarisch und sachkundig. Welche Ambitionen er dabei hegt,
beweist allein die Tatsache, dass er an den acht neuen Berlin-Kapiteln ganz vier
Jahre gearbeitet hat, zwei Kapitel pro Jahr. In dieser zeit publizieren andere
mehrere Alben – die sind dann aber auch nicht von einer solchen Qualität.
Begonnen
hat Jason Lutes seine Karriere als Comicautor mit dem Band „Narren“, das
anlässlich des Luthusiasmus nun neu aufgelegt wurde. Nach seinem Designstudium
entwarf er für das Stadtmagazin der amerikanischen Autometropole Seattle The
Stranger die melancholische Geschichte des gescheiterten Magiers Ernie Weiss,
der nur noch einem Traum nachhängt, dessen Erfüllung sein Leben schon lange
nicht mehr ist. Sein Leben hält ihn und er sein Leben zum „Narren“. In
schlichten, schwermütigen Bildern erzählt Lutes in seinem Comicdebüt von Ernies
verzweifelten Versuchen, sein Dasein wieder in den Griff zu bekommen. Die
Vorlage für den gescheiterten Magier Ernie Weiss boten die Geschichten um den
mythenumrankten Entfesselungskünstler Harry Houdini, dessen bürgerlicher Name
Ehrich Weiss die Verbindung der beiden Charaktere mehr als deutlich macht. Dass
Lutes der Menschenverzauberer Houdini nie losgelassen hat, beweist der erst im
Juni erschienene Comic „Houdini“ (Carlsen-Verlag 2008), den er in Kooperation
mit dem herausragenden Zeichner Nick Bertozzi gestaltet hat. Darin macht Lutes
den dreisten Versuch, hinter die Tricks und Kulissen des „Königs der
Handschellen“ zu schauen. Zugleich wird darin die Faszination deutlich, die das
scheinbar Unmögliche in einer Zeit des technischen Fortschritts bei den Massen
auslösen konnte.
Verzauberung,
Verführung, Magie – dies sind die großen Themen, denen sich der junge Amerikaner
schreibzeichnend annähert und die sich durch sein gesamtes künstlerisches Werk
ziehen. Nicht umsonst hat er für seine Berlinhistorie die Zeitenwende der
nationalsozialistischen Verführungspolitik gewählt, der ein ganzes Volk
auferlegen ist. In faszinierend-geduldigen Sequenzen lässt er darin den
Leserbetrachter in die Seelen und Gedanken seiner Protagonisten schauen. Über
den Umweg der individuellen Geschichten macht er die innere Zerrissenheit der
untergehenden Weimarer Republik deutlich, ohne politisch-historischen Symbolen
übermäßig viel Raum geben zu müssen. So taucht in beiden Bänden nicht ein
Hakenkreuzsymbol auf, obwohl man meint, an jeder gezeichneten Hauswand eins
gesehen zu haben. Die Weimarer Verhältnisse sprechen für sich und Lutes gibt
ihnen die Möglichkeit dazu. Und damit schafft der Amerikaner mehr, als die
meisten Geschichtswälzer über die erste deutsche Republik. Dieser Comic schafft
neue Gier nach deutscher Gesellschaftsgeschichte und gehört damit zweifelsfrei
in das Curriculum eines modernen Geschichtsunterrichts.
Dabei vollzieht sich in
seinen Comics auf besondere Weise der aktive Prozess des Comiclesens. Die
„Erzählung im Panelgraben“ (Scott McCloud) entfaltet sich in Lutes’ Comics in
Perfektion. Und darin liegt sein Geheimnis, denn das Wesen des Comics liegt
zwischen den Einzelbildern, wo der Leser ausreichend Freiraum zur persönlichen
Imagination und Suggestion erhält. Lutes beherrscht diese Kunst, der Freiheit
zur persönlichen Entfaltung genügend Freiräume zu schaffen, wie kaum ein
anderer. Insbesondere in seinen stummen Sequenzen zeigt sich, wie seine
Zeichnungen und ihre rhythmische Anordnung ihre ganz eigene Geschichte erzählen.
Allein die Werke Will Eisners kommen hier in den Sinn, die kompositorisch mit
Lutes’ Comics mithalten können. Darüber hinaus gibt sich der Amerikaner keinen
überflüssigen Experimenten hin, für die das Genre seiner Kunst so verschrien
ist. Lutes vertraut den klassischen Elementen des Comics, so dass sich selbst
dem ungeübten Comicleser die Bedeutung der verwendeten verbalen Markierungen und
grafischen Zeichen ohne größere Probleme erschließt. Sein klarer, realistischer
Zeichenstil unterstützt den schnellen Zugang zur erdachten Wirklichkeit
zusätzlich.
Der Redakteur des Berliner Stadtmagazins Zitty,
Lutz Göllner, hat die von Heinrich Anders herausragend ins Deutsche übertragenen
Texte an die typische Berliner Schnauze angepasst und ließ damit dem Comic eine
einzigartige Authentizität zukommen. Ihm ist es grandios gelungen, die genialen
Dialoge an die verschiedenen Milieus ihrer comicalen Sprecher anzupassen.
Soziolektbildung, so das Fachwort, das sich hinter dieser grafisch-rhetorischen
Kunst verbirgt.
Aber zurück zu Lutes: Am
Ende des zweiten Bandes erfindet sich der Autor und Zeichner in seinem eigenen
Werk noch einmal neu. Er lässt dort seinen Journalisten Kurt Severin
stellvertretend für sich sprechen: „Die Buchstaben schwammen einzeln davon. Und
ich sitze hier und tippe immer neue – gegen den Strom.“ So hält der Journalist
Kurt Severin seinen Kampf gegen den Strom der heraufziehenden Unzeit fest, kurz
bevor der Wahlerfolg der Nationalsozialisten den zweiten Band beendet. Und so
kann weder Severin noch Lutes den Lauf der Geschichte aufhalten, dem sie beide
mit ihrem Schaffen entgegenwirken wollen – dem Niedergang der Demokratie in der
Weimarer Republik. Lutes Erzählstil ist derart engagiert, dass man meinen
könnte, er wolle selbst Einfluss auf den längst vergangenen Lauf der Dinge
nehmen.
Bleibt es, Kritik zu üben:
Lutes’ Werk als solches bietet dafür keinen Anlass. Bedauerlich ist allein die
verlegerische Strategie, „Berlin. Bleierne Stadt“ (wie schon den Vorgängerband
und die weiteren Comics des Amerikaners) als so genannte grafische Novelle (graphic
novel) in die Buchhandlungen zu bringen. Es handelt sich bei diesem Anglizimus
lediglich um eine Marketingstrategie, die eine bestimmte Klientel an Lesern
einfangen soll. Dies geht insbesondere bei einem Autor wie Lutes in doppelter
Hinsicht nach hinten los: Zum einen greift nun eine andere Leserschaft
wahrscheinlich gar nicht erst zu seinen Comics, abgeschreckt von dem
neudeutschen Buchmarktanglizismus, dessen einziger Sinn und Zweck darin besteht,
das Genre Comic aus seiner vermeintlichen Schmuddelecke zu holen. Dies
haben aber insbesondere Lutes’ Comics gar nicht nötig und damit wären wir beim
zweiten Punkt. Bisher hat sich noch immer Qualität – erst recht auf dem
Comicmarkt – durchgesetzt. Schlechte oder überambitionierte
Text-Bild-Geschichten werden schlicht nicht gekauft, auch und erst recht nicht
von der angeblich ambitionierteren Leserschaft, die durch den Euphemismus
Grafische Novelle angelockt werden soll. Schade, dass ausgerechnet der
renommierte Carlsen-Verlag, der im Comic-Bereich manch bahnbrechenden Weg
gegangen ist, dieser Logik nicht vertraut, auf der doch bisher sein
Erfolgsgeheimnis beruhte. Der werbestrategische Gesinnungswandel des
Verlagshauses vollzieht sich nun ausgerechnet zulasten derjenigen Leserschicht,
der ein hervorragend gezeichneter Grundkurs deutscher Geschichte nicht schaden
könnte. Damit schiebt der Verlag sein selbst so gehegtes Hausmedium direkt
wieder in die Ecke der angeblichen Irrelevanz.
Doch
Jason Lutes Berlin-Comic ist alles andere als das. Es ist eine geradezu
soziohistorische Studie eines Volkes am Abgrund, die attraktiver kaum sein
könnte. Er betreibt mit diesem Werk Reklame für eine ambitionierte
Gesellschaftskunde, die sich mit dem Zur-Kenntnis-Nehmen historischer Fakten
nicht zufrieden gibt. In seinem Genre hat diese Erforschung der menschlichen
Psyche in der Masse einzig Art Spiegelman in seinen legendären Maus-Comics
vollzogen. Wie er sucht Lutes zu verstehen, welche Prozesse sich in einem
Menschen vollziehen, die ihn zur Tat und/oder Untat antreiben. Die beiden
epochalen Berlin-Bände machen deutlich, dass es an beidem keineswegs mangelte
und es der sinnlosen Opfer bereits zu viele gab, bevor der nationalfaschistische
Untergang überhaupt begann. „Das dacht ich nicht, dass derart viele schon
verblichen wären“, wie Eliot angelehnt an Dantes Inferno in seiner
Göttlichen Komödie schreibt. Mit seiner Berlin-Erzählung gelingt Jason Lutes
das umfangreiche Porträt einer Stadt in Unruhe, dessen Fortsetzung man nur
herbeisehnen kann.
Thomas Hummitzsch
|
Jason Lutes
Berlin 02. Bleierne Stadt
Übersetzt von
Heinrich Anders
Carlsen-Verlag. Hamburg 2008.
214 S. 14,00 €. ISBN: 3551766762.
Leseprobe
Jason Lutes
Berlin 01. Steinerne Stadt
Übersetzt von
Heinrich Anders
Carlsen-Verlag. Hamburg 2003
213 S. 14,00 €. ISBN: 3551766746.
Jason Lutes
Narren
Carlsen-Verlag. Hamburg 2007.
144 S. 14,00 €. ISBN: 3551737827.
Jason Lutes (Autor) & Nick Bertozzi (Zeichner)
Houdini. König der Handschellen
Carlsen-Verlag. Hamburg 2008.
95 S. 12,00 €. ISBN: 3551779635.
Jason Lutes (Zeichner) & Ed Brubaker (Autor)
Herbstfall
Reprodukt-Verlag. Berlin 2004.
48 S. 10,00 €. ISBN: 3931377881.
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