Leserbriefe zur Rezension

Demonstrare contra docere - Figuren des Unbestimmbaren

Roland Barthes "Neutrum"

Von Evelyne von Beyme


Johannes-Paul George schrieb uns am 07.03.2006
Thema: Evelyne von Beyme: Demonstrare contra docere - Figuren des Unbestimmbaren

Barthes Konzeption des stark an die „différance“ Derridas erinnernden „Neutrum“-Begriffs stellt sich sowohl formal wie inhaltlich als der durch die Trauer um seine ein Jahr zuvor verstorbene Mutter verstärkte Versuch dar, die einschränkenden Zwänge des Logos, die grammatikalischen Vorschriften des Diskurses zu sprengen und somit endgültig das rein strukturalistische, dyadische Denken zu verlassen, indem ein Drittes, das „Neutrum“ (das als Genus im Französischen nicht vorkommt!), als paradigmensprengend eingeführt wird. Die von Barthes seit „Le plaisir du texte“ verfolgte hedonistische Ausrichtung seiner dritten und letzten Schaffensphase, kommt auch im „Neutrum“ überdeutlich zum Vorschein.
Evelyne von Beyme vermag in ihrer Rezension den für den späten Barthes so typischen Schreibstil – Doppelpunkte, Stichwörter, Klammersetzung (und das durchaus bewusst, auch wenn es sich um Vorlesungsnotizen handelt) – zu durchdringen und anhand dreier Beispiele (Zartgefühl, Farbe, Adjektiv) wesentliche Merkmale der „Figuren des Unbestimmten“ darzulegen, was dem Leser einen Einblick und gleichsam eine Einführung in das „Neutrum“ verschafft. Die biographischen Informationen – allen voran die „drei Lebensphasen“ – sind dabei ebenso hilfreich wie die Erwähnung der Barthes beeinflussenden Theoretiker: Ferdinand de Saussure und seine für den Strukturalismus grundlegende Sprachzeichendefinition, Roman Jakobson und seine Bestimmung der poetischen Sprache (Syntagma vs. Paradigma/Metonymie vs. Metapher) sowie Jacques Derrida mit seiner an Rousseau, de Saussure, Husserl und Heidegger ausgerichteten Metaphysikkritik.
Der Poststrukturalist Roland Barthes und sein „Hang zum Literarisch-Artifiziellen“ sollte – wie Evelyne von Beyme anführt – von der Forschung gerade auch hinsichtlich so interessanter Konzepte wie „Spiel“, „Zufall“, „Fragment“, „Subjekt“ oder auch „Literatur“ und „Sprache“ eingehender beachtet werden.


Matthias Attig schrieb uns am 18.08.2012 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Evelyne von Beyme: Demonstrare contra docere - Figuren des Unbestimmbaren

In seinen Vorlesungen »Das Neutrum« und »Wie zusammen leben« hat Barthes schlagend wie kaum ein Denker vor ihm demonstriert, dass noch die scheinbar esoterischsten Überlegungen – diejenigen, denen häufig Lebensferne und Selbstgenügsamkeit unterstellt wird – auf die Alltagswirklichkeit Einfluss üben können, wenn sie sonst unbeachteten Vorgängen und Routinen, das heißt dem vermeintlich Banalen regelrecht maßlose Aufmerksamkeit angedeihen lassen. Allein die Genauigkeit der Betrachtung scheint ihren Gegenstand zu verwandeln und über den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem er eine spezifische Funktion erfüllt, hinauszuheben. Eben darin, dass sie dem Ephemeren ein Eigengewicht zumisst, liegt das subversive Moment aller Sensibilität, das sie Funktionären und Politikern, die sonst nicht müde werden, von den Geisteswissenschaften einen sofort zu Buche schlagenden gesellschaftlichen Nutzen einzufordern, so verdächtig macht.