Beim Blick von Außen wird schnell deutlich: Eine Entwicklung hin zu isolierten Nationalstaaten ließe Europa über kurz oder lang als global player von der Landkarte verschwinden. Mehr denn je brauchen wir heute eine solidarische und starke Gemeinschaft in Europa, um wirksame Politik zu betreiben.
von Evelyn Roll
Politiktheoretisch ist es ohnehin so: Nationale Referenden in europäischen Angelegenheiten sind Dummheiten, nichts als Komödien des Populismus und der Scheinbeteiligung. Sie beseitigen nicht das Demokratiedefizit der Europäischen Union, sondern sie sind ganz im Gegenteil selbst vollkommen undemokratisch.
Volksabstimmungen in den Niederlanden und in Frankreich verhinderten schon 2005, dass die lange und klug ausgehandelte Verfassung für Europa in Kraft treten konnte, in deren Präambel stand, dass die Länder Europas entschlossen sind, „immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten”.
Die Griechen wurden gefragt, ob sie den Kompromiss unterstützen, den ihre Regierung mit ihren europäischen Gläubigern ausgehandelt hatte. Die Niederländer haben sich in einem Referendum gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine entschieden.
In den meisten dieser Fälle antworten die Menschen gar nicht auf eine sachliche Frage, sondern verteilen Denkzettel und Ohrfeigen, entweder an ihre Regierung oder an die EU. Und immer stimmt nur ein Teil der europäischen Wählerschaft über etwas ab, das Europa als Ganzes betrifft. „Die” Niederländer, die sich im April 2016 gegen die Ratifizierung des EU-Ukraine-Abkommens entschieden, waren wegen der sehr niedrigen Wahlbeteiligung in Wahrheit nur 2,6 Millionen Menschen. Zweieinhalb Millionen bestimmen also über etwas, das 500 Millionen betrifft. Das ist nicht demokratisch. Das ist unfair und eine Tyrannei der Minderheit.
Es kommt noch schlimmer. Vertragstheoretisch ist es in Ordnung, dass Viktor Orbán gegen eine rechtsverbindliche Entscheidung über die Aufteilung von Flüchtlingen beim Europäischen Gerichtshof klagt. Die Möglichkeit einer solchen Klage ist Teil des europäischen Rechtssystems. Nicht mehr in Ordnung, sondern Europa kaltblütig zersetzend ist, was er demnächst vorhat: in einem Referendum darüber abstimmen zu lassen, ob die ungarischen Bürger die ausgehandelten, verpflichtenden EU-Quoten zur Verteilung von geflüchteten Menschen akzeptieren, um damit dann eine verbindliche EU-Entscheidung für das eigene Land als nicht bindend deklarieren zu können. Durch eine nationale Volksbefragung ein Instrument der Gegenlegitimität zum europäischen Recht zu schaffen, müsste eigentlich das Ende von Ungarn in Europa zur Folge haben.
Vielleicht ist es aber auch der Anfang vom Ende der Europäischen Union. Es wird, nun, da die Briten sich gegen Europa entschieden haben und die Ungarn im Herbst vielleicht gegen die Aufnahmequote stimmen, möglicherweise nicht den einen großen Knall geben, mit dem die Europäische Union auseinanderfliegt. Aber sie löst sich mehr und mehr auf in zu wenig Solidarität, Ernsthaftigkeit und Enthusiasmus und in zu viel Regelverletzung, nationalen Egoismus, Skepsis und Angsthäsigkeit seiner Politiker.
Es gibt Geostrategen in Russland, China, auch in Amerika, die das ohne jedes Mitgefühl beobachten. Nun gut, dann fällt die Europäische Union also auseinander, fein, ein Global Player und Konkurrent weniger.
Noch einmal: Müssen wir aufgeklärten, abgeklärten oder sogar leidenschaftlich überzeugten Europäer aller Länder wirklich hilflos zuschauen, wie Europa an völkischem Nationalismus zerbricht, weil wir gegen die Erosion und das Ende leider so gar nichts tun können?
Das ist falsch. Das ist ganz falsch.
Ein neues Weltbild
Jeder von uns kann zum Beispiel gleich am nächsten Wochenende mit den intelligenteren seiner Einfache-Lösung-Freunden zum örtlichen Chinesen gehen und sich an den Tisch setzen, der unter der pazifikzentrierten Landkarte platziert ist. Man kann solche Karten natürlich auch im Internet betrachten oder den Globus mit dem Pazifik-Bauch nach vorne drehen.
So also sehen alle anderen die Welt: Amerika, Lateinamerika, China, Russland, Indien, Afrika – fette Landmassen, beeindruckende Wirtschaftsräume. Ernüchternd marginal und klein dagegen an den äußeren linken Rand gedrängt auf dieser zerklüfteten Halbinsel am Westrand der eurasischen Platte: Europa, die Länder der Europäischen Union. Suchen wir unser Land: Italien, Polen, Kroatien, wo sind sie? Sogar Frankreich und Deutschland sind nicht gleich zu finden, Luxemburg oder Slowenien nur Stecknadelköpfchen.
Unter diesem Weltbild sprechen wir über: Klimawandel, Epidemien, Ebola-Viren als Waffe, Geldströme, Finanzkrisen, Informationsgeschwindigkeit, globale Wirtschaftsunternehmen, über Konzerne wie Google, über Islamfaschisten, internationalen Terrorismus, über Armut, Hunger, Gerechtigkeit und über die fast 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind.
Noch bevor das Essen kommt, ist klar: Ein Stecknadelköpfchen allein wird keine dieser Aufgaben lösen können. Es gibt keine wirksame Politik isolierter Nationalstaaten mehr. Einmauern ist keine Alternative. Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen.
Wie bestechend plausibel dagegen ist und bleibt die Idee, sich zusammenzutun und zusammenzuhalten. Dann bin ich schon mal nicht mehr eine von achtzig Millionen hier auf diesem winzigen Fleckchen, sondern eine von 500 Millionen in der erkennbaren Europäischen Union. Wir brauchen, wenn wir in der globalisierten Welt gut und sicher weiterleben wollen, nicht nur den Euro und die europäische Konföderation zum freien Handeln und Wirtschaften. Eigentlich geht es auch jetzt schon nicht mehr ohne eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine europäische Armee, eine funktionierende Europolizei. Und überhaupt nicht geht es ohne Solidarität und etwas, was man europäische soziale Marktwirtschaft nennen könnte, ohne rot zu werden.
Wer angesichts von Klimawandel, Epidemien, Finanzkrisen, Terroranschlägen oder der sogenannten Flüchtlingskrise in einem europäischen Land sagt: „Wir schaffen das”, kann mit „wir” eigentlich nur Europa meinen, genau genommen sogar die Weltgesellschaft. Und, ja, besser wäre es gewesen, wenn Angela Merkel das gleich dazugesagt hätte.
Das Buch
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Nationalismus. In fast jedem europäischen Land marschieren sie jetzt: Die Populisten. Mit nationalistischen Abschottungsphantasien, Verschwörungstheorien und Scheinlösungen sammeln sie die Stimmen der Verunsicherten und Denkfaulen. Sie wollen vor allem eins: An die Macht. Und dann? Europa abschaffen.
Zweiundvierzig Prozent der Menschen in der Europäischen Union wollen genau das ganz eindeutig nicht. Das sind 200 Millionen aufgeklärte bis leidenschaftlich überzeugte Europäer, eine gewaltige, schweigende Mehrheit, die, so Evelyn Roll, mit dem Schweigen jetzt langsam aufhören muss. Roll plädiert dafür, aktiv zu werden und sich zu vernetzen gegen den Absturz in die gefährliche Nationalstaatlichkeit und für eine ernsthafte, solidarische und leidenschaftliche europäische Agenda. Europäer aller Länder, vereinigt euch!
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