Amouröse Abenteuer in brüchigen Zeiten
Katja Lange-Müller legt ausgewählte Liebesgedichte von Günter Grass vor
Von Herbert Fuchs
Günter Grass starb 2015. Jetzt veröffentlicht der Steidl Verlag einen Band mit fast 70 Gedichten, die von der Schriftstellerin Katja Lange-Müller ausgewählt wurden. Es sind ausschließlich Liebesgedichte, die 60 Jahre des dichterischen Schaffens von Grass umfassen. Das erste Gedicht der Anthologie wurde 1955 geschrieben; die letzten Gedichte stammen aus dem Band Vonne Endlichkait, veröffentlicht in Grass’ Todesjahr 2015.
Der Leser kann in Du. Ja Du also Texte des jungen, des älteren und schließlich des betagten Dichters kennenlernen und, da es immer um das Motiv der Liebe geht, miteinander vergleichen. Er wird – wie könnte es anders sein? – Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede zwischen ihnen feststellen. Die Gedichte sind eine Reise in das Abenteuer Liebe, enthüllen viel über den Dichter selbst und zeigen, wie er sprachmächtig das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln angeht und künstlerisch gestaltet.
Grass’ Erzählwerk ist immer von einem besonderen Sprachton und ausgeprägten Sinn für den Rhythmus eines Satzes oder ganzen Abschnitts geprägt. Eine Vorliebe für einen skurril-grotesken Stil ist dabei unverkennbar. Seine Romananfänge sind legendär geworden und in seinem letzten Roman, dem sprachgewaltigen Grimms Wörter (2010), dem er den Untertitel Eine Liebeserklärung gab, kostet er die vielen Möglichkeiten, die die deutsche Sprache seinem überragenden dichterischen Talent bietet, noch einmal aus und schwelgt in sprachschöpferischen Ausdrücken und Formulierungen. Diese Fähigkeit, Bilder zu schaffen und den Leser immer wieder sprachlich zu überraschen, zeigt sich auch in dieser Anthologie von Liebesgedichten.
Auffällig ist der sprachlich konkrete, direkte Zugang zum Phänomen Liebe. Oft geht der Autor von Alltäglichem aus, von Gegenständen und Dingen der gewohnten Umgebung, stellt gewöhnliche Liebessituationen in das Zentrum seiner Texte und schreibt über Gefühlswallungen und körperliche Regungen, die längst sprachlich abgenutzt und zu Stereotypen verkommen zu sein scheinen. Aber Grass gelingt es spielerisch, aus diesen einfachen Beobachtungen wirkungsvolle poetische Bilder zu formen, die sich einprägen und alles andere als Klischees über Liebe darstellen. Er ist ein wahrer „Sprach-Bildhauer“, ein „Verse-Schmied“ im guten Sinn des Wortes, ein „Sprach-Skulpteur“, der, so wie er aus Tonmaterialien etwa Fische und Vögel formt, Liebesgedichte schreibt: handfest, genau, formvollendet und fantasieanregend.
Das kann man beispielsweise im zweiten Gedicht der Anthologie erkennen: Lamento bei Glatteis. Es beginnt mit den kindlichen Rufen eines Puppennamens, „Sanna Sanna“. Schnell wird deutlich, dass es sich dabei um einen Klageruf handelt: die Sägespäne im Innern einer Puppe sollen auf Glatteis gestreut werden. Aber wie „Sanna Sanna“ mehr als nur ein kindlicher Ausruf ist, eher ein protestierender Aufschrei, so nehmen die Wörter bald Bedeutungen an, die das Gedicht auf eine andere Ebene als die eines Puppengedichts heben. Der Text enthält eine Fülle von Anspielungen, politische, erotische, aber auch – vielleicht die eindrucksvollsten – poetisch-spielerische. Der Schluss lautet, ein wenig mysteriös, aber eindrucksvoll: „Gab der Winter seine Nieren, / seine graue alte Milz / und sein Salz auf beide Wege. / Könnt dann Sanna, deine, Sanna, / hingestreute Puppenseele / Lerchen in Verwahrung geben. / Sanna Sanna.“ Aus dem „Sanna Sanna“-Ruf wird, bevor man sich als Leser irgendwo im Text „festsetzen“ kann, ein verstörendes, fast surreales Gedicht, das sich am Ende weit vom Ausgangspunkt entfernt.
Grass ist in den ausgewählten Gedichten als großer Spötter und Selbstironiker präsent, der den Frauen gegenüber gelegentlich recht derbe, männlich überhebliche Töne anschlägt; er versteht es aber auch, die Liebe mit schwärmerisch-verliebten Versen und einprägsamen Bildern zu beschwören und zu feiern. In dem Gedicht Liebe aus dem frühen Band Ausgefragt (1967) kann man die verschiedenen Blickrichtungen auf das Thema erkennen. Der Text beginnt mit vier Zeilen, die die körperliche Liebe in den Blickpunkt rücken:
Das ist es:
Der bargeldlose Verkehr.
Die immer zu kurze Decke.
Der Wackelkontakt.
Danach ändert sich der Ton. Im Mittelteil des Gedichts findet Grass Bilder für die emotionale Nähe und Gemeinsamkeit der Liebenden:
Hinter dem Horizont suchen.
Im Laub mit vier Schuhen rascheln
und in Gedanken Barfüße reiben.
Die Schlussverse bringen wiederum eine Wende der Perspektive und setzen einen anderen Akzent. Sie lauten:
Heute, vor noch geschlossener Kasse,
knisterten Hand in Hand
der gedrückte Greis und die zierliche Greisin.
Der Film versprach Liebe.
Es ist ein Blick in die gemeinsame Zukunft der Liebenden, verwirrenderweise in der Vergangenheitsform geschrieben, so als liege das gemeinsame Leben bereits hinter ihnen oder als erinnerten sie sich plötzlich an ein bestimmtes Ereignis vor einem Kino. Die Liebe wird als gelungene Erfahrung dargestellt, auch wenn sie nur noch in Form eines Films „erlebt“ werden kann.
Fast die Hälfte der Texte in Du. Ja Du entstammen Büchern, die, wie Letzte Tänze oder gar Vonne Endlichkait, zu Grass’ Alterswerk gehören. Liebe wird in diesen Texten genauso enthusiastisch gefeiert wie in den früheren. Allerdings ist die Sprache weniger „draufgängerisch“, zurückhaltender und offener und ehrlicher. Der Lyriker kann sein Alter nicht verleugnen; aber auch als Älterer will er die Liebe in seinen Versen wie ehemals lobpreisen und feiern. Die Gebrechen des Alters werden dabei nicht verschwiegen. So lauten die Schlussverse von Tango Nocturno: „Das ist der Tango, die Diagonale. / Aus Fallsucht zum Stillstand. / Ich höre dein Herz.“ Und das Gedicht Tango Mortale endet: „Der Schmerz ist nur Maske. Wir gleiten verkleidet / auf grenzloser Fläche, dem Tod auf den Fersen, / uns selbst hinterdrein.“
Was ist das für eine Liebe, über die Grass in seinen Versen schreibt und schwärmt? Es ist eine Liebe, bei der Gefühle nicht alles sind. Sie ist für Grass immer auch körperliche Nähe und von Sexualität nicht zu trennen. Und es ist eine Liebe, die sich in konkreten Situationen bewähren muss. Liebe ist immer gefährdet und brüchig, alles andere als selbstverständlich oder gar durch Gewöhnung dauerhaft. Sie wird von Grass als Wagnis und höchst risikohafte Erfahrung dargestellt. „Ikarus und Ikaria“ stürzen ab, heißt es in dem Gedicht Gestrandet, „schneller […] als gedacht“.
Das Motiv der Trennung oder der „Beinahe-Trennung“ zieht sich wie ein roter Faden durch den Textband. Eine zu Ende gehende Liebe kann durch Worte nicht mehr gerettet werden. In dem Gedicht Prag nachdem lauten die Schlusszeilen: „Verschleppte Worte, / die an der Bahnsteigkante zurückbleiben. / Die euch abgehört haben, / haben das Band gelöscht. / War nichts drauf: nur Kopfschmerz / und zerredete Liebe.“
Prag nachdem ist nicht nur als Liebesgedicht interessant, sondern auch aus zwei weiteren Gründen. Es ist typisch dafür, wie Grass immer wieder in seinen Texten, Romanen wie Lyrik, auf Biografisches verweist, aber auch politische Probleme anspricht. Im vorliegenden Text kann man, wenn man Einzelheiten aus seinem Leben heranzieht, Folgendes verstehen: Grass und seine Ehefrau Anna haben kurz nach den tschechischen Unruhen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre den gemeinsamen Bekannten und Übersetzer der Blechtrommel ins Tschechische, Vladimir Kafka, besucht. Brisant war die Reise deswegen, weil Anna ein Liebesverhältnis mit dem Übersetzer begonnen hatte. Grass hat deshalb das gemeinsame Haus in Friedenau in Berlin durch eine Trennmauer zweiteilen lassen, in seinen Arbeits- und Wohnbereich und in den von Anna. Retten konnte das ihre Ehe nicht mehr. Sie trennten sich 1972. In anderen Gedichten des Werkstattberichts Vier Jahrzehnte (1991) wird die heikle Beziehungssituation zwischen Kafka, Anna und Günter Grass mehrfach aufgegriffen, sehr direkt etwa in dem Gedicht Vladimir Nachgerufen. Vladimir Kafka starb sehr jung bereits 1970.
Wie die Ausdrücke „verschleppte Worte“ oder „zerredete Liebe“ mehr oder weniger direkt die heikle Situation einer Dreierbeziehung und einer vergehenden Liebe aufgreifen, so verweisen die Zeilen „Die euch abgehört haben, / haben das Band gelöscht“ auf die Bespitzelungssituation der Zeit kurz nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag 1968. Das Gedicht verbindet auf unaufdringliche Weise, aber konkret das Schreiben über die Liebe mit persönlichen Erfahrungen und politischen Problemen, die Grass beschäftigt haben.
Die unübersehbare selbstironische Ehrlichkeit, die in den Gedichten Stil und Inhalt prägt, die auch humoristisch-komische Seiten hat, übt einen besonderen Lesereiz aus. Sie ist in den frühen Gedichten greifbar, besonders deutlich aber in den späteren Texten. So endet eines der Tanzgedichte aus dem Band Letzte Tänze (2003) mit den Zeilen: „Liebste, nur wenige Takte, / bevor du mich und dich – / wie immer um diese Zeit – / mit Tabletten versorgst: einzelne / und gezählte.“ Und das Gedicht Gewagte Liebe, das fast zehn Jahre später entstand, lautet: „Spät nach letzten Nachrichten / aus dem Küchenradio, / zählen wir einander / unser Häuflein Tabletten zu, / die alle rezeptpflichtig sind. / Manchmal jedoch, / wenn es uns ankommt, / heiß, plötzlich und unwiderstehlich, / schlucke ich ihre, sie meine. // Dann warten wir ab –Seit an Seit – / und wollen erleben, was uns geschieht.“
Lange-Müller, die auch das Nachwort geschrieben hat, befasst sich darin ausführlich mit dem Text Kirschen. Die Bemerkungen sind eine hilfreiche Hinführung zu den Liebesgedichten. Bedauerlich ist, dass der Band keine Zeichnungen von Grass enthält. (Die „Apfelbiß“-Illustrationen am Beginn und Ende des Buchs sind nichts als Alibi-Abbildungen.) Gerade der Band Letzte Tänze, aus dem die Herausgeberin vergleichsweise viele Gedichte ausgewählt hat, lebt vom Nebeneinander der Texte und Abbildungen. Erst zusammen bilden sie einen grandiosen Lobgesang auf die Liebe, das Alter und das Leben überhaupt.
Es erstaunt, wie „modern“ Grass’ Schreiben über die Liebe ist. Fast könnte man von einer „coolen“ Sprache sprechen, die sowohl die älteren als auch die jüngeren Texte auszeichnet. Es ist eine nüchterne Sicht auf die Liebe, voller ironischer Distanziertheit, aber immer wieder auch voller Freude am Leben und mit ansteckendem Vergnügen an der Liebe. Nicht die ewige Liebe mit romantischen Zügen und klischeehaften Ausschmückungen entdeckt der Autor, sondern eher die Liebe auf Zeit, eine vergängliche Liebe, die voll ausgelebt wird, die aber auch wehtun kann, weil sie vom Scheitern bedroht ist. Liebe ist bei Grass ein „Beute-Machen“ und „Einander-Ins Netz-Gehen“. Ihm gelingen sprachliche Bilder, die sich einprägen und die vielleicht heute mehr als vor 30 oder 50 Jahren einen Punkt in den Beziehungen von Menschen treffen, der deren Verwundbarkeit und Schwächen aufdeckt.
Die Gedichte im Schlussteil stammen aus Vonne Endlichkait, dem letzten Buch, das Grass veröffentlichen konnte. Selbstironie und die manchmal respektlos-schnoddrige Sprache sind nicht mehr so bestimmend wie in den früheren Gedichten. Grass verzichtet in diesen Texten auf moralische Belehrungen und vermeidet das zur Schau getragene männliche Kraftprotzertum und die Arroganz, die vorher vorkommen. Gott kommt jetzt vor, Gebete – „will Gnade und Vergebung mir erbitten“ –, von „toten Freunden“ ist die Rede und langen, letztlich einsamen „Selbstgesprächen“.
Aber auch in den späten Texten gibt es ihn noch, den Liebhaber und Lobpreiser der Frauen. In einem langen Gedicht mit dem vielsagenden Titel Abschied vom Fleisch lässt er es sich nicht nehmen, noch einmal, wie all die sechs Jahrzehnte seines Schriftstellerlebens hindurch, „der Frauen Leib zu besingen“, ihre „zweieinig Brüste“, ihre „Vulva“ und den „griffigen Arsch“ – der alte Grass-Ton schlägt noch einmal durch –, ihr Haar und ihre Arme und Beine, ihren Mund und ihren ganzen Körper, „in Wolle, Samt, Taft, / in grobes Leinen gewickelt“. Der Text ist „kein Ende findender Abschied, / nie verstummter Gesang“, wie es melancholisch, altersweise und durchaus ein wenig hoffnungsvoll heißt, „bis versteinert der Leib / und fern allem Fleisch.“
Grass kennt keine wirkliche Resignation, wenn es um die Liebe geht. Er kann und will von ihr, auch wenn sie brüchig wird und zu scheitern droht und vom Alter gezügelt wird, nicht lassen. Er ist der große „Liebessucher“, dem trotz aller Widrigkeiten das Glück beschert ist, die Liebe immer wieder zu finden. Gefunden hat er die Liebe zum Schreiben und Dichten und zu seiner Schreibmaschine; auch solche Texte enthält das Bändchen. Und nicht verloren hat er seinen kindlichen Eifer, Frauen allgemein, seiner Frau insbesondere, mit allen möglichen „Kunststückchen“ zu gefallen.
In Erinnerung bleiben sicherlich seine drei Wünsche für die letzten Lebensjahre. Die Strophen beginnen jeweils mit den Worten „Komm, tanz mit mir“, „Komm, lieg mir bei“ und „Komm, sieh mir zu“. Die dritte Strophe spielt auf Grass’ zirkushafte Fähigkeit an, bei seinen großen Familienfeiern, besonders den Geburtstagen, einen Kopfstand vor der versammelten Großfamilie vorzuführen. Es ist der Grass, den wahrscheinlich viele Leserinnen und Leser am ehesten in ihrer Erinnerung behalten.
Komm, sieh mir zu, ob ich den Kopfstand schaffe
und aus verkehrter Sicht die Dinge rings erkenne,
wie ich schon immer schräg von oben als Giraffe
und schräg von unten aus des Menschenwurmes Blick
mir reimte, was behinderlich dem Glück
und was zuerst auf Erden war: das Ei? die Henne?
Drum bitt um Nachsicht ich, wenn meine Kopfständ gleichen
letztendlich einem Fragezeichen.
Es ist der Wunsch, Leben, solange es geht, als Ekstase, als rhythmische Bewegung, als Liebesakt aus einer „verrückten“ Welt- und Lebenssicht in Worte und Sprachbilder zu bannen. In den Gedichten, die Du.Ja Du versammelt. ist Grass das immer wieder auf faszinierende Weise gelungen: mit ernsten, komischen, humorig-melancholischen, auch traurigen Texten, und natürlich mit solchen voller Selbstironie und einnehmender, augenzwinkernder Naivität, mit politischen Anspielungen und autobiografischen Hinweisen, bildhaft und die Fantasie anregend. Einen großen Schuss sprachgewaltiger Deftigkeit darf der Leser bei Grass immer erwarten, bis zum Schluss. Die Anthologie lädt zum Schmunzeln und – gelegentlich – Kopfschütteln ein. Aber das Leseinteresse erlahmt nie.
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