Die Himmelsscheibe von Nebra gehört zu den archäologischen Objekten, die pro Quadratzentimeter Fläche die meiste Forschungsleistung auf sich vereinen. Nun erweist sie sich als Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas. Kai Michel und seinen Co-Autor Harald Meller fasziniert besonders die Macht der Scheibe, Menschen zu verzaubern – manche vielleicht sogar ein wenig zu sehr.

Die Himmelsscheibe von Nebra
von Kai Michel
Jeder, der mit ihr zu tun hat, bekommt früher oder später die Frage zu hören: „Was haben Sie gefühlt, als Sie die Himmelsscheibe von Nebra zum ersten Mal in den Händen hielten?“ Mein Co-Autor, Harald Meller, muss sie am häufigsten beantworten, schließlich leitet er als Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt seit vielen Jahren die Erforschung des Jahrhundertfunds. Vor allem aber war er es, der die Himmelsscheibe für die Öffentlichkeit rettete, als er sie mit Hilfe der Schweizer Polizei in einer Undercover-Aktion den Hehlern abnahm.
Auf die Frage wiegelt er meist ab: Natürlich sei das ein ehrfürchtiger Moment gewesen, als er diese Bronze gewordene Sternstunde der Menschheit nach einem Jahr der Suche endlich in Händen hielt; ihre Einzigartigkeit war auch in ihrem damals schrecklich ramponierten Zustand unverkennbar. Doch letztlich sei er in der Hotelbar des Basler Hiltons zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Hehler keinen Verdacht schöpfen zu lassen. Er überlegte gerade fieberhaft, ob er ihnen die Scheibe nicht einfach entreißen sollte. Die Polizei hatte ihn offenbar aus den Augen verloren.
Ganz anders dagegen eine der Hehlerinnen. Sie erzählte, sie habe eine Vision erlebt, als sie die Scheibe erstmals berührte, und sei schnurstracks auf eine Waldlichtung in die Bronzezeit versetzt worden, worüber sie dann auch einen Roman geschrieben hat. Kein Wunder also, dass ich bis jetzt geheim gehalten habe, was mir durch den Kopf schoss, als ich die fast 4000 Jahre alte Bronzescheibe von der Größe einer guten alten Langspielplatte in den Händen hielt.
Mal verschlüsselt sie den Bauplan zu einem Perpetuum Mobile, mal ist sie ein Venuskalender oder vielleicht doch ein mondgestützter Menstruationskalender.
Als jemand, der in den letzten Jahren mit einem der bedeutendsten Anthropologen der Welt die Bibel einer evolutionären Lektüre unterzogen hat und seither als Agnostiker sogar der Kirche erklären darf, warum die Heilige Schrift als ein Tagebuch der Menschheit gelesen Sinn macht, bin ich durchaus verwöhnt, dass die Leute von den Dingen fasziniert sind, mit denen ich mich beschäftige. Aber die Begeisterung, mit der Menschen reagieren, wenn sie erfahren, dass mein neues Buch der Himmelsscheibe gewidmet ist, erstaunt mich dann doch. Von ihr scheint ein Zauber auszugehen, der die Menschen in den Bann schlägt. Sie müssen sich mit ihr auseinandersetzen. Manche können nicht anders. Im Museum kann man ein Lied davon singen.

Fan-Art at it’s Best: Die Himmelsscheibe als Häkelobjekt
Nicht bloß, dass dort schon unzählige Kekse und Torten in Scheibengestalt eingegangen sind. Die Himmelsscheibe wird auch gemalt, gehäkelt, gestickt. Und immer wieder zu Schmuck in allen Variationen verarbeitet. Die Zuschriften mit Deutungsvorschlägen, worum es sich bei ihr eigentlich handeln könnte, füllen längst Dutzende von Leitz-Ordnern. Vor allem die Sternenbotschaft erweist sich als Herausforderung, die gelöst werden will. Komplexeste astronomische Berechnungen füllen Blatt um Blatt – der Rekord liegt bei gut hundert Seiten. Immer aber sind auch, sagen wir, phantasievolle Deutungen darunter.
Worin liegt die Magie der Nebra-Scheibe?
Die Himmelsscheibe sei ein Wurmloch in eine andere Dimension des Universums, heißt es da. Oder das auf ihr verewigte Siebengestirn der Plejaden markiere den Startpunkt für Schamanenreisen durch die Sphären des Himmels. Mal verschlüsselt sie den Bauplan zu einem Perpetuum Mobile, mal ist sie ein Venuskalender oder vielleicht doch ein mondgestützter Menstruationskalender. Mitunter wird sogar behauptet, sie trage eine kosmische Botschaft, wie dem baldigen Weltuntergang zu entkommen wäre – und mein Co-Autor wird angefleht, das Geheimnis endlich zu verraten, er werde dafür dann auch gerettet.
Der Gedanke, die Himmelsscheibe sei eine Zeitmaschine taucht mit solcher Regelmäßigkeit auf, dass jeder der beteiligten Forscher schon eine Antwort parat hat. Da Harald Meller auch oberster Denkmalschützer Sachsen-Anhalts ist, erwidert er auf entsprechende Hinweise: „Selbstverständlich würde ich gerne die Zeitmaschine ausprobieren. Aber bei einer Zeitreise verschwindet auch die Himmelsscheibe – und das verbietet leider das Denkmalschutzgesetz.“ Der Astronom Wolfhard Schlosser antwortet lakonisch: „Über Ihre Zeitmaschinen-Hypothese sollten wir uns unbedingt ausführlich unterhalten. Rufen Sie mich doch gestern wieder an.“
Worin liegt die Magie der Nebra-Scheibe? Als älteste bisher entdeckte konkrete Himmelsdarstellung der Weltgeschichte verbindet sie Astronomie und Vorgeschichte und zwar auf ästhetisch ansprechende Weise in einem Bild von genialer Einfachheit. Sonne, Mond und Sterne, das erkennt doch jedes Kind. Es ist wie bei einem Bilderrätsel. Das muss doch zu lösen sein! Welche geheime Botschaft steckt dahinter? Und das ist ja nicht das einzige Rätsel, das die Himmelsscheibe bietet: Wer hat sie gemacht? Und wozu? Woher stammte das Wissen über die Sterne? Und warum wurde sie vor 3600 Jahren mit einem kostbaren Schatz auf einem Berg vergraben? Das lässt den Menschen keine Ruhe.
Unser Buch wird vermutlich einen weiteren Faktor hinzufügen: den Wunderlampen-Effekt! Erinnern Sie sich? Kaum hat Aladin in einer Höhle eine merkwürdige Lampe gefunden und nach Hause gebracht, beginnt seine Mutter das schmutzige Ding zu putzen. Bereits nach dem ersten Reiben entweicht der Öllampe ein riesenhafter Dschinn. Vor Schreck über den unerwarteten Geist fällt Aladins Mutter in Ohnmacht, ihr Sohn dagegen macht das Beste draus.
Zugegeben, an der Himmelsscheibe von Nebra ist ein wenig mehr als nur geputzt worden. Als wir vor gut drei Jahren beschlossen, dieses Buch zu schreiben, hatte ein internationales von Harald Meller geleitetes Forschernetzwerk schon jede Menge hervorragende Arbeit geleistet. Es hatte in Erfahrung gebracht, woher das Gold und das Zinn der Scheibe kommen (aus Cornwall), das Kupfer (aus den Alpen), die Technik (aus der Ägäis) und die codierte Schaltregel (aus Mesopotamien).
Der Himmelsscheibe haftete stets etwas von einer Erscheinung an: wie ein Blitz in der Nacht, davor und danach Finsternis.
Trotzdem war die Scheibe immer ein Solitär geblieben. Das liegt daran, dass wir alles Mögliche über das alte Ägypten und das Zweistromland wissen, uns unsere eigene Vorgeschichte aber weitgehend unbekannt ist. Deshalb haftete der Himmelsscheibe stets etwas von einer Erscheinung an: wie ein Blitz in der Nacht, davor und danach Finsternis. Doch in den drei Jahren Arbeit an diesem Buch haben Archäologen, Metallurgen und Genetiker so spektakuläre Dinge herausgefunden – nicht zuletzt, weil wir durch das Schreiben immer wieder auf neue forschungsrelevante Fragen stießen –, dass wir uns tatsächlich heute fühlen wie in einem Märchen aus 1001 Nacht.
Wir hätten uns kaum träumen lassen, dass wir ein Reich mit Königen, gewaltigen Grabhügeln und rätselhaften Heiligtümern rekonstruieren konnten, das erste Staatswesen Mitteleuropas, dessen Beziehungen von Stonehenge bis nach Ägypten und in den Vorderen Orient reichten. Und das alles schon vor gut 4000 Jahren im Herzen Europas, im heutigen Sachsen-Anhalt, wo es nicht einmal die Schrift gab. Sogar auf die Spur des ersten belegbaren Fürstenmords der Weltgeschichte sind wir gestoßen – ein mit großer Vehemenz ausgeführter Meuchelmord.
Und alles das ist ausgelöst worden durch eine einzige Bronzescheibe, auf die zwei Sondengänger zufällig an einem heißen Sonntagmittag stießen und die sie zunächst für einen Eimerdeckel hielten. Eine Bronzescheibe von der ich, als ich sie schon vor der ersten großen Ausstellung in den Händen halten durfte, dachte: „Hoppla, ist die schwer!“
PS: Als hätte es eines letzten Beweises bedurft, um die Magie der Himmelsscheibe zu demonstrieren, titelte die BILD-Zeitung – kaum war dieser Blogbeitrag geschrieben – über unser Buch: „Geheimnis der Himmelsscheibe gelöst“. Und das auf Seite 1! Boris Becker musste mit der Randspalte vorlieb nehmen. Doch ich glaube, die BILD irrt da mächtig – das Geheimnis der Himmelsscheibe fängt jetzt erst so richtig an.
Das Buch
Sie ist die älteste Darstellung des Himmels, ihre Entdeckung war eine archäologische Sensation: Die Himmelsscheibe von Nebra stammt aus keiner Hochkultur des Altertums, sie wurde im Herzen Europas gefunden. Welches verlorene Wissen birgt die rätselhafte Scheibe aus Bronze und Gold? Wer waren die Menschen, die sie vor 3.600 Jahren erschaffen haben?
„Die Himmelsscheibe von Nebra“ auf den Seiten der Ullstein Buchverlage