Der Norweger Karl Ove Knausgård ist der Mann der Stunde der weltweiten Literaturszene. In seinem sechsbändigen Roman »Min Kamp« hat er den weltweiten Lobeshymnen zufolge die eigene Biografie in radikaler und schonungsloser Weise in Kunst verwandelt. Während in Norwegen bereits alle sechs Teile vorliegen, erntet in Deutschland gerade »Träumen«, der fünfte Band, fulminante Kritiken. Was macht das Phänomen Knausgård aus? Und lohnt sich jetzt noch der Einstieg? Fragen, die den Autor bewegt haben, einen Abend mit Norwegens erfolgreichstem Literaturexport zu verbringen.
Die Skepsis ist des Kritikers bestes Instrument, denn nichts ist wirksamer, als den Kaiser in seinen neuen Kleidern als nackt bloßzustellen. Dies bemerkte auch ZEIT-Literaturchef Ijoma Mangold, der vor Knausgårds Auftritt in Berlin mit dessen Übersetzer Paul Berf über die ansteckende Wirkung der besonderen Literatur des Norwegers sprach. Das Haus der Berliner Festspiele, in dem eine von RadioEins-Moderator Thomas Böhm inszenierte Knausgård-Nacht stattfand, war bis zum letzten Platz gefüllt. Knausgård-Fans und Knausgård-Neulinge saßen Seite an Seite, um diesen Shootingstar der Literatur einmal live zu sehen. Vielleicht wollten sie aber auch nur einmal den Hype fühlen, der um den Norweger entstanden ist.
An einen Hype dachte auch Mangold, nachdem er auf Facebook bemerkt habe, dass alle Welt über dessen Romane diskutiert habe. Ein Phänomen, dass sich überall dort einstellt, wo Min Kamp erscheint. In Norwegen werden Menschen, die ihr Gespräch auf dieses Großwerk zurückführen, gar »Knausoman« genannt. Entsprechend anti-knausomanisch habe sich Mangold dem Werk angenähert. Bei Band 4 sei er eingestiegen, habe dann aber schnell die anderen Bände gelesen. Allein das lässt erkennen, dass es offenbar nie zu spät ist, in die Knausgård-Lektüre einzusteigen. »Diesem Sog konnte ich mich irgendwann nicht mehr entziehen« schrieb er in seiner Kritik über das Werk des »Entschleunigers« Knausgård, dessen Werk er die Wirkung eines Grippevirus attestiert. »Da beschreibt einer auf Hunderten von Seiten fast ohne stilistische Effekte und gänzlich ohne dramaturgische Cliffhanger den mehr oder weniger ruhigen Fluss seines unspektakulären Lebens, und die Leute können nicht genug davon kriegen.«
Eine Sogwirkung attestiert auch die Jury für den WELT-Literaturpreis den Romanen des Norwegers, weshalb er diesen Anfang November entgegennehmen kann und damit Nobelpreisanwärter Haruki Murakami sowie Jonathan Franzen, Zeruya Shalev, Claude Lanzmann, Philip Roth, Yasmina Réza, Amos Oz und Imre Kertész folgt. Er habe das »autobiografische Schreiben für die Gegenwart in radikaler Weise definiert. Schonungslos offen, provokativ, ebenso tragisch wie komisch – und bisweilen manisch« sei sein Stil. Knausgård fasse das Verhältnis von Erinnerung und erzählerischer Form »auf modellhafte Weise neu und erzeugt mit seiner ins Extrem getriebenen Selbstentblößung eine Sogwirkung, der sich kaum ein Leser entziehen kann.«

Die Lesereise des Norwegers ist durchaus etwas Besonderes, denn nachdem die sechs Teile seines Romans in seiner Heimat erschienen waren, brach Knausgårds Frau, die schwedische Lyrikerin Linda Boström, zusammen und ließ sich in die Psychiatrie einliefern. Knausgård sagte daraufhin alle öffentlichen Auftritte ab und ließ ausrichten, dass er nie mehr Interviews geben würde. Diese Ankündigung hat er inzwischen zurückgenommen, gern an die Öffentlichkeit geht er dennoch nicht. In seinem Großroman heißt es an einer stelle: »Die Gesellschaft anderer Menschen gibt mir ohnehin nichts.«
Die Anziehungskraft seines Werks mag ihre Ursache im Rausch des Schreibens haben, der zur Entstehungsgeschichte des Großromans gehört. Seinem Übersetzer Paul Berf hatte der 1968 in Oslo geborene Norweger noch vor dem Erscheinen des ersten Bandes gesagt, dass er ein sechsbändiges Romanprojekt plane, deren Einzelteile im Monatsrhythmus erscheinen sollen. Und tatsächlich sind die Bände 1-3 – hierzulande heißen sie Sterben, Lieben, Spielen und umfassen immerhin knapp 1.900 Seiten – in Norwegen im Monatsrhythmus erschienen. Band 4 und 5 – Leben und der gerade erschienene Romanteil Träumen, insgesamt 1.400 Seiten – erschienen knapp ein halbes Jahr später. Der letzte Teil, der in Deutschland voraussichtlich im nächsten Jahr auf den Markt kommen wird, erschien aufgrund des besonders großen Umfangs von noch einmal 1.400 Seiten ein weiteres Jahr später. Und so wie Knausgård manisch an diesem Projekt schrieb, ackert sich sein Übersetzer unermüdlich von Seite zu Seite. Selten konnte man den Dank eines Publikums für den Übersetzer eines Autors so konkret spüren, wie an diesem Abend.
Aber zurück zu Knausgård und seiner epischen Selbstbeschau. Was um alles in der Welt hat dieser Mittvierziger in seinem Leben erlebt, dass er es derart auswälzen müsste? Nichts Besonderes, würden wohl Knausgård-Leser sagen. Dennoch: »Die Frage, ob er sich nicht kürzer hätte fassen können, stellen nur Leute, die ihn nie gelesen haben. Es klingt verrückt, aber keiner seiner Sätze ist zu viel. Genau diese 4.000 Seiten brauchte sein Kampf«, erklärt der Schwede Mikael Krogerus, der das in seiner Deutbarkeit und Tiefgründigkeit mutmaßlich weitreichendste Porträt des Norwegers für den FREITAG geschrieben hat. Aber worum geht es nun in den sechs Bänden? Noch einmal Krogerus: »In Band 1 erzählt er vom Kampf gegen seinen Vater. Band 2 handelt vom Kampf, selbst Vater zu sein, und wie einem zwischen Familienalltag und Schreibsehnsucht die Liebe abhandenkommt. Band 3 handelt von der Hölle, ein Kind zu sein, Band 4 vom ersten Mal (auch ein ziemlicher Kampf). Band 5 erzählt von seinem Kampf, Schriftsteller zu werden, und Band 6 ist eine Art Metareflexion über seine Kämpfe und über den Preis, den er dafür zahlte. Und diese Kämpfe werden nicht lässig ironisiert oder auf Thomas-Mann-Niveau hochgejazzt, sondern hier wird mit einer hypnotisierenden Genauigkeit erzählt, was ist.«

Im Gespräch mit Berf näherten sich Mangold und Böhm dem Geheimnis dieser hypnotisierenden Literatur. Es sei eine besondere Form des Exhibitionismus, die der Norweger betreibe, so Mangold. Das ziehe die Menschen an, denn »das Ich ist immer noch Terra Incognita«, zumal dieser Großroman nicht allein von Knausgård erzähle, sondern eine ganze Menge mit dem eigenen Leben zu tun habe, erklärt er weiter. Dem stimmte Berf zu, und ergänzte, dass man an das Leben, das in Min Kamp beschrieben werde, unmittelbar anknüpfen könne. Die Identitätsbildung finde in der ruhig-rhythmischen und bildhaften Beschreibung des Unspektakulären statt, etwa wenn der Norweger auf 150 Seiten beschreibt, wie ein 15-Jähriger am Silvesterabend mit seinem Bier in den Bus gelangen will, um zu einer Party zu kommen. Oder wenn er in epischer Länge die süßliche Qual eines nicht enden wollenden Kindergeburtstags ausbreitet, fügte Mangold hinzu, und erntete vernehmliche Zustimmung der Knausgård-Fans im Publikum, die sich nicht nur an die Szene als solche, sondern auch an vergleichbare Nachmittage erinnerten (was ganz nebenbei Berfs These der besonderen Identitätsbildung bestätigte). Szenen wie diese, in denen man sich »nicht verliert wie in einem Krimi, sondern [in denen man] sich findet wie im Gespräch mit einem guten Freund«, werden in der Fanszene als Knausgård-Momente bezeichnet, liest man bei Krogerus.
Mangold kam noch auf einen zweiten Aspekt dieser besonderen Identifizierung des Lesers mit dem Autoren zu sprechen. Es gehe in den Büchern immer auch darum, »wie wir im Banalen und Alltäglichen gefangen sind« sowie um den Kampf, zu einem größeren Leben« durchzudringen. Seine Bücher seien eine »Schule der Achtsamkeit, die die Kleinkörnigkeit des Lebens feiert«, erklärte Mangold weiter, und zielten auf die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit, die jeder Leser kennt. Paul Berf sprach gar von »Erhabenheit«, was Mangold dazu verleitete, etwas esoterisch davon zu sprechen, dass der Norweger über das im Menschen schreibe, »das die Zeit nicht einfängt und woher das Licht in den Augen rührt.« Wie auch immer man das bezeichnet, dieses Streben nach dem Erhabenen sei Knausgård nur mit Alkohol oder dem Schreiben möglich gewesen. Dem Alkohol habe er zum Glück entsagt, so Berf, die Erfahrung, einen Alkoholiker als Vater zu erleben, wird dazu beigetragen haben.
Es ist aber auch eine bewusste Selbstbeschränkung, eine Furcht vor dem Selbst, die Knausgård vor dem Alkohol zurückschrecken lässt. Krogerus gegenüber sagte er, dass er sich, wenn er trinke, fortsaufen wolle von Familie und Freunden. »Ich spüre eine Sehnsucht nach einem entgrenzten, exzessiven, destruktiven Leben.«
Während des Gesprächs zwischen Böhm, Mangold und Berf wurden im Hintergrund Zitate aus den bisher erschienenen Romanteilen des Norwegers eingeblendet, die Knausgård-Neulingen einen ersten Eindruck dieser überwältigenden Prosa boten. Eine Newsticker-Auswahl: »Die Toten bewahrt man möglichst weit unten auf.« +++ »Wahres Leben und wahre Begierde sind unvereinbare Größen.« +++ »Dass es Kinder sind, die mich hinunterziehen. Das hat etwas zutiefst Entwürdigendes.« +++ »So gut wie nichts von dem, was mein Leben nach dem 20. Geburtstag betraf, war jemals in meinen Träumen aufgetaucht.« +++ »Ich will nicht, dass jemand an mich herankommt. Ich will nicht, dass mich jemand sieht.«
[…] Wie tragisch sein Tod war, wird nun, da sein kurz vorher abgeschlossener Roman Die goldenen Jahre erschienen ist, umso deutlicher. Denn dieses Buch hat jetzt schon Kultpotential, ist eine Mischung aus Jack Kerouacs rasanter Beat-Literature und Karl Ove Knausgårds schonungsloser Selbstenthüllungsprosa. […]
[…] beurteilen? In jedem Fall trifft es den aktuellen Trend der Selbstentblößungsprosa, wie sie von Karl Ove Knausgård oder Tomas Espedal betrieben wird. Wenngleich einen der Gedanke beschleicht, dass Gombrowicz’ […]
[…] Karl Ove Knausgård nutzt die eigene Biografie, um der dunklen Vergangenheit Norwegens auf die Spur zu kommen. In seinem titelgebenden Text geht er der eigenen Begeisterung für Norwegens beliebtesten Autor Knut Hamsun nach, der sich lange nach seiner Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis im Jahr 1920 als glühender Verehrer Adolf Hitlers geoutet hat. Kann man Hamsuns Bücher noch vorbehaltlos lesen könne. Knausgårds Antwort fällt diplomatisch aus: »Wo das Leben geschlossen ist oder das Leben schließt, kann die Literatur offen sein oder öffnen.« […]
[…] eigenen Tagebücher übersetzen. Und dürften auch nicht so schreiben, wie Tomas Espedal oder Karl Ove Knausgård, die biografisch grundiert, aber eben doch auch literarisch schreiben – sogar Knausgård. […]