Wo ist eigentlich die Grenze, frage ich Vater.
Da oben, sagt er und zeigt auf den Grat, der im Halbrund das Tal abschließt.
Ich möchte einmal mit dir zur Arbeit gehen, sage ich.
Vater ist von meiner Bitte so überrascht, dass er mir verspricht, mich am nächsten Tag in den Schlag mitzunehmen, er müsse sowieso noch Werkzeug hinauftragen.
In der Früh steht sein Motorrad vor dem Stall, eine Puch-Maschine mit dunkel glänzendem Tank, der aussieht wie der Rumpf eines schwarzen Delphins. Vater bindet den prall gefüllten Rucksack mit Werkzeug und einen Kanister mit Benzin auf dem Gepäckträger fest. Ich setze mich auf den Hintersitz und lege vorsichtig die Arme um seine Körpermitte. Er sagt, ich solle mich fest an ihn drücken, damit ich während der Fahrt nicht vom Motorrad falle. In der ersten Kurve ruft er, du wackelst, halte dich fest, sonst kommen wir ins Schleudern. Nach anfänglicher Angst, die mich überkommt, wenn Vater abbremst und in eine Kurve fährt, lasse ich mich auf den Geraden von seinen Beschleunigungen mitreißen.
Hinter dem Mozgan-Hof stellt er das Motorrad ab, schiebt ein paar Eisenklammern hinter seinen Hosengürtel und schultert den Rucksack. Wir beginnen langsam zu gehen. Das Benzin im Kanister blubbert. Im steilen Gelände muss man spazieren, sonst kommt man außer Atem, sagt Vater. Dann beschleunigt er seine Schritte. Ich bleibe zurück und nehme auf ebenen Wegabschnitten Anlauf, um ihn einzuholen. Bist du im Krieg hier gewesen, frage ich.
Ja, wir hatten höher oben einen Bunker, sagt er. Dein Großvater hat den Kurierposten geleitet. Ich habe gekocht. Es war sehr gefährlich.
Hast du Angst gehabt, frage ich.
Wird schon so gewesen sein, ich war ja noch ein Kind, ein paar Jahre älter als du.
Hinter unserem Rücken hört man ein aufgescheuchtes Wild flüchten.
Es hat uns in die Nase bekommen, sagt Vater.
Unter dem Waldkamm, zwischen mächtigen Fichten, deren dichte Äste fast bis zum Boden reichen, kommt eine Hütte zum Vorschein. Sie ist zur Gänze mit Rinden bedeckt, die Schicht für Schicht auf ein darunterstehendes Holzgerüst genagelt wurden. Hier haben wir früher geschlafen, sagt Vater, wenn wir Holz geschlägert haben. Er schließt das Schloss auf und verstaut Werkzeug und Kanister neben den unbenutzten Pritschen. Ich muss noch zum Schlag, sagt er, dann können wir über die Grenze gehen.
(…)
Dort hinter der Raduha, Vater zeigt auf einen Bergrücken, dort habe ich im Krieg die Schule besucht. Nicht lange. Vierzehn Tage werden es gewesen sein. Da bin ich in die Schule gegangen, in Luce, sagt er. Sein Bruder und er seien beim Stab der Kuriere gewesen, auf einem Bauernhof. Nach ihrer Flucht von zu Hause durften sie nur zwei Wochen bei ihrem Vater im Bunker bleiben. Dann habe man sie ins Savinja-Tal gebracht, weil das Savinja-Tal befreites Gebiet gewesen ist. Im Januar habe man die Kommandozentrale auflassen müssen, weil das Tal von den Deutschen angegriffen wurde. Die Deutscheen haben über das Feld geschossen, dass die Erde nur so gespritzt hat, sagt Vater. Er und die Kuriere haben Schreibmaschinen im Boden vergraben. Sie hoben ein Loch aus, warfen ein bisschen Stroh hinein und haben die Schreibmaschinen darauf geschichtet. Dann streuten sie wieder Stroh darüber und dann Erde und Gras und Schnee, bis nichts mehr zu sehen war. Am nächsten Tag haben die Deutschen uns weiter gejagt, sagt Vater. Der Schnee ging mir bis zu den Hüften. Ein Kommandant hat gemeint, dass ich nicht durchkommen werde.
Er spuckt kräftig aus, als ob er sich nach der Erzählung erleichtern müsste.
(S. 78ff)
© 2011 Wallstein Verlag, Göttingen.