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Wolfgang Kraushaars Bilanz der Achtundsechziger-Bewegung
analysiert und kommentiert
von
Gregor Keuschnig
Wolfgang Kraushaar legt mit seinem Buch "Achtundsechzig – Eine Bilanz" eine
kritische Würdigung der deutschen utopistischen Studenten- und
Gesellschaftssubkultur von ungefähr 1967 an vor. In einem ausführlichen
Prolog dokumentiert er zunächst die Wurzeln der studentischen Proteste
Mitteleuropas in der US-amerikanischen "Beat-Generation"-Bewegung ausgehend
von den Literaten Burroughs, Kerouac und Ginsberg Mitte der 50er Jahre über
die "Flower-Power"- und Hippie-Ära, die dort Mitte der 60er Jahre als
zunächst gesellschaftliche Protest- und sexueller Befreiungsbewegung und –
pauschal betrachtet - Kapitalismusverweigerung aufkam (und bereits im Herbst
1967 versandete) bis zum politisierten Anti-Vietnam-Protest und der
militanten
"Black Power"-Gruppierung
Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre.
Diese ersten rund 40 Seiten zeigen, dass der intellektuelle und studentische
Protest, der sich Ende der 60er Jahre in Deutschland (aber auch anderen
europäischen Ländern wie Frankreich und Italien) zeigte, nicht ohne
Vorgeschichte war, wobei Kraushaar nicht explizit darauf eingeht, wieviel
Inspiration importiert wurde. Der weitere Verlauf des Buches zeigt, dass es
neben dem Vietnamkrieg-Protest, einer Neudefinition des Sexuellen (stark
angelehnt an Wilhelm Reich, der zum Guru wurde) und dem später reichlich
praktizierten Drogenkonsum kaum Parallelen gab. Das oft spielerische der
amerikanischen Hippiebewegung beispielsweise war den zumeist bierernsten und
fränkischen Akteuren, die von einer protestantisch geprägten
Moralität speziell in Deutschland durchdrungen schienen, ziemlich fremd.
Wie muss man nun heute, rund vierzig Jahre nach "1968" (und dreissig Jahre
nach Ende des "Deutschen Herbsts" – der in diesem Buch nur eine
untergeordnete Rolle spielt) die Gruppierungen und Veränderungen bewerten?
Kraushaar macht am Anfang drei Deutungsmuster aus:
Erstens: Von wertkonservativen
Politikern wird behauptet, die fundamentale Kritik an Staat und
Institutionen, Familie und Rollenmustern sei ein gefährlicher Irrweg
gewesen und habe die Gesellschaft in ihrem Zusammenhang bedroht. […]
Zweitens: Von sozialdemokratischen Zeithistorikern wird erklärt, die
Achtundsechziger seinen nichts anderes als unfreiwillige Katalysatoren
einer umfassenden Modernisierung gewesen. Die meisten…Veränderungen
wären Ausdruck eines tiefgreifenden, ohnehin unabwendbaren, von ihren
Akteuren jedoch nicht intendierten Strukturwandels gewesen.
Drittens: Von Seiten einiger der ehemals wichtigsten Akteure wird nun
behauptet, dass es ihnen vor vierzig Jahren in Wahrheit um eine
nationale Revolution gegangen sei, die sich gegen die USA und die
Sowjetunion und damit gegen die westlichen wie östlichen
Besatzungsmächte gerichtet habe.
Eine "nationale"
Revolution?
Kraushaar geht am Ende des Buches auf dieses dritte Deutungsmuster
ein. Tatsächlich gibt es mit
Horst Mahler,
Bernd Rabehl und
Reinhold Oberlercher aber
auch Rainer Langhans, Manfred Lauermann und Peter Furth prominente
Achtundsechziger, die heute rechtsnationale bis faschistoide Gesinnungen
(bis hin zu Mahlers Rechtshegelianertum) hegen und dabei versuchen, die
damaligen sozialrevolutionären Aktionen umzudeuten.
So war zwar Rudi Dutschke ein Verfechter der nationalen Einheit Deutschlands
(also das, was gemeinhin Wiedervereinigung genannt wurde) als Kernziel
deutscher Politik, aber eine Umdeutung Dutschkes und/oder von
"Achtundsechzig" generell in "Nationalrevolutionäre" käme einer
Geschichtsklitterung gleich. Dutschkes deutschlandpolitische Reflexionen,
die er anfangs aus Angst vor negativen Sanktionen durch die Weggefährten
unter einem Pseudonym veröffentlichte, sah Westberlin als
"Transmissionsriemen" der Einheit. Die Wiedervereinigung, die Dutschke
vorschwebte, sollte allerdings weder unter kapitalistischen noch unter
nationalen Vorzeichen stattfinden – einzig und allein die
Arbeiterbewegung in West- und Ostdeutschland [konnte] der Akteur in dieser
Mission sein.
Ausführlich legt Kraushaar am Anfang seine Bedenken hinsichtlich der
Subsummierung "Achtundsechziger" dar. Er spricht von eigentlich untauglichen
Bezeichnungen, macht soziale Konstruktionen aus, fächert
Karl Mannheims Generationentheorien
kurz auf und spricht vom Begriff "Achtundsechziger" als nachträgliche
Überzeichnung und Marotte, die sich zwar besser für
rhetorische Gefechte eigne, aber das Phänomen allzu stark simplifiziere.
Zu Recht betont Kraushaar die Heterogenität der (sogenannten)
Achtundsechziger und weist darauf hin, dass es bestenfalls 10.000 Aktivisten
gab (und die nur in den Zeiten der höchsten Mobilisierung). Diese Einwände
benennend, bleibt er schliesslich – ein wenig überraschend, aber sicherlich
auch, um die Lesbarkeit des Buches zu gewährleisten - beim Begriff der
"Achtundsechziger".
Durch den Dschungel von Erklärungsmustern kommt der Autor zum
Ergebnis, dass es sich bei der Achtundsechzigerbewegung um eine im
Kern antiautoritäre Revolte handelte. Diese Deutung, am Anfang des
Buches vorgebracht, wird am Ende resümierend bestätigt - die eine oder
andere Facette aus der geschichtlichen Entwicklung noch hinzufügend.
Kraushaar zeichnet die Grundkonzeptionen der Achtundsechziger nach (nebst
knapper historischer Darstellung), zeigt ihre Entwicklungen und
Transformationen und rubriziert ihre Bedeutung für die Bundesrepublik (bis
heute). Er ist, wie er schreibt, bemüht, die Kakophonien…und Dissonanzen
des Erinnerns, seien sie verklärender oder auch verteufelnd,
auszublenden, was auch gut gelingt.
Gradualisten vs. Maximalisten
Als die beiden Grundtypen der Achtundsechzigerbewegung setzt
Kraushaar die Gradualisten und die Maximalisten der
Gesellschaftsveränderung. Die Gradualisten entschieden sich in ihrer
überwiegenden Mehrzahl, in eine der beiden als reformorientiert geltenden
Parteien…einzutreten und sich dort zu artikulieren, während die
Maximalisten zwischen Ausser- und Antiparlamentarismus, einige sogar
einem veritablen Antiinstitutionalismus changierten. Arg verkürzend
könnte man behaupten, dass im Laufe der Zeit die meisten Maximalisten zu
Gradualisten mutierten. Anhand von Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer
werden diese Metamorphosen wunderbar vorgeführt. Wobei Cohn-Bendit – ähnlich
dem Igel – immer schon wieder weg war, wenn (der "Hase") Joschka müde einen
weiteren Schritt Richtung Institutionalisierung machte.
Die "übriggebliebenden" Maximalisten verzettelten sich entweder in
esoterisches oder in politisches Sektierertum. Es gibt sehr kluge
Beschreibungen im Buch von den unterschiedlichen Weltfluchten, die schon im
Winter 1968/69 einsetzten – von den
K-Gruppen-Gründungen
(beispielsweise KPD/ML, KPD/AO oder dem totalitären KBW, in dem sich
besonders viele Pol Pot-Anhänger fanden) bis zur Hinwendung zu Psychosekten
wie Hare Krishna, Bhaghwan oder anderen skurrilen esoterischen Vereinigungen
(AAO; ZEGG).
Sowohl die K-Gruppen wie die Psychogruppen waren Zerfallsprodukte einer
in ihren Hauptzielen als gescheitert angesehenen Protestbewegung…In den
Politsekten kam das objektive Moment in verselbständigter Form zum
Vorschein, in den Psychosekten das subjektive. Erstere zogen aus, um die
alleinige revolutionäre Kraft, das Proletariat, wiederzuerwecken und auch
anzuführen, Letztere begaben sich auf die Suche nach dem befreiten Subjekt,
das es…freizulegen galt. Beide verlangten nach Führungsfiguren, denen
quasireligiöse Züge zugeschrieben wurden (am Rande thematisiert Kraushaar
den christlichen Glauben Dutschkes).
Das setzte sich übrigens auch im späteren Terrorismus von RAF und RZ fort
(beide nennt er terroristische Sekte[n]); exemplarisch in der Figur
des Andreas Baader, wobei eine gewisse Verblüffung ob der heute eher
rustikal wirkenden Ausstrahlung aufkommt. Kraushaar stellt bei Baader eine
Mutation vom narzisstischen Dandy in der Anfangszeit (Baader und Ensslin als
Bonny und Clyde) bis zum gescheiterten, sich selber richtenden und seinen
Tod inszenierenden Desperado am Ende.
Schnell mutierte die als antiautoritäre Revolte apostrophierte
Bewegung zum autoritären Antiautoritarismus – auch und gerade dort, wo man
sich betont "antiautoritär" gab, wie beispielsweise in den
"Kinderläden" und den
(anfangs maoistisch angelegten) "Kommunen", jenen Spielwiesen, die die
Familie als "repressiv-neurotischen Zwangsverband" sahen, die Rolle
der Eltern auslöschen und die "ödipale Grundstruktur in der bürgerlichen
Kleinfamilie" aushebeln wollten, in dem u. a. Kinder bereits frei ihre
Sexualität "ausleben" sollten.
Natürlich wettert Kraushaar in seinem Buch nicht im Abrechnungsfuror eines
Götz Aly. Dennoch macht es
Vergnügen, seine wohl dosierten (und manchmal gut versteckten) Spitzen zu
lesen. Der Eifer der Rotgardisten der chinesischen Kulturevolution diente
einigen Achtundsechzigern wie beispielsweise Peter Schneider, damals ein
glühender Verfechter, der im Buch ausführlich zitiert wird (allerdings auch
seine spätere Kehre Erwähnung findet), als Vorbild. Hinzu kamen die
Projektionen in die "Befreiungsbewegungen" Vietcong und PLO/Fatah und das,
was Richard Löwenthal seinerzeit als "romantische[n] Rückfall"
bezeichnete: eine politische, rückwärts gewandte, die "alten Affekte
einer antiliberalen und antiwestlichen Romantik" bedienende
Gegenmoderne.
Ökologie statt Sozialismus
Spätestens Ende der 70er Jahre kommt es zu einem Paradigmenwechsel
von der jahrelang betriebene[n] Kritik der politischen Ökonomie hin
zu einer radikalen und zur insgeheimen Apokalyptik neigenden Ökologie-
und Technikkritik - die Grünen wurden "geboren". War Westberlin das
Zentrum der APO und Achtundsechziger gewesen, kamen etliche Protagonisten
der "Grünen"-Bewegung aus der "Sponti"-Szene in und um Frankfurt, ohne die
es keine Grünen, die sich zunächst primär als "Anti-Atomkraft"-Bewegung
formierten, gegeben hätte.
Zunächst als primär ausserparlamentarische Opposition mit maximalistischen
Positionen (den sogenannten "Fundis"), aber später dann übernahmen die
Gradualisten – "Realos" – das Ruder und vollzogen (endgültig) den Marsch
durch die Institutionen.
Kraushaars griffige Formulierungen sind bei diesem eher als Basiswerk
konzipierten Buch naturgemäss nicht immer befriedigend. Bei genauerem
Hinsehen werden natürlich sehr wohl Parallelen zwischen den
Achtundsechzigern und den Grünen deutlich – und nicht nur dahingehend, weil
sich einige ehemalige K-Gruppen-Mitglieder dort eingerichtet hatten. So war
die Kapitalismuskritik beispielsweise bei den "Fundis" ein Kernelement
(neben der stark antiamerikanischen Ausrichtung). Und dass Technikkritik ein
grundlegendes neues Phänomen in modernen Gesellschaften war, kann auch nicht
behauptet werden. Sie war nur in der Wirtschaftswunderzeit verschüttet
gewesen. Erst später – als die "Realos" bei den Grünen dominierten – wurde
der Kapitalismus nicht mehr grundlegend in Zweifel gezogen.
In zwei wesentlichen Punkten änderten die Grünen allerdings das Bewusstsein:
Zum einen wurde der Sozialismus als gesellschaftliche Leitvorstellung
fast vollständig aufgegeben und durch eine neue, ökologische Sicht ersetzt.
Zum anderen wurde der Antiparlamentarismus der (Post-)Achtundsechziger
aufgegeben. Dieser Punkt war ein radikaler Bruch der ehemaligen "Ideale",
die sich seinerzeit nicht nur in den drei grossen "Antis" (Antikapitalismus,
Antifaschismus und Antiimperialismus) äusserten, sondern auch einem
virulenten Antiparlamentarismus das Wort redete, der schnell bei einigen
Protagonisten in Autoritarismus umschlug. Warum Kraushaar dann von der
Reintergration der Post-Achtundsechziger-Strömungen in das parlamentarische
System durch die Parteigründung der Grünen spricht, ist mindestens
verwirrend. Für manche war es – nach eher exotisch anmutenden Ausflügen in
K-Gruppen-Sekten – der erste Versuch einer zielgerichteten
Institutionalisierung.
Politische Erfolge?
Kraushaar streift Gewaltbereitschaft und Terrorismus nur am Rande,
macht ein bisschen nebulös zu Dutschke am Horizont den bewaffneten Aufstand
aus, beschreibt die latente Absage an das Vermittelnde, eine
tiefsitzende Kompromissfeindlichkeit einiger Protagonisten und analysiert
exemplarisch an Ulrike Meinhof, einer anerkannten und engagierten
linksintellektuellen Journalistin, den Übergang zur Gewalt. "Vom Protest
zum Widerstand" – so betitelte Meinhof in der Zeitschrift "konkret" im
Mai 1968 ihre Kehre. Es war – ein Irrweg.
Obwohl Kraushaar zeigt, dass die Gewaltbereitschaft am Anfang durchaus
vorhanden war (beispielsweise die Sympathie gegen für den Anschlag auf das
Springer-Hochhaus), möchte er verhindern, dass Achtundsechzig und RAF (und
RZ) synonym betrachtet werden bzw. eine Entwicklung von der APO zur RAF als
Fatum konstruiert wird. Sein Fazit fällt daher, mindestens auf politischer
Ebene, weniger negativ als ursprünglich angenommen aus. Drei
wesentliche Erfolge werden herausgearbeitet:
-
Zum einen waren die Achtundsechziger
erfolgreich in der Bewusstseinsmachung und öffentlichen Mobilisierung
der Problematik der von der Grossen Koalition beabsichtigten
Notstandsgesetze. Kraushaar attestiert –im Gegensatz zu Aly-, dass man
durch den ausserparlamentarischen Druck das Schlimmste verhindert habe
und die Regierung zu Kompromissen getrieben habe. Kraushaar schreibt
allerdings selber, dass nach der parlamentarischen Verabschiedung der
Notstandsgesetze die Gruppen, die sich hiermit intensiv
auseinandersetzten, schnell zersplitterten. Das wäre dann schon am 30.
Mai 1968 gewesen.
-
Desweiteren sieht er einen Erfolg der
Studentenrebellion in der Bekämpfung der 1968 virulent auftretenden NPD,
die seinerzeit nicht nur in vielen Landtagen eingezogen war, sondern
auch drohte, bei der Bundestagswahl 1969 über 5% zu kommen. Detailliert
behandelt er den Vorgang beim NPD-Wahlkampf 1969 in Kassel, bei dem ein
Leibwächter, der in Diensten der NPD stand, zwei Demonstranten
angeschossen hatte. Dies hatte zur Folge, dass die NPD medial in ein
schlechtes Licht kam und habe – so Kraushaars These – zum Scheitern bei
der Bundestagswahl 1969 beigetragen (es gab immerhin 4,3% der Stimmen).
Warum allerdings potentielle Anhänger der NPD ausgerechnet durch den
Studentenprotest von einer Stimmabgabe zurückgeschreckt sein sollen,
leuchtet nicht ganz ein.
-
Unbestritten bleibt: Hätte es die NPD 1969
in den Bundestag geschafft, wäre die sozial-liberale Koalition nicht
möglich gewesen. Aber Kraushaar sieht auch ein Verdienst der
Achtundsechziger darin, dass sie das politische Klima für die
SPD/FDP-Reformregierung mitgeschaffen habe. Dieser Schluss erscheint
reichlich kühn. Denn zum einen führt Kraushaar an, dass der
grosskoalitionäre Aussenminister Willy Brandt, der dann 1969
Bundeskanzler wurde, kein einziges Wort zum Vietnamkrieg der Amerikaner
gesagt hatte und zum anderen steht dagegen, dass die Achtundsechziger in
ihrer grossen Mehrheit Antiparlamentarier waren. Das Parlament galt
vielen als "Quatschbude" und Transmissionsriemen der Entscheidungen
politischer Oligarchien. In diesem ablehnenden Klima gedeiht kein
parlamentarischer Aufbruch.
Hinzu kommt: Eine SPD/FDP-Regierung war vor
der Wahl gar nicht zu prognostizieren. Die reine Addition der Sitze hätte
eine SPD/FDP-Koalition schon seit 1961 ermöglicht. Jahrzehntelang galt die
FDP aber als fester Koalitionspartner der CDU. Der Bruch der
Regierungskoalition mit der CDU 1966 und die Hinwendung der CDU zur SPD
setzte einen Reformprozess in der FDP in Gang, der Männer wie Walter Scheel
und Werner Maihofer in die Führungsgremien der Partei kommen liess. Dieser
Schwenk Scheels war in der FDP, die lange eine eher rechtsnationale Partei
war, nicht unumstritten und kostete ihr bei nachfolgenden Landtagswahlen
zunächst erhebliche Stimmen.
Die Achtundsechziger ignorierten Brandt
Die Möglichkeiten politischer Reformen durch die sozial-liberale
Koalition wurden von den Achtundsechzigern nicht erkannt, geschweige denn
wahrgenommen. Als Willy Brandt "mehr Demokratie wagen" wollte und mit der
Ostpolitik Weltfriedenspolitik versuchte, kümmerte man sich lieber um die
eigenen Orgasmus-Probleme, interpretierte die "Mao-Bibel", betrieb die
"Destruierung der Privatsphäre", feierte den neuen "Sozialismus" des
Massenmörders Pol Pot oder hegte klammheimliche Freude mit Mördern. Und
statt die Schmutzkampagnen der "Bild"-Zeitung und anderer Springer-Medien
gegen Brandt und seine Politik kritisch zu kommentieren, pflegte man lieber
die wundgewordene Revoluzzerseele (während sich andere auf den Weg machten).
Bereits vorher verweist Kraushaar auf den latenten Antisemitismus grosser
Teile der Achtundsechziger (er spricht vom Selbstbetrug der Linken, was
die Immunität in Bezug auf Antisemitismus angeht), der in der
Heroisierung der palästinensischen Befreiungsbewegungen mündete und
zeitweilig zu gewalttätigen Aktionen gegen jüdische Einrichtungen führte.
(Kraushaar hat den gescheiterten Bombenanschlag im jüdischen Gemeindehaus zu
Berlin-Charlottenburg vom 9. November 1969 [sic!] detailliert in einem
gesonderten Buch untersucht und recherchiert. Rädelsführerisch tätig war
hier mit Peter Urban allerdings ein V-Mann des Westberliner Amtes für
Verfassungsschutz.)
Seine Deutung, dass die Kinder aus dem Land der Täter nach dem
israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 nunmehr befreit
[schienen] von der ihnen offenbar lästig gewordenen Verpflichtung, wegen der
von ihren Eltern begangenen, mitgetragenen oder zumindest geduldeten
Verbrechen eine demütigende Haltung einzunehmen, kommt der Deutung Alys
zur Thematik sehr nahe. Beide sehen im Antizionismus den Antisemitismus
lauern "wie das Gewitter in der Wolke" (Jean Améry); eine These, die
irgendwann einmal genauer diskutiert werden müsste.
Milde Bilanz
In Kaushaars Bewertung im soziokulturellen Bereich der
Achtundsechziger fliessen deren illiberalen Züge durchaus ein. Der
Autor konzidiert, das eine Bewertung problematischer ausfällt, als er
dies früher bereits einmal gemacht habe. Die These von der "Aufarbeitung"
und Bewusstmachung der nationalsozialistischen Verbrechen durch die Bewegung
will er nicht ganz aufgeben – sie fällt allerdings ein wenig pflichtschuldig
aus und genauer betrachtet war sie [die Auseinandersetzung mit der
NS-Vergangenheit] eine Errungenschaft der Prä-Achtundsechziger, wobei
Kraushaar hier ein wenig kryptisch vor allem jene SDS-Mitglieder
meint, die vor dem eigentlichen Ausbruch der Revolte bereit waren, sich
der unaufgearbeiteten Vergangenheit zu stellen.... Namen fehlen – nur
ein Flugblatt von 1966 wird zitiert. Die institutionelle Aufarbeitung, die
schon eingesetzt hatte, berücksichtigt er ebenfalls nicht.
Zwar bezeichnet Kraushaar die Achtundsechzigerbewegung – Joschka Fischer
zitierend – als eine "Freiheitsrevolte". Und in dem sie den
Liberalismus als heuchlerisch denunzierte und
libertär-anarchistische Formen ausprägte, scheint dies nicht ganz
falsch. Jedoch war die Verwandlung der antiautoritären Strömungen der
Achtundsechzigerbewegung in ein Bündel verschiedener Emanzipationsbewegungen
von einer grundsätzlichen Ambivalenz gezeichnet, die ihre
subjektverändernden Errungenschaften mitunter wieder verspielte.
Und weiter dann: Die Befreiung von Herrschaft entgrenzte sich zunehmend
und büsste ihr Wozu ein. Da es den emanzipatorischen Zielsetzungen an einem
gesellschaftspolitischen Adressaten mangelte, verwandelten sie sich mehr und
mehr in reine Wunschvorstellungen und glitten so in intrapsychische
Bedürfnisvalenzen ab, die sektenartigen Psychogruppen…grossen Zulauf
bescherten. Der Glaube, "das bürgerliche Subjekt revolutionieren zu können",
ohne politisch Einfluss nehmen und zugleich die Gesellschaft verändern zu
müssen, führte zu einer Degeneration des emanzipatorischen Aufbruchs.
Als fast einzige Ausnahme macht Kraushaar die Frauenemanzipationsbewegung
aus, die dem uneingestandenen Patriarchalismus der männlichen
Achtundsechziger, welche die sexuelle Befreiung nur als Ausweitung ihrer
promiskuitiven Kampfzone definieren wollten, schnell überwanden und sich
erfolgreich gegen alle Strömungen in der Gesellschaft institutionell
verankerte.
Der vieldiskutierten Fama des Verlustes der Sekundärtugenden durch die
Achtundsechziger wird eine Veränderung bzw. Ersetzung der soziokulturellen
Werte von Pflicht, Treue, Ehre, Gehorsam, Vaterlandsliebe hin zu
Gleichheit, Kollektivität, Mitbestimmung oder soziale Gerechtigkeit
gegenüber gestellt.
"Achtundsechzig – eine Bilanz" kann als solide Grundlage für eine eingehende
und detaillierte Beschäftigung mit der Materie empfohlen werden, ist aber
auch wegen seiner kleinen Exkurse sehr lesenswert. Wunderbar beispielsweise
die kleine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses, jener "Urzelle
des Geisteslebens", die Kraushaar von der Romantik bis zur Neuzeit mit
einer gehörigen Portion Ironie skizziert. Und in der Mitte gibt es dann noch
vierzig Abbildungen, die bei einigen Zeitgenossen vielleicht dann doch
wehmütige Erinnerungen aufkommen lassen.
Gregor Keuschnig
Alle kursiv
gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
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Begleitschreiben
|
Wolfgang Kraushaar
Achtundsechzig
Eine Bilanz
Propyläen
336 Seiten
Gebunden
€ 19,90
ISBN-10: 3549073348
ISBN-13: 9783549073346 |