Leserbriefe zur Rezension

Literaturwissenschaft ohne Literatur

Ulrich Horstmanns neues Buch "Ausgewiesene Experten"

Von Frank Müller


Marc-Christian Jäger, M. A. schrieb uns am 18.02.2004
Thema: Frank Müller: Literaturwissenschaft ohne Literatur

EINE REHABILITATION FOUCAULTS WIDER EIN MISSVERSTÄNDNIS
Ich kenne leider nicht Horstmanns Buch, habe aber vor 3 Jahren eine Vorlesung bei ihm besucht. Was mich während dieser Vorlesung am meisten gestört hat, war die völlig falsche Darstellung von Michel Foucaults Äußerungen über den Autor. Exemplarisch verwende ich hier einen Textauszug von Horstmanns Homepage:
"Machereys in den USA ungleich intensiver rezipierten Landsleuten Roland Barthes und Michel Foucault ging diese ‚Aushöhlung' des Werks und der Autorenkommentare nicht weit genug. Nach Jahrzehnten des Untergrabens, Wegerodierens und der kleinschrittigen Demontage wollten sie endlich Nägel mit Köpfen und kopflose Antagonisten. Barthes' Liquidationsanzeige erschien 1968, im Jahr der Revolte und des Aufbegehrens, und wie die Studenten gegen die politischen Institutionen Sturm liefen, so unternahm es dieser antiautoritäre Theoretiker, das Ancien régime der Literatur vom Sockel zu stoßen und den "Tod des Autors" als fait accompli erscheinen zu lassen. Das Vokabular ließ dabei an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig: Barthes evozierte den Eindruck absolutistischer Willkür - "the image of literature to be found in ordinary culture is tyrannically centred on the author, his person, his life, his tastes, his passions" (Barthes 1988: 168) -, er insistierte auf "desacralization", "destruction", "removal of the Author" (ebd.: 169) und sorgte für die sang- und klanglose ‚Beisetzung' (vgl. ebd.: 170). Als Konsequenz des Königsmords aber stand die große Befreiung der Texte samt Abschaffung der hermeneutischen Deutungsknechtschaft auf der Tagesordnung"
Ulrich Horstmann nimmt den Ausdruck "Tod des Autors" viel zu wörtlich. Michel Foucault war KEIN Literaturtheoretiker, Foucault wollte KEINE Literaturtheorie betreiben, er war KEIN Philologe. In seiner Vorlesung "Die Ordnung des Diskurses" weist er auf die verschiedenen Machtbeziehungen, in denen sich das Diskursfeld "Literatur" konstituiert, hin. Foucault ist ein Analytiker der Macht. KEIN Philologe. Meine Einwände wurden in Horstmanns Vorlesung weggewischt.
Was sagt Foucault in seiner Schrift "Was ist ein Autor?" (erschienen in "Schriften zur Literatur", SzL)?
In seinem Vortrag "Was ist ein Autor?" (1969) spricht Michel Foucault über die ethische Praxis modernen Schreibens. Diese immanente ethische Regel ist „ein Prinzip, das das Schreiben nicht als Ergebnis kennzeichnet, sondern es als Praxis beherrscht“ (SzL 11). Das Schreiben hat sich gegenwärtig „vom Thema Ausdruck befreit“, „es ist auf sich selbst bezogen“ (ebd.). Im „Zeichenspiel“ läßt das Schreiben den Inhalt des Bedeuteten zurücktreten und richtet sich mehr nach dem „Wesen des Bedeutenden“ (ebd.). Diese ethische Praxis ist ein Experiment, das mit der Regelhaftigkeit des Schreibens „von seinen Grenzen her experimentiert“ (ebd.). Das selbstbezügliche Schreiben übertritt und anerkennt zugleich die Grenzen der Regularität, mit denen es spielt. Das Subjekt des Schreibens geht in der modernen Literatur in den Raum der Sprache ein, es tritt in die Grenze der Sprache ein. Ein „Riß“ tut sich auf, und das Subjekt betritt den „tödliche[n] Raum, wo Sprache von sich selbst spricht“ (SzL 94).
Im Schreiben geht es nicht um die Bekundung oder um die Lobpreisung des Schreibens als Geste, es handelt sich nicht darum, einen Stoff im Sprechen festzumachen; in Frage steht die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet“ (SzL 11).  
Foucault stellt eine „Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod“ fest (SzL 11), denn mit dem Weiterleben der Schrift, wird der unausweichliche eigene Tod erträglich. Das Erzählen ist in der modernen Literatur seit Kafka, Proust und Flaubert kein Schreiben mehr, „um den Tod abzuwenden“, sondern „an das Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen“ (SzL 12). In der Literatur der Moderne hat das Werk „das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen“ (SzL 12). Die Feststellungen vom „Verschwinden [...] des Autors“ oder vom „Tod des Autors“ (ebd.), von denen an dieser Stelle Foucault spricht, stehen für die Verwischung jedes Zeichens, das auf die Individualität des schreibenden Subjekts hinweist. Der Schreibende tötet sich in seinem ‚Werk’,  er erscheint nur noch als „die Einmaligkeit der Abwesenheit“ (ebd.).
Was macht Foucault also? Er schreibt NICHT: "Der Autor hat nichts zu sagen, weil die Sekundärliteratur viel wahrhaftiger oder kunstvoller ist". Foucault schrieb von einem "Explodieren" der Diskurse. Welches Interesse sollte er daran haben, daß noch tausende von Kommentaren, die er ja selbst in "Die Ordnung des Diskurses" angreift, hinzukommen? Foucault geht es um die Verknappung bestimmter Diskurse zugunsten anderer, mächtigerer Diskurse. Foucault verwirft diese Theorie später sogar wieder und behauptet, daß es keine Verknappung, sondern nur Vervielfältigung gibt. Foucaults Thema ist aber die MACHT von Diskursen (z. B. literar., Diskursen über einen Autor usw.).
Das "Verschwinden des Autors" oder der "Tod des Autors" ist für Foucault ein Phänomen, das IN DER LITERATUR stattfindet. Es heißt nicht, daß der Autor nichts Vernünftiges über sein Werk sagen kann und die Theorie sich an seine Stelle auf den hohen "Sockel" setzen soll.
In seinen späten Äußerungen (etwa 1976, "Funktionen der Literatur") sagt Foucault sogar, daß man die akademische Literaturtheorie usw. (zer-)stören muß. Der akademische (Macht-)Apparat ist zu mächtig und zu autoritär (ständige Reproduktion und Vervielfältigung durch Sekundärtexte und Kommentare, Was ist anerkanntes Wissen über Literatur?, Was gilt nur als Gerede?). Das deckt sich sogar mit Horstmanns Ausführungen. Aber Horstmann verschweigt das. In jeder Vorlesung zur Literaturtheorie wird das einflußreiche Werk Foucaults auf drei Worte reduziert: "Tod des Autors", ohne daß er sich wirklich die Mühe macht zu ergründen, wie Foucault zu dieser Schlußfolgerung kommt.
Aus Foucaults Theorie kann man durchaus schließen, daß "Literaturwissenschaft" nichts mit "Wissenschaft" zu tun hat. Foucault hat in "Die Ordnung der Dinge" sehr ausführlich und lehrreich beschrieben, daß unsere "Humanwissenschaften" (und damit auch die Literaturtheorie) nichts mit "Wahrheit" zu tun haben, sondern Produkte mächtiger Diskurse (z. B. akademischer, institutioneller usw.) sind.  Das Buch "Die Ordnung der Dinge" hat 650 Seiten, und ich kann hier nicht alles detailliert darstellen, aber was Horstmann immer wieder behauptet, ist unhaltbar.
Vielleicht war Foucaults sehr, sehr kurzer Text "Was ist ein Autor?" auch ein "Tritt vor's Schienbein" von solchen Autoren, die sich für etwas "Besseres als die anderen" halten. Gerne wären die Autoren die großen Propheten und die Hüter der absoluten Wahrheit. Horstmann, dessen spannende Veranstaltungen ich sehr gerne besucht habe, legt manchmal selbst diese selbstverliebte und autoritäre Haltung an den Tag. Darum weiß er wahrscheinlich, es ist ihm wohl auch gleichgültig. Nur weil er befürchtet als Autor/Wissenschaftler selbst auf der "Abschußliste" zu stehen, kämpft er gegen Gespenster, die Foucault eigentlich gar nicht beschworen hat, sondern von einer SEKUNDÄRLITERATUR stammen, die an Foucault anschließt (und ihn vielleicht sogar mißversteht...).
Übrigens hat Foucault sogar gesagt, daß wir in die Insitutionen und ihre Hierarchien hinein müssen, um dieses humanwissenschaftliche "Wissen" wieder zu kritisieren und in Frage zu stellen. Eine kritische Haltung und ein Lebensweg, den auch Horstmann für sich gewählt hat.
Ist Wissenschaft und Literatur nicht etwas, das sich gegenseitig ausschließt?
Noch einmal: Foucault hat die Literatur oftmals nur dazu benutzt, um bestimmte diskursive Phänomene, Paradigmenwechsel und historische Einschnitte zu beschreiben. Was Foucault in seinen frühen Schriften zur Literatur Batailles, Sade und Blanchots tat, war KEINE Philologie, sondern eine Genealogie von Diskurspraktiken.
PS: Ja, ich halte einige theoretische Schriften Jacques Derridas (z. B. 'Schibboleth', 'Was ist ein Gedicht?'), Georges Batailles und Edmond Jabès' für Kunst.
Mehr Informationen zu Michel Foucault unter
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