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 Literatur im Lichthof (6/2015) - Zeitblende

 


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Vortrag von Ilse Somavilla am 4.12.2014 im Literaturhaus am Inn in der Reihe "Im Fokus: Brenner-Archiv "

  Ludwig Wittgenstein: „Die Arbeit an der Philosophie“ als „Arbeit an Einem selbst“

 

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Iris Kathan:  Spuren im Schnee. Ortslektüren von Vent

Foto: Iris KathanIn Norbert Gstreins Roman Die ganze Wahrheit (2010) fährt der Ich-Erzähler, Lektor eines kleinen unbedeutenden Wiener Verlages, mit Dagmar, der Frau des Verlegers, in ein Tiroler Gebirgsdorf, um das Grab der (fiktiven) Schriftstellerin Anabel Falkner aufzusuchen. Von der österreichischen Provinz wie vom Werk Anabel Falkners hält der Ich-Erzähler wenig. Unwillig also fährt er „in das hinterste Tal und im hintersten Tal ins hinterste Dorf“[1] in Tirol, „einem Nest an der Waldgrenze, mit hundertfünfzig Einwohnern, ein paar Kühen und Schafen und im Winter einem Vielfachen davon an Skifahrern“[2]. Es ist Februar, der Ort liegt tief verschneit und die beiden müssen sich am Friedhof den Weg durch den hüfthoch liegenden Schnee bahnen. Obwohl der Friedhof überschaubar ist, finden sie das Grab zunächst nicht. Anabel Falkner liegt als Selbstmörderin an der Friedhofsmauer unter Touristen, ihr Grabstein unter Schnee begraben.  Auch die fortgesetzte Spurensuche bringt wenig ans Licht, die Mutter der Toten erzählt ihre eigene Version der Geschichte, wo das Jugendzimmer der Verstorbenen gelegen haben mag, weiß sie „nach den vielen Umbauten, die es seit damals gegeben habe“[3], nicht mehr zu sagen, der Bruder schweigt. Ein Spaziergang durchs Dorf, der allein dazu dient, den in Tagebuchfragmenten angedeuteten Schauplatz einer Kindheit bestätigt zu finden, auf scheinbar authentische Lebensspuren zu stoßen, führt buchstäblich ins Trübe: anstelle des von der Schriftstellerin beschriebenen Totenkopfes hinter dem Altar der Kirche findet sich neben „Stielbürste, Besen“, ein „Putzkübel voll Schmutzwasser“[4]. Der Ich-Erzähler kann der nachträglichen Auratisierung der Orte wenig abgewinnen. Die Orte, so scheint es, lassen die Abwesenheit von Anabel Falkner nur noch stärker zu Tage treten. Die Spurensuche am biographischen Schauplatz setzt vor allem Imagination, Identifikation und Formen der Folklorisierung in Gang. Sie überschreibt die Lebensspuren der Verstorbenen. Bezeichnenderweise hören die Figuren in dem einzigen Moment, in dem ein wichtiges Detail aus Falkners Biographie angedeutet wird, „nicht richtig zu“: „es hatte wieder zu schneien begonnen, und wir starrten in den Nachthimmel, das schwebende Getänzel der Flocken im Licht, das aus den Fenstern fiel, ihren wirbelnden Sog der Finsternis“[5]. Gstrein spielt in diesem Kapitel, das das Kernthema des Romans reflektiert und verdichtet, mit der eigenen Biographie, mit intertextuellen Bezügen zu Einer, und, ohne dabei je explizit zu werden, mit Bezügen zum Ort seiner Herkunft: Vent.

Foto: Iris KathanIn keinem der Texte, in denen Gstrein Spuren legt zum Ort des eigenen Heranwachsens, wird Vent je beim Namen genannt. Häufig erweisen sich die in den Texten gelegten Spuren – Orts- und Personennamen, vor Ort kursierende (Gründungs-)Mythen – als mehrbödig, vielbezüglich, fintenreich. Der Ort wird als fiktionaler ausgewiesen.
Komplementär dazu verfährt Wilhelmine von Hillern (1836–1916), die ihren 1875 zunächst als Fortsetzungsroman erschienenen Trivial-Roman Die Geyer-Wally. Eine Geschichte aus den Tyroler Alpen in der Gegend um Vent ansiedelt, dabei mit Lokalkolorit nicht spart. Es zeugt von einer gewissen Ironie, dass Hillern die Geschichte einer jungen Frau, die, um die Anerkennung des Vaters zu erringen, in die Rolle des ersehnten Sohnes und Hoferben schlüpft und in der Folge in einen Rollenkonflikt gerät, ausgerechnet im hinteren Ötztal verortet. Heimat bist du großer Söhne titelt noch im Winter 2003/2004 das Tourismus-Magazin Saison einen Artikel über Tourismus-Pioniere in Tirol, in welchem dem Ötztal (hier den Familien Scheiber und Falkner) prominent Platz eingeräumt wird.
Mit äußerster Konsequenz und der Erwartungshaltung des zeitgenössischen Publikums entsprechend wird die Figur der widerspenstigen Wally im Handlungsverlauf zurechtgebogen und an den für sie gesellschaftlich vorgesehenen Platz manövriert. Der große Publikumserfolg des Romans dürfte sich neben erzähltechnischen Strategien vor allem auch dem Umstand verdanken, dass es Hillern gelingt, die Figur der Wally als Identifikationsfigur für verschiedenste Sehnsüchte und Projektionen offen zu halten. Bekanntlich literarisierte Hillern mit ihrer Geierwally eine biographische Episode aus dem Leben einer Zeitgenossin, der aus dem Lechtal stammenden Malerin Anna Stainer-Knittel (1841­-1915). Die Künstlerin hatte 15- und 22-jährig einen Adlerhorst ausgehoben, ein Unterfangen, das gewöhnlich Männern vorbehalten war. Liest man Stainer-Knittels Erinnerungen an ihr Adlerhorsterlebnis, die Ludwig Steub (1812–1888) 1863 unter dem Titel Die Lechthalerin im Adlerhorst in der Illustrirten Zeitung erstmals veröffentlicht, wird deutlich, wie konsequent Hillern, die Stainer-Knittel persönlich kannte,  selbst diese biographische Miniatur überschreibt. Interessanterweise wird Stainer-Knittel der Adlerhorst, an dem sie mit einem Rötel Jahr und Namen hinterlässt, zum Erinnerungsort ihrer beruflichen Emanzipation.
Hillern verlegt den Ort der Handlung vom Lechtal in das touristisch populärere Ötztal, greift also bei der Schauplatzwahl auf schon bestehende Wahrnehmungsschablonen und vorgefertigtes Bildgut zurück und bedient vor allem Klischees. Wenig überraschend arbeitet sie in dem generell auf Symmetrien bedachten Roman mit dem Gegensatz von Bergeshöhen und Talestiefen, Natureinsamkeit und dörflichem Gefüge sowie mit Bildbereichen des Erhabenen. Sie verarbeitet lokales Sagengut und ein Wissen, das sich vor allem aus der Reiseliteratur der Zeit zu speisen scheint. Die Berg- und Gletscherwelt des Hochjochs und des Marzellferners sowie die nahe Vent gelegenen Rofenhöfe bilden den Rahmen eines erzwungenen gesellschaftlichen Ausstiegs, fungieren als Asylraum und Verbannungsort gleichermaßen.  Dass es sich dabei vor allem um eine touristische Perspektive auf ein in überregionaler Wahrnehmung gerade erschlossenes Territorium handelt, ist unschwer zu erkennen. 1866 bezeichnet Adolph Schaubach in seinem Buch Die Deutschen Alpen Vent als den „Mittelpunkt für den Fernwanderer Tirols“[6]. Im selben Jahr wird der Weg über das Hochjoch fertig gestellt. Ein Wegebauprojekt, das Franz Senn initiiert hat, und das, wie Senn 1863 im Bemühen um finanzielle Unterstützung argumentiert, „diese schönste Partie der Oetzthaler Gletscher dem Publikum jedes Standes, namentlich auch Frauen“[7] öffnen sollte. Zwei Jahre später, im November 1868, lässt Senn auf eben diesem Weg nahe der Rofenhöfe seinen Leibbergführer Cyprian Granbichler sterbend im Schnee zurück (nicht ohne ihm noch die Absolution zu erteilen), nachdem der 33-Jährige ihn sicher über das winterliche Joch gebracht hatte. Die Cyprian Granbichler gewidmete Schrift Aus dem Leben eines Gletscherführers samt einem für heutige Leser befremdlich wirkenden Bericht Franz Senns zum Tod seines Weggefährten erscheint 1869 in München.
Auch Wally folgt einer „Furche im Schnee“ den Rofenhöfen entgegen, „de[m] höchste[n] bewohnte[n] Ort in ganz Tirol, de[m] letzte[n] im Ötztal, wo Adlern gleich noch Menschen wohnen, nur zwei Familien, die Klötze und die G'streins“[8]. Unfern der Rofenhöfe gerät sie in einen Schneesturm, droht den Erfrierungstod zu sterben, als ihr, wie schon Cyprian Granbichler, „die Klötze von Rofen“, „die berühmtesten Fremdenführer in ganz Tirol“ [9] zu Hilfe eilen, allerdings nicht vergebens. Der vielfach (für Oper, Bühne und Film) adaptierte Stoff der Geierwally zeichnet Spuren, zieht eine Flut von vor allem visuellen Bildern nach sich, trägt zur Erfindung Tirols wesentlich bei. Noch 1987 verwendet die Tirol-Werbung die Figur der Geierwally für eine Werbekampagne.

Foto: Iris KathanSchon 1846 hat Ludwig Steub in Drei Sommer in Tirol dem Ort Vent einige Aufmerksamkeit gewidmet, diesen Beitrag 1871 bei der Zweitauflage seines Standardwerks ergänzt. Steub kontrastiert darin seine Eindrücke von 1842 mit jenen von 1871. Zeugen seine Wahrnehmungen von seinem ersten Vent-Aufenthalt von einem Ort, der nicht auf die Bedürfnisse von Fremden eingestellt ist, so konstatiert Steub in seiner Neuauflage, dass Vent „bekanntlich ein klein Paris geworden“[10]. Müssen Steub und seine Begleiter 1842 während der Messe vor der Kirche warten, weil das Gasthaus abgesperrt und in der Kirche kein Platz für die Fremden ist, um nach der Messe vom Wirt aus der Wirtsstube in ihr Zimmer komplimentiert zu werden, weil „die Stube gerade für so viele Männer gebohrt sei als in der Kirche Platz haben“[11], so verfügt Vent 1871 schon über „zwei Gaststuben, elf Zimmer und dreißig Betten“[12]. Steub markiert mit seiner Beschreibung von Vent die Anfänge eines gesellschaftlichen Umbruchs, die insbesondere die Zeit- und Raumverhältnisse von Vent wie vergleichbaren Orten auf den Kopf stellen wird. Im frühen 20. Jahrhundert beginnt Vent, das bis zur Jahrhundertwende nur über zwei Gasthäuser verfügt, langsam zu wachsen. Zum Zeugen dieser Gründerzeit wird Ernst Krenek, der sich in den frühen 1920er Jahren mehrmals in Vent aufhält, ein letztes Mal 1937, unmittelbar vor seiner Emigration ins amerikanische Exil. Sölden findet Krenek in den Inflationsjahren von deutschen Touristen überschwemmt, mit seinen Eltern flieht er „in die Wälder, wo wir gewöhnlich verärgert, niedergeschlagen und stumm saßen und in einen der tosenden Gebirgsbäche starrten“ [13]. In Vent hingegen findet er, dem Fremdenverkehr gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt, dabei selbst Alpentourist par excellence, die ersehnte Ruhe. Das Ideal eskapistischer Urlaubsphantasien, die Abgrenzung Vents vom übrigen Ötztal als Ort der Ruhe, Abgeschiedenheit und Authentizität, wird bis in die Gegenwart zum bestimmenden Narrativ der Tourismus- wie Textgeschichte von Vent.

Inhaltliche wie musikalische Überlegungen, die Krenek in Vent anstellt, fließen in seine 1927 uraufgeführte Zeitoper Jonny spielt auf ein. Große Teile der Handlung sind im Hochgebirge bzw. in einem Alpenhotel angesiedelt. Die Mehrdeutigkeit des Gletschermotivs, das zwischen den Polen Leben und Tod, Festigkeit und Bewegung changiert, findet auf verschiedensten Textebenen des Librettos ihren Niederschlag. Während eines Aufenthaltes in Vent 1923 beschäftigt Krenek ein Artikel einer Alpenvereinszeitung, in dem es um Gletschertote geht, die, einmal in eine Spalte gefallen, „nach dreißig oder mehr Jahren in gut erhaltenem, gefrorenem Zustand vom Gletscher an der Mündung (dort, wo die verschiedenen zusammenlaufenden Ströme die eisige Hülle verlassen) ausgestoßen“[14] würden. Ein Motiv, das in Texten über Vent immer wieder zu finden ist. In Norbert Gstreins Buch Der Kommerzialrat (1995) wird selbiger Mitte Februar tot und steif gefroren an der Friedhofsmauer gelehnt im Schnee gefunden: „die Freiwilligen, die ihn fortschafften, bevor die ersten Gäste unterwegs waren, wußten zu berichten, daß sie ihm die Glieder brechen mußten, um ihn auf der Bahre auszustrecken, und erzählten stets von neuem, er hätte ausgesehen, als wäre er schon länger dagelegen“[15]. Der Kommerzialrat, schon zu Lebzeiten eine Legende, ist buchstäblich zum Denkmal erstarrt. Das in diesem Text wiederkehrende Denkmal-Motiv bezeichnet Momente der Fixation von Wirklichkeit, Momente der Abbildung, die in einem spannungsgeladenen Verhältnis stehen zur Relativierung von Wahrheiten und Wirklichkeiten durch die multiperspektivische Erzählweise Gstreins. Gleichzeitig verweist es auf etablierte und versteinerte Machtstrukturen im Dorf, repräsentiert durch einzelne Männer, Pioniere des Fremdenverkehrs, die über Generationen modellbildend sind, scheinbar ideale Lebensläufe präfigurieren, und mit deren Montage wie Demontage Gstrein in seinen frühen auf Vent bezogenen Texten immer wieder spielt.

Im imaginär anmutenden Verschwinden des französischen Schriftstellers Julien Torma (1902–1933) verdichten sich das Gletschertoten- und Denkmalmotiv biographisch. Die letzte Fotografie zeigt ihn, der sich im Umkreis der französischen Avantgarde der 1920 Jahre bewegte, zu Lebzeiten vier Bücher veröffentlichte und als Paradeautor der Pataphysik (der „Wissenschaft von den imaginären Lösungen“) gilt – in kurzen Lederhosen am Mönchsberg stehend. Wenig später zieht er nach Vent, quartiert sich im Gasthof Wildspitze ein. Am 9. Februar verlieren sich die Spuren des an Schwindsucht erkrankten Autors im Schnee, von einer Wanderung kehrt er nie zurück. Offen bleibt, ob es sich bei Torma, für dessen leibliche Existenz es bislang keine stichhaltigen Belege gibt, um eine Kunstfigur handelt. Denkt man sich das Leben des Julien Torma als fiktionale Schriftstellerbiographie, so gibt es wohl kaum einen besseren Sterbeort als Vent: wo ein Verschwinden mit offenem Ausgang möglich ist.



Eine literarische Exkursion nach Vent veranstaltet das Literaturhaus am Inn gemeinsam mit Iris Kathan im Juni 2015.



[1] Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. München 2010. 91.
[2] Ebd.
[3] Ebd. 93.
[4] Ebd. 99.
[5] Ebd. 97.
[6] Adolph Schaubach: Die deutschen Alpen II. Nordtirol, Vorarlberg, Oberbayern für Einheimische und Fremde geschildert. 2. Aufl. Jena 1866. 115.
[7] Franz Senn zitiert nach Hannes Schlosser: Alpingeschichte kurz und bündig. Vent im Ötztal. Innsbruck 2012. 46.
[8] Wilhelmine von Hillern: Die Geier-Wally. Eine Geschichte aus den Tiroler Alpen. Leipzig 1921. 101.
[9] Vgl. ebd. 102.
[10] Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. Zweiter Band. 3. Aufl. Innsbruck 1996. 80.
[11] Ebd.
[12] Ebd. 81
[13] Ernst Krenek: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. 1. Aufl. Wien 2012. 652.
[14] Ebd. 475.
[15] Norbert Gstrein: Der Kommerzialrat. Bericht. 1. Aufl. Frankfurt a. Main 1997. 144.

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