Gescheiterte Träume und neue Ziele
Über Christian Hallers Roman „Die verborgenen Ufer“
Von Volker Heigenmooser
Erinnerung ist für den Schweizer Autor Christian Haller kein Selbstzweck, keine modische Spielerei, sondern Erkenntnis in Wörter gefasst, und zwar bilderreich schön. Davon konnte man sich schon in seiner „Trilogie des Erinnerns“ überzeugen. Diese ‚Erinnerungssucht‘ lässt sich nun mit einem weiteren Roman befriedigen. Während jedoch in der Roman-Trilogie („Die verschluckte Musik“, „Das schwarze Eisen“, „Die besseren Zeiten“) der Erzähler eher eine untergeordnete Rolle spielte, weil die Geschichten um die Großeltern- und Elterngeneration kreisten, steht im jüngsten Roman mit dem Titel „Die verborgenen Ufer“ der Autor als Erzähler selbst im Mittelpunkt des Erinnerns.
Haller wurde 1943 in Brugg im Schweizerischen Aargau geboren, er studierte Zoologie und sichtete später den Nachlass von Adrien Turel, der sich selbst als „enfant terrible einer kommenden Welt“ bezeichnete. Acht Jahre war Haller Bereichsleiter der „Sozialen Studien“ am Gottlieb Duttweiler-Institut in Rüschlikon/Zürich, der bedeutenden schweizerischen Denkfabrik. Seit 1980 veröffentlicht Haller Erzählungen, Romane, Theaterstücke und Gedichte, zuletzt die Romane „Im Park“ (2008) und „Der seltsame Fremde“ (2013).
Der Roman „Die verborgenen Ufer“ ist, und das überrascht dann doch, ein nahezu klassischer Entwicklungsroman in der Tradition des 19. Jahrhunderts. In ihm löst ein außerordentliches Ereignis – ein Hochwasser hat einen Teil seines Hauses weggerissen – die Erinnerung an die eigene Kindheit und die eigene Entwicklung aus. Doch verliert der Erzähler nicht nur einen Teil des eigenen Hauses, sondern auch noch die langjährige Partnerin, mit der ihn eine intensive künstlerische Arbeit verband.
Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich in der Praxis eines Psychiaters. Ich litt an Angstzuständen, war in eine Depression und vollständige Desorientierung abgerutscht. Mein Daseinsgebäude, das in seiner Anlage unkonventionell und in der Ausführung statisch gewagt war, von mir ein stetig stabilisierendes Ausbalancieren verlangte, war weggebrochen wie jetzt die Terrasse auch.
Ist Schreiben für Haller also Therapie? Was in den meisten Fällen eher kläglich gelingt und oft unlesbar ist, ist für einen ausgezeichneten Stilisten wie Haller eine Herausforderung, die man als Leserin beziehungsweise Leser mit großem Genuss goutieren kann. Das liegt zum einen daran, dass der Autor ein bedeutender Erzähler ist, dessen Freude an gelungenen Formulierungen immer wieder beglückt. Zum anderen ist er ein ausgesprochen formbewusster Autor, der zu komponieren versteht und letztlich der Dramaturgie des Textes den Vorrang vor möglicherweise tatsächlich Erlebtem einräumt. Da dies allerdings nur im Verborgenen geschieht, fällt es beim Genusslesen nicht auf.
Das eigentliche Thema, die „verborgenen Ufer“, ist das Daseinsgebäude des Erzählers, der sich zum Künstlerischen berufen fühlt, aber nur schwer dieser Neigung sein Leben anpassen kann. Äußere Forderungen und Widerstände behindern immer wieder dieses Verlangen nach einem künstlerischen Dasein, das sich das Kind und der Jugendliche schwer erkämpfen müssen. Die 1950er- und 1960er-Jahre in der Schweiz waren zwar eine Zeit des Aufbruchs, doch bedeutete Fortschritt und Aufbruch damals wie heute in erster Linie ein materielles Vorankommen. Wer dem nicht entsprach, drohte unterzugehen. So ergeht es auch dem Erzähler, der über ein Lehrerseminar das Abitur erwirbt, aber als Lehrer kläglich scheitert, weil er seinen pädagogischen Auftrag ernstnimmt. Schon beim Eintritt in die höhere Schule wurde den Eleven vom Direktor mitgeteilt, dass ihre Aufgabe darin bestünde, „später einflussreiche Positionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“ einzunehmen. Doch der Erzähler „wollte keine ‚Persönlichkeit in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft‘ werden, sondern Schauspieler, der mit Don Carlos von eben diesen Leuten ‚in einflussreichen Positionen‘ Gedankenfreiheit forderte“. Die Lehrerausbildung ist für ihn nur ein Vehikel, seinem Traum, Schauspieler zu werden, näherzukommen. Doch die Verwirklichung dieses Traums scheitert ebenso wie der, Dichter zu werden. Stattdessen also Lehrer.
Ich schaute in die Gesichter der Mädchen und Jungs und blickte in meine eigene Kindheit, entdeckte in der Vielfalt lauter Eigenes und Bekanntes […]. Und ich dachte, dass es meiner Klasse nicht so gehen sollte, wie es mir ergangen war. Ich nahm mich des armen Kerls mit seinen vielen Fehlern an, bewertete bei einem Mädchen den Aufsatz etwas tiefer, der zwar fehlerfrei, doch nur aus Allgemeinplätzen bestand, versuchte die Schüler an dem teilhaben zu lassen, was ich in den letzten Jahren an Sprache und an den damit verbundenen Werten entdeckt hatte.
Der Legastheniker mit der Liebe zur Literatur und zum Theater, der unbeugsam seinem pädagogischen Eros dienen will, eckt damit an und ist seine Stelle als Lehrer bald los. Also doch Dichter werden und das eigene Liebesleben ordnen. Und sich der Auseinandersetzung mit den Eltern stellen, die vom Sohn einen ordentlichen Broterwerb fordern: Er könne nicht einfach zu Hause herumsitzen und nichts tun. „Ich schreibe, sagte ich, und will Schriftsteller werden.“ Das tat der Vater ab, mit der Begründung, es „sei ein Hobby und kein Beruf“. Das ist für den Erzähler bitter.
Dennoch: Wer schreibt, auch über schwierige Themen wie die Entwicklung des Menschen zum Künstler, sollte über Humor verfügen. Haller besitzt auch diesen. Es gelingen ihm immer wieder herrliche Passagen, in denen er den Widerspruch von bürgerlichem Leben und freier Denkart provokant und bündig vorführt. Etwa wenn er, dem Wunsch des Vaters entsprechend und einem ordentlichen Broterwerb nachgehend, sich im Einwohneramt der Stadt anmeldet, in der er in einer Buchhandlung Geld verdienen möchte. „Als der Beamte die Personalien in meinem Dienstbuch durchsah, sagte er freudig: Ah, Sie sind Lehrer.“ Weil der Erzähler aber zugeben muss, dass er zur Zeit nicht unterrichte, sondern in einer Buchhandlung arbeite, sagt der Beamte: „Aha, dann sind Sie Buchhändler.“ Das verneint der Erzähler wiederum und erklärt, dass er Kunden bedienen solle, aufräumen, Buchhaltung führen und Päckchen zur Post tragen. „Dann sind Sie Hausbursche! Mit Lineal und Stift strich er fein säuberlich die Bezeichnung ‚Lehrer‘ aus und setzte in seiner Handschrift ‚Hausbursche‘ darüber.“ Tatsächlich trifft die Bezeichnung die Tätigkeit des Erzählers in der Buchhandlung, die in eine Galerie umgewandelt werden soll und in der der Galerist unter klingendem Namen seine eigenen, wohl eher kläglichen Werke ausstellen will. Ein Vorhaben mit absehbarem Scheitern.
Auch das Leben des Erzählers steuert aufs Scheitern zu, doch gerade noch rechtzeitig trifft er auf Pippa, die energiegeladene und willensstarke Schauspielerin. „Pippa und ich tauschten uns über Lieblingsbücher aus, berichteten von begeisternden Inszenierungen, wiesen uns auf literarische oder theatralische Entdeckungen hin und redeten bis tief in den Nachmittag hinein.“ Sie ziehen zusammen und der Erzähler wird eher von seiner neuen starken Freundin gehalten, anstatt dass er ihr behilflich sein kann. Kompromisslos will sie ihren Weg zum Theater gehen, macht sie ihm deutlich, als er überlegt, wenigstens zeitweise als Lehrer zu arbeiten, um anschließend Geld und Zeit fürs Schreiben zu haben. „Wer erst Geld verdienen wolle, um später befreit von ökonomischen Zwängen arbeiten zu können, werde nie etwas schaffen. Zeit und Muße seien nur zu bekommen, indem man ohne Geld leben lerne“. Das ist eine deutliche Ansage.
Der Erzähler versucht sich, auch aus Gründen der Legitimation gegenüber seinem Vater, in einem Studium der Philosophie, doch vermag ihn diese Disziplin nicht zu fesseln. In der Auseinandersetzung mit ihr findet er jedoch sein Credo: „Mit Wörtern ließe sich nichts Wahres aussagen, sondern nur Fiktionales, das auf Wahres verwies, und dies konnte einzig und allein erzählend geschehen, wie es die Menschen seit frühester Zeit mit Sagen und Heldenberichten getan hatten.“ Damit ist der Weg des Protagonisten eröffnet. Doch wie er ihn weiter gegangen ist, enthält uns der Autor (bislang) vor. Nur soviel verrät er: Es braucht Mut und die Kunst des Balancierens.
Christian Haller ist mit „Die verborgenen Ufer“ ein moderner Entwicklungsroman gelungen, mit starken Episoden, genauen Beschreibungen und der Erkenntnis, dass die Ufer, zwischen denen sich das Leben abspielt, zumeist verborgen sind. Einige Uferböschungen hat er in diesem Roman allerdings freigelegt – fesselnd und beeindruckend.
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