Herbert Eisenreich über Thomas Bernhard: "Verstörung" IRRSINN IM ALPENLAND
Von Thomas Bernhard, den die Kritik, nicht zu Unrecht, mit ermunterndem Beifall begrüßt hat, ist jetzt ein drittes Prosa-Buch erschienen: »Verstörung«. Angeblich ein Roman:
Ein Landarzt irgendwo in der östlichen Steiermark -- nimmt seinen Sohn auf Visite mit. Er tut das selten: aus Angst, die allzu innige Konfrontation mit dieser »durch und durch kranken, zur Gewalttätigkeit sowie zum Irrsinn neigenden Bevölkerung« könne den gesund-jungen Studenten der Montanistik »verstören«. »Es sei aber falsch', meint der Doktor, »sich der Tatsache, daß altes krank und traurig sei, zu verschließen.« Freilich: »Es ist immer ein Risiko.«
Die Angst des Doktors ist nicht ganz unberechtigt; denn was der Sohn da im Lauf eines Tages zu sehen und hören bekommt, diese Revue von Kretins und Krüppeln und Spinnern und Perversen und Brutalen, von Gestörten, Verstörten, Zerstörten, die eben dadurch auch Störer, Verstörer, Zerstörer sind: Das kann einem Hören und Sehen vergehen lassen, Dem jungen Mann indessen verschlägt es nicht einmal die Sprache: Er rekapituliert das Abenteuer dieses Tages.
Da hat ein stockbesoffener Bergmann eine Gastwirtin totgeschlagen; ein reicher Industrieller schreibt in mehr als mönchischer Wald-Einsiedelei an seinem philosophischen Lebenswerk, das er Blatt für Blatt um des Fortschritts dieses Werkes willen vernichtet; ein paar Burschen töten die hundert Tiere einer exotischen Vogelsammlung; ein zur Musik begabter junger Krüppel verfault in seinem vergitterten Bett; und so geht das weiter bis Seite 92, ohne Unterbrechung in einer Intensität, die das an sich monströse Milieu, in dem der (be-)handelnde Vater und der beobachtende Sohn sich da bewegen, uns absolut glaubwürdig macht, und, mehr noch: nicht Ekel aufkommen läßt, sondern den Geist uns freifegt für heilsames Schaudern. Diese 90 Seiten gehören in jede Muster-Sammlung moderner deutscher Prosa.
Auf Seite 93 gibt es dann die einzige Zäsur, nämlich den Zwischen-Titel »Der Fürst«. Und nach der spannenden Introduktion, nach der sprachlich und sachlich so glänzend gelungenen Einstimmung in die Thematik, erwarten wir nun die Steigerung bis zum Gipfel und erleben statt dessen die Verflachung des Themas in ein Monologisieren rund um den heißen Brei. Bis zum Schluß des Buches redet nun, praktisch ununterbrochen, der Fürst
ein mild wahnsinniger Großgrundbesitzer -, und zwar über eigentlich nichts, da er beiläufig über alles redet.
In den knappen Szenen der Introduktion war, rund um die Innen-Bezirke der Seele, äußere Realität gehäuft: Beruf und Liebhaberei, Familie und Wohnung und überhaupt handfester Alltag: zum Greifen, Riechen, Schmecken nahe (zum Beispiel die Amtshandlung nach dem Totschlag). Hier aber, auf der Burg des Fürsten, zerdehnt sich die Innen-Welt, da so gut wie keine äußere mit ihr korrespondiert, ins Nebulose.
Wir hatten gewiß nicht eine Antwort darauf, wohl aber eine Konkretisierung, eine äußerste Zuspitzung der Frage nach dem Kranksein erhofft, und der Autor zerredet sie uns; und zwar so konsequent, daß wir nicht einmal zu sagen vermöchten, wovon der Fürst da stundenlang redet, und geschweige denn, warum er das tut.
Er redet auch eigentlich nicht, er laicht. Und zwar eine Unzahl von Wörtern und Sätzen, die man, da sie aus keiner sinnlichen Erfahrung wachsen und keine Außenwelt hereinziehen, beliebig vertauschen, auswechseln, ändern könnte -- was in dem Buch denn auch mehrmals geübt wird.
Was uns dann da in diesem Selbstgespräch geboten wird, ist weiter nichts als eine für Erkenntnis und Selbsterkenntnis unbrauchbare (und obendrein langweilige) Diffamierung des konkreten Menschen, in der, nebenbei bemerkt, ein antirationaler, ein antizivilisatorischer, ein antiurbaner Affekt offenbar wird, der im politischen Bereich die Wurzel jedes (grünen, braunen, roten oder sonstigen) Totalitarismus ist.
Und in der Tat: Es wimmelt in diesem Buch von (noch dazu völlig unmotivierten> Invektiven gegen Idee und Realität des demokratisch organisierten Staates, die sich von denen gewisser ahistorisch denkender bundesdeutscher Jungdichter nur durch das bessere Deutsch unterscheiden. Mit Thomas Bernhard ist inmitten der dezidiert urbanen Literatur Österreichs wieder einmal der Urwald ausgebrochen.
Das wesentliche Kriterium dieses Buches ist der Verzicht auf Handlung. Die Introduktion besteht aus (freilich durch indirekte Rede gebrochener) Handlung, das Hauptstück aber ist monologische Meditation, also Ausdruck reiner Innenwelt. Und völlig nichtssagend. Denn in gedachtem Hauptstück vergißt oder verleugnet unser Autor eines der fundamentalsten (und über die Kunst ins Leben weisenden und durch das Leben legitimierten) Kunst-Gesetze, nämlich: daß nur inneres (oder nur äußeres) Schicksal nicht darstellbar ist, weil es ein nur inneres (oder nur äußeres) Schicksal, ja überhaupt ein isoliertes Innen (oder Außen) gar nicht gibt, sondern nur deren Korrespondenz, deren meist mehr oder minder gestörte Identität.
Die Isolierung des äußeren Schicksals erleben wir bis zum Überdruß in dem, was Doderer die »Zeitung zwischen Buchdeckeln« genannt hat: im sogenannten Zeitroman. Es ist zwar natürlich und verständlich, wenn die Dichter, spätestens ab Musil, eine Gegenposition beziehen; aber: Einem Fehler darf man nicht einen anderen Fehler, man muß ihm das Richtige entgegensetzen.
Die Reportage-Kunst wird nie und nimmer durch Labor-Kunst, sondern nur durch Kunst überwunden, und Kunst ist, ob wir uns nun auf Hemingway oder Homer berufen, halt immer noch die Sichtbarmachung von Gefühlen in Handlungen. Eine einzige Tat des Fürsten würde uns sehr viel präziser über seine Seelenlage ins Bild gesetzt haben als seine über 140 Seiten ausgegossene psychische Diarrhöe -- und uns sehr viel mehr ins Bild gesetzt haben über uns selber.
Doch unser Autor praktiziert monomanischen Seelen -- Naturalismus: Nichts will er von außen, etwa gar in der ironischen Distanz, sehen, sondern alles mit sich selber identifizieren (und deshalb: verwechseln, wofür es, wie angedeutet, zahlreiche Belegstellen gibt, inhaltliche und formale).
Im Anfang sagt der Ich-Erzähler (indirekt) von sich: »Gerade ich neigte immer dazu, mich von allem und jedem verstören zu lassen«, und das heißt: »über alles und jedes auf eine mich schädigende Weise nachzudenken«. Er, der Erzähler, denkt aber nicht; er begnügt sich damit, die Selbstgespräche der anderen zum Material seines eigenen Selbstgesprächs zu nehmen und, anstatt denkend sich zu distanzieren, referierend sich zu identifizieren. Es kann aber die Natur nie durch die Natur, sondern logischerweise immer nur durch etwas anderes dargestellt -- und das heißt: verständlich gemacht -- werden, zum Beispiel durch die Formeln der Mathematik, oder am deutlichsten, deutbarsten durch die Kunst.
In dem Verzicht auf Handlung liegt endlich auch der Verzicht auf lebensgemäße Kontrapunktik begründet. Es wird da das simple Faktum ignoriert, daß Leben nicht im Extrem, sondern immer nur in irgendeiner -- und sei es auch pendelnden -- Balance zwischen den Extremen möglich ist. Man kann gar nicht einsam sein ohne die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nicht heiter ohne Todesbewußtsein, nicht stark ohne Eingeständnis der Schwäche, nicht krank ohne Ahnung von der Gesundheit; und: Es gibt keinen Geist ohne Fleisch, und kein Fleisch ohne Geist. In dieser -- wie in jeder -- »Verstörung« aber werden die Phänomene künstlich so weit isoliert, bis sie, infolge ihrer nun völligen Beziehungslosigkeit, einfach nicht mehr wahr, nämlich nicht mehr auf unsere Erfahrungen anwendbar, sind.
Kurzum: Keine Handlung, keine Distanz, kein Kontrapunkt -- das sind die drei Aspekte des einen Sachverhalts: keine Wahrheit. Eines Sachverhalts, der zwar der ganzen gegenstandslosen (und deshalb sich, irrtümlich, für modern haltenden) Literatur abzulesen ist, aber wirklich glaubhaft wird erst dort, wo ein Meister sich auf den Holzweg begibt -- wie eben Thomas Bernhard in seiner »Verstörung'