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 Literatur im Lichthof (6/2015) - Weitwinkel

 

 

Erika Wimmer: Zu Milena Mellers Zyklus feuerlinie. 20 Arbeiten zu Georg Trakl (2014)

Einführung anlässlich der Präsentation am 08.11.2014 in Innsbruck, Schloßfeld 9

© Milena Meller: feuerlinieIn der Auseinandersetzung mit Milena Mellers kleinformatigen Arbeiten zu Georg Trakl, unter dem Titel feuerlinie zu einem Zyklus zusammengeführt, ist es zunächst von Interesse, sich den größeren Kontext zu vergegenwärtigen. Mehr als andere Dichter hat Trakl sowohl mit seinem Werk als auch mit seiner Biografie auf die Literatur und die Kunst gewirkt. Das Geheimnisvolle, das seinen Texten eignet, das Dunkle, das seine Biografie, sein kurzes Leben kennzeichnet (Trakl ist 27jährig im Krieg gestorben), hat wohl stark dazu beigetragen, dass Künstlerinnen und Künstler seit jeher fasziniert von ihm waren. Und so ist es eine Tatsache, dass die künstlerisch-literarischen Auseinandersetzungen mit Trakl ausgesprochen reichhaltig und qualitativ vielfältig sind. Die Rezeption und damit auch die Wirkung sind außerdem international: Trakls Texte wurden ins Englische, Französische, Italienische und Spanische, des Weiteren ins Polnische, Slowakische, Russische, Türkische, sogar ins Chinesische und Japanische übersetzt.
© Milena Meller: feuerlinie       Poetische Spuren, also Gedichte, die sich auf Trakl beziehen, finden sich in großer Zahl seit Trakls Tod bis heute: Zu nennen wären Namen bedeutender Lyrikerinnen und Lyriker, von Else Lasker-Schüler über Ilse Aichinger, von Rose Ausländer über Robert Walser bis hin zu Erich Fried. Zahlreiche noch lebende Dichter und Dichterinnen – Robert Schindel, Michael Donhauser, Friederike Mayröcker, Ferdinand Schmatz und viele andere mehr – haben Gedichte mit Bezügen zu Trakl geschrieben. Hans Weichselbaum, Salzburger Trakl-Forscher und Herausgeber der Anthologie Trakl-Echo. Poetische Trakl-Spuren aus 100 Jahren (2013), berichtet allerdings auch von Distanzierungen: Thomas Bernhard etwa habe 1957 in einer Stellungnahme geklagt, dass der Einfluss Trakls auf seine Arbeit „vernichtend“ gewesen sei; Bernhard sagte: „Hätte ich Trakl niemals kennengelernt, wäre ich heute weiter“ (Trakl-Echo, Vorwort, 9). Doch diese Aussage lässt letztlich auf nichts anderes als eine gleichermaßen starke Verbindung Bernhards mit dem Salzburger Dichter schließen. Es mag auch anderen Autoren so ergangen sein, dass sie sich von Trakl ‚lossagen‘ mussten, um frei von ihm zu werden.
       Es ist keineswegs nur die Poesie, die auf Trakl rekurriert, wir kennen auch Prosa, die sich mit dem Dichter beschäftigt. Ein Beispiel aus der Region Tirol sei aus einem besonderen Grund erwähnt: Der Roman Maria T. – eine Mutter von Gertrud Spat (Stroemfeld-Verlag 2013) setzt sich mit der in Biografien meist als abweisend und kalt charakterisierten Mutter Trakls auseinander. Die Autorin ihrerseits war Milena Mellers Mutter, sie ist in Tirol vielen als geschätzte Musikerin und Literaturvermittlerin, außerdem als Verfasserin des bekannten Tirol-Lexikon. Ein Nachschlagewerk über Menschen und Orte des Bundeslandes Tirol (1983) in Erinnerung. 
       © Milena Meller: feuerlinieDoch Trakl taucht nicht nur in Gedichten oder Romanen auf, sondern auch im Theater, ebenso im Tanztheater – auch hier können Beispiele aus der Region Tirol angeführt werden: 2010 wurde am Tiroler Landestheater das Tanzstück Georg Trakl von Enrique Gasa Valga mit großem Erfolg aufgeführt; und 2012 war im Rahmen des „Tiroler Dramatiker Festivals“ Petra Maria Kraxners Stück über Trakl Die Bläue bleibt in etwa zu 52 % zu sehen.
       Große Dichter, und ich folge mit dieser Aussage einmal mehr Hans Weichselbaum, seien daran zu erkennen, dass sie eine „Schule hinterlassen“ (Trakl-Echo, Vorwort, 9), d. h. auf andere eine tiefe Wirkung ausüben und zu weiteren Kunstwerken inspirieren. Als ein Beispiel für die Trakl-Wirkung im Bereich der bildenden Kunst sei auf eine Radierung von Markus Vallazza verwiesen, nach dem viel gesehenen Profil-Foto von Trakl hergestellt. Doch Vallazza hat keineswegs nur nachgebildet, er hat in dieser künstlerischen Arbeit den Lebensekel des Dichters herausgearbeitet, ihn sichtbar und spürbar gemacht.

Nun aber zu Milena Mellers Zyklus feuerlinie: So unprätentiös, so zurückgenommen sich dieser Zyklus auf den ersten Blick gibt, so gewichtig sind die Fragen, die dahinter stehen, die diese Arbeit motiviert haben. Es sind Fragen, die sich auf das Leben Georg Trakls beziehen, aber letztlich darüber hinausweisen. Der vordergründige Aspekt, der auch schon im Titel signalisiert wird, ist der Krieg, sind die Themen Gewaltausübung, Kriegserfahrung, Kriegstrauma. Historisch gesehen geht es in Milena Mellers Arbeit ganz konkret um den Ersten Weltkrieg; daneben steht aber auch der individuelle, sehr persönliche Konflikt des Menschen Trakl. Dieser Konflikt war, wie man weiß, keineswegs nur eine vorübergehende Krise, Trakls Leben war vielmehr von Kind an und bis zuletzt durchgehend von einem existentiellen Konflikt beherrscht – vielleicht könnte man auch von einem unlösbaren und sich mitunter gefährlich zuspitzenden Kriegszustand im Menschen Georg Trakl sprechen.
© Milena Meller: feuerlinie       Doch Milena Meller ist weit davon entfernt, Trakl erklären, ihn womöglich psychologisch ausdeuten zu wollen. Sie selbst sieht es durchaus als nicht ganz unproblematisch an, sich einer historischen Persönlichkeit künstlerisch anzunähern. Was weiß man denn tatsächlich über eine vermeintlich bekannte Persönlichkeit? Und wie könnte man sich anmaßen, aufgrund einiger Informationen eine Einschätzung dieser Persönlichkeit zu geben? Milena Meller schätzt nicht ein, sie urteilt nicht, sie sagt nichts Definitives aus, sie illustriert auch nicht. Sie fragt nach: Sie fragt, was von einem Menschen bleibt, welche Bilder überdauern und welche Bilder wir uns von einem Ereignis, einem Menschen, von der Welt insgesamt machen. In ihrer Annäherung geht sie bewusst assoziativ vor; sie arbeitet mit bekannten Chiffren, doch ihr Zugang ist ein offener, mehrschichtiger. Wenn sie etwa mit Trakls bekanntem Profilbild arbeitet, so verfremdet sie dieses Bild, lässt es vor unseren Augen verschwimmen; oder sie fügt etwas hinzu, gibt durch Übermalen des Fotos dem Bekannten einen besonderen Akzent und damit eine Bedeutung, die es bislang nicht hatte. 
       In einem kurzen konzeptuellen Text (nicht publiziert) schreibt Milena Meller Trakl eine „schmerzhafte Intensität der Wahrnehmung der Welt“ zu. Diese überaus intensive Weltwahrnehmung war, davon dürfen wir ausgehen, immer da, angesichts der Gräuel des Krieges aber wurde sie ins Unerträgliche gesteigert und hat schließlich zu seinem frühen Tod geführt.
       Besonders hervorzuheben ist, dass die Künstlerin sich zwischen dem konkret Überlieferten und dem Mythisch-Traumhaften bewegt. Sie zieht Material aus der Zeit des Ersten Weltkriegs heran – sehr interessantes Material (Landkarten, einerseits gängige Karten aus der k. u. k.-Zeit, andererseits militärische Karten zu „Aufmarschlage und Operationsbeginn“, ein bereits 1911 erschienenes und offenbar viel verwendetes „Kriegs-Handbuch“ und ein sogenannter „Kriegs-Spielplan“ von Grodek; dieses historische Material wurde der Künstlerin dankenswerterweise von Harald Stockhammer, Rechtspfleger in Hall, zur Verfügung gestellt). Das Dokumentationsmaterial – keine Erfindung der Künstlerin, keine Fiktion, sondern  historische Realität – wird in Gegenüberstellung zu bewusst gewählten archetypischen Motiven, die in Trakls Lyrik auftauchen, neu geordnet. Es sind Motive, die abseits jeder Lyrik symbolisch stark aufgeladen sind (etwa der Engel bzw. der Engelsflügel, das Reh, das Kruzifix, die Tanne bzw. der Wald). Hier die Ereignisse, die Tatsachen – dort die Mythen oder, besser ausgedrückt, die Bilder, die die Menschen seit jeher in sich tragen und weiter geben, denen der Dichter Trakl Ausdruck und Stimme gab. Die beiden Ebenen verweisen auf die Außenwelt und Innenwelt Trakls (und nicht nur Trakls). Da sind einmal die Objekte im Außen – die Ereignisse und Erfahrungen im Krieg; diese äußeren Objekte werden wahrgenommen und im Inneren transformiert zu Bildern, die sich aus individuellen (psychischen) Konflikten und aus Erinnerung speisen.
© Milena Meller: feuerlinie       Erinnerung ist im Zyklus feuerlinie ein grundlegender Aspekt. Es wird einmal auf Trakls mögliche Erinnerung hin-fokussiert, eine Erinnerung, die zugleich mit unserer eigenen Wahrnehmung zusammentrifft: So etwa in dem Bild, das den Blick von Mühlau zur Arzler Scharte zeigt (das Bild hat Trakl gesehen, wir kennen es auch); oder ein Bild, das ein Detail des Hauses Schloßfeld 9 in Mühlau aufgreift – es ist das Haus, in dem wir uns gerade befinden. Man sieht das Fenster zur Veranda, in der Trakl gewohnt und gearbeitet hat, wenn er bei der Familie Ficker zu Gast war. Es gibt ein Foto der Villa, wir wissen also, wie das Haus und die Umgebung damals ausgesehen haben. Zunächst also persönliche Erinnerungen, des weiteren kollektive Erinnerung. Andererseits wird des Ersten Weltkriegs, besonders der Galizien-Front erinnert, eben der ‚Feuerlinie‘ (das ist die vorderste Front im Krieg – ein militärischer Ausdruck). Die eingenommene Perspektive auf den Kriegsschauplatz ist die Aufsicht, das Kartenmaterial wird von oben betrachtet. So ist Grodek als Ort in der Aufsicht ‚bewölkt‘.
       Milena Meller ist, wie sie selbst sagt, von Landkarten, Plänen, Stadtbildern und Luftbildern fasziniert, die die Welt gleichsam aus der Vogelperspektive präsentieren. Sie hat die kartographische Darstellungsweise, wie sie vor und während des Ersten Weltkriegs üblich war, studiert, hat sich mit jenen Symbolen beschäftigt, mit denen die Karten bestückt waren und die den Militärs Aufschluss über ein bestimmtes Gebiet gaben: Da findet sich ein Symbol für Maschinengewehre, eines für Lazarette für marode Pferde, eines für Feldtelegraphen und ein anderes für Feldbacköfen.
       Die Zeichensprache der historischen Karten wird von Milena Meller da und dort ausgefiltert, für den Betrachter und die Betrachterin aufgeschlüsselt, hervorgehoben und ins Bewusstsein geholt. Diese Zeichensprache ist gleichermaßen faszinierend wie grotesk, sie ist schön anzusehen und brutal zugleich. Eine Bahnlinie, auf der Karte als putziges zweifarbiges Muster dargestellt, wird zum Zerschneidungselement, zur Ab- und Wegsperrung, die Geländeeinträge auf den Karten lassen durch Farbgebung Blut und Eiter assoziieren, sie können vor den Augen des Betrachters zu Feuer hier, zur Auslöschung allen Lebens dort werden (etwa wenn weiße Flecken eingearbeitet sind). Die Kartenrasterung erscheint als bewusst angelegter Tötungsplan, die Zeichensprache des Militärs, fast kindlich anmutend, als gefährliche Verharmlosung, die das Grauen des Krieges ausblendet, die so tut, als gäbe es im Krieg einfach anwendbare Schutzmaßnahmen, als könne man den Krieg unter Kontrolle bringen. Der Krieg wird auf diese Weise zu etwas Alltäglichem und Gewöhnlichen, es wird suggeriert, alles sei normal, man habe alles im Griff. Es ist nicht zuletzt diese ideologische Komponente, gegen die sich die Künstlerin mit ihrer Arbeit wendet.
       Zum Beispiel, indem sie auf den Karten bestimmte Details als kreisrunde quasi-Sehenswürdigkeiten aufmalt, diese ‚Sehenswürdigkeiten‘ gewissermaßen heranzoomt. Man könnte die kreisrunden Motive als Zitate sehen, als Sehnsuchtsorte oder Assoziationen, intuitiv erfasst und emotional. Die imaginären Schwingen des Engels und die imaginären brennenden Wälder sollen, in Anspielung auf für Touristen übersichtlich gestaltetes Kartenmaterial, das Besondere im Allgemeinen zeigen, das Konkrete und Wahrhaftige, und zwar in beide Richtungen – sowohl in Richtung des Bedrohlichen wie auch des Beruhigenden. Beides, Täter- und Opferschaft, kommt zum Ausdruck, wenn Erschießung, Verfolgung, Grausamkeit und Tod als Momente des Schreckens eingefangen werden: Milena Meller hat für ihren Zyklus auch Bilder aus einem TV-Film verwendet, der u. a. an der Galizischen Front spielte. Dabei ging sie so vor, dass sie den im Fernsehen laufenden Film in Echtzeit vom Bildschirm abfotografierte.
       Das konkrete dokumentarische Material und die inneren Bilder liegen am Ende nicht weit auseinander: Sie sind in ihrer Grundbeschaffenheit durchaus vergleichbar als poetische Zeichensysteme, als Chiffren, die auf ein einziges, nicht wirklich geteiltes Universum, bestehend aus Außen und Innen verweisen. Die eingezogenen Grenzen sind künstlich, die Schnittlinien ebenfalls. In der künstlerischen Verarbeitung werden sie wieder aufgehoben, zumindest aber in Frage gestellt.  

       Milena Meller arbeitet mit Fotografie und Malerei und bringt die beiden Zugänge auf hoch spannende Weise zusammen. Ihre ganz eigene künstlerische Technik besticht und wird kontinuierlich weiter entwickelt. Die Fotografie kann bei ihr zur Vorlage der Malerei werden, die Malerei andererseits bedient sich der Zoomtechnik der Fotografie; die Malerei ist fotografisch genau, also realistisch bis hyperrealistisch, die Fotografie überwindet den Realismus, sie arbeitet verfremdend. Andererseits wird die Fotografie durch Übermalen ihrerseits wieder verfremdet bzw. erweitert; das Foto wird damit ergänzt, es gewinnt an Tiefe. Die Malerei wird häufig abfotografiert (zumeist nur ein Ausschnitt, oft bewusst unscharf), das nämliche Foto kann durch weiteren Farbauftrag eine zusätzliche Schicht bekomme. Oft wird auch ein Detail eines Fotos in den Blick genommen und mittels Malerei kopiert; diese Malerei wiederum wird fotografiert, übermalt und so weiter. Jedes Bild kann für sich gesehen werden, doch es steht in einem prozesshaften Zusammenhang mit anderen Bildern. Milena Meller arbeitet mit Doppelungen und Spiegelungen, was sie auf einem der neuen Bilder explizit macht: Man sieht eine Landschaft, in der sich eine Landschaft mit Haus und Absperrung in einem gerahmten Spiegel spiegelt. Ob Foto, reine Malerei oder übermalte Fotografie – kein Bild steht ganz für sich allein. Dazu kommt, dass die Künstlerin meistens in eigens konzipierten Projekten arbeitet, sie beziehen sich häufig auf Orte, die sie fotografierend und malend erkundet; es sind unspektakuläre Orte wie Straßen, Winkel und Plätze, die durch die künstlerische Arbeit neu interpretiert werden, deren spezifische Schönheit herausgearbeitet wird.
       In dem Projekt feuerlinie werden 20 Bilder auf schlichte, aber stringente Weise zu einem Ganzen zusammengefügt. Es zeugt von Qualität, dass auch nur ein paar dieser Bilder, würde man sie herausnehmen, bestehen könnten; auch nur zwei Bilder könnten den gesamten Zyklus repräsentieren. Im Ganzen ist feuerlinie ein starkes Statement zum historischen Weltkrieg, dessen Beginn sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt; ein Statement aber auch zu Krieg und Gewalt generell. Darüber hinaus ist Milena Mellers Arbeit ein Beispiel für die produktive bildkünstlerische Auseinandersetzung mit jenem Dichter, dessen Tod sich ebenfalls vor kurzem zum 100. Mal jährte. Nicht umsonst sehen wir auf einem Bild die Füße Christi am Kreuz: Es handelt sich um das Kruzifix, das auf dem Mühlauer Friedhof steht, die Birke, deren Zweige über Georg Trakls Grab hängen, kann man deutlich erkennen.  

 Homepage Milena Meller

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Sylvia Tschörner: Sackgassen weiblicher Machtausübung. Zu Martin Plattners Maultasch

Tiroler Literaturfreunden ist der Pitztaler Dramatiker Martin Plattner spätestens seit 2013 ein Begriff, als er das Große Literaturstipendium des Landes für die Arbeit an seinem Drama Maultasch erhielt.Theaterbegeisterte hatten beim Tiroler Dramatikerfestival 2014 Gelegenheit, sein Stück um:hausen – ein Dorf sucht sein Phantom im neuen Freien Theater Innsbruck zu sehen.
In Wien, wo er lebt, hat Plattner bereits eine ganze Reihe dramatischer Arbeiten aufgeführt. Stellvertretend erwähnt werden sollte sein Beitrag zu Who shot the princess? einem internationalen Kollektivprojekt, für das keine geringere als Elfriede Jelinek Plattnertexte einsprach. Dieses „Prinzessinnendrama“ ging 2010 vom brut im Künstlerhaus weiter an das Laboratorio Arte Alameda in Mexico City, wo es - auch dank prominenter Besetzung - großen Erfolg hatte. 2011 wurde es in Wien wiederaufgenommen und gab Anlaß zu einem dreitägigen theaterwissenschaftlichen Symposion über Drama und politischen Widerstand. 2011 eröffnete es das bestOFFstyria-Festival in Graz. 2011 erhielt der Autor das Dramatikerstipendium des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur für sein Stück Valmutsch.

Maultasch war der Spottname von Margarethe, Gräfin von Tirol-Görz (1318-1369) und, dank eines Nachfolgeabkommens ihres Vaters mit dem Kaiser, auch Landesfürstin. Sie wurde im Kindesalter mit Johann Heinrich von Böhmen verheiratet, trennte sich aber 1341 von ihm, da er die Ehe nie vollzogen hatte, und heiratete Ludwig I. von Bayern-Brandenburg. Diese Hochzeit wurde zwar von bedeutenden Intellektuellen der Zeit - wie William von Ockham oder Marsilius von Padua - in Traktaten verteidigt, vom Papst jedoch nicht anerkannt. Nachdem Margarethes zweiter Gatte und ihr Sohn Meinhard III. gestorben waren, überschrieb sie Tirol 1363 dem Habsburger Rudolf IV., übergab ihm die Regierungsgewalt und ging nach Wien ins Exil.

Mit Ausnahme der Vertreibung von Margaretes (wie Plattner sie schreibt) erstem Gatten in Form eines (als Intermezzo bezeichneten) Spiels im Spiel sind diese Ereignisse nicht Teil der Handlung. Sie werden lediglich in der Unterhaltung zwischen der Protagonistin, ihrer älteren, bettlägerigen Schwester Adelheid und einer böhmischen, bzw. „aus dem Flachland“ stammenden - „idealerweise“ von einem „Mann, Mitte zwanzig“ verkörperten - Altenbetreuerin namens Weirat erwähnt, und sie sind der Inhalt von deren „Wetterberichten“. (In diesen ist z.B. vom „kurzen Hoch Meinhard“ und von der „Kaltfront Johann Heinrich“, deren Ausläufer „von Böhmen her ziehen“, die Rede.)

Von der historischen Weirat von Villanders ist so gut wie nichts bekannt; Plattner macht sie einerseits zur Witwe eines Hingerichteten und Gegenspielein der Margarethe und andererseits zu ihrer Pflegerin, die als solche Macht über sie hat, zu einer höchst ambivalenten Figur, die im Stück für Spannung sorgt.
14. Jahrhundert und Gegenwart durchdringen einander auf allen Ebenen. So tauchen z.B. im Zug von Wortspielen Begriffe wie Beulenpest oder Gegenpapst auf, die an die erste Pestepidemie in Europa (1348) oder daran erinnern, dass der Papst, der Margarethe exkommunizierte, einer der Protagonisten des Großen Schisma war. Plattners Wunsch-Bühnenbild ist ein Giotto-Häuschen, das unsere an die Zentralperspektive gewohnten Augen irritieren soll. Die Motive der leidenden und der in ihrem Kinderwunsch frustrierten Frau und der mächtigen Amme, (die „mit dem rechten“, „dem linken“ oder „beiden Fingern“ auf Menschen zeigt und ein einziges Wort sagt, das die Bezeichneten etikettiert), werdendurch indirekte Zitate der Bilderwelt der Frida Kahlo in den Szenenanweisungen beschworen (z.B. das Erstkommunionkleidchen der Margarete, das Brautkleid/Steckkissen der Adelheid, die in ihrem Pflegebett „wie ein Insekt“ aufgespießte Margarete).

Nach dem Intermezzo verkehrt sich die Situation. Die Maultasch ist nun selbst der Pflegefall. In Szene 8 behaupten Adelheid und Weirat, die Rollen der Schwester und der Witwe gezwungenermaßen zu spielen. Diese neue „Wahrheitsebene“ wird jedoch durch den Epilog der Protagonistin aufgehoben, in dem sie sichselbst nacheinander als sprach-generiert darstellt, als Figur eines Dichters, als reale Person, die sich ganz authentisch als Sterbende erlebt und als zersplittertes Subjekt (wie Figuren im französischen Nouveau Roman der 1960er-Jahre). So analysiert, klingt das sehr zerebral. Die Schauspielerin, die versucht, das umzusetzen, merkt aber schnell, dass der gesprochene Text ein starke Emotionen auslösendes Substrat deckt, und dass er also alles andere als langweilig ist. Sprachlich ähnelt er den Wortspielereien der Jelinek, nur dass Plattner im Gegensatz zu deren gesichtslosen Figuren von einander abgesetzte Charaktere schafft.

Ein Thema wie die Pflegeproblematik hat sehr viele Facetten und wirft eine Menge Fragen auf: Gewalt und Manipulation im Verhältnis Pfleger - Gepflegter, die Belastung und der „sekundäre Gewinn“ der durch Verwandte ausgeübten Pflege, pflegende Verwandte versus professionelles Personal, die gegenseitige Ausbeutung von Betreuern und Arbeitgebern, Pflege, Hygiene und Medikamentierung, die zum Selbstzweck werden usw.  Will man das alles in einem konventionellen Stück unterbringen, besteht die Gefahr, daß der Spiel-Charakter verloren geht. Plattners zersplitterte Subjekte und das Sprachgeplänkel erlauben indes ein leises Antupfen der Themen. Die experimentelle Form ist also nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, das zum Nachdenken anregt.

Zwei der Figuren in Maultasch sind Frauen zwischen 50 und 60, d.h. in einem Alter, in dem Theaterdichter weibliche Wesen gern als verhärmt und frustriert, als „alte Omas und schräge Tanten“ darstellen, nur wenige Sätze sagen lassen oder überhaupt aus ihren Stücken verbannen. Plattner will Frauen zeigen, „die sich solchen Begrenzungen entziehen“.[1] Auch in seinem experimentellen Nicht-Stück Eyulita Exhibited und in um:hausen – ein Dorf sucht sein Phantom stehen ältere Frauen im Zentrum des Geschehens - Yulia Tymoshenko und Eva Perón bzw. eine rachsüchtige 40-Jährige und ihre dominante Mutter. Die mexikanische Kurzzeit-Kaiserin Charlotte von Belgien in Who shot the princess? ist immerhin nicht der Typus der Liebhaberin. Plattner „will sichtbar machen, dass interessante Frauen da sind und wir nicht genug hinschauen, zu oft weghorchen.“[2] Schauspielerinnen dürfen sich also auch weiterhin schöne Rollen von ihm erwarten.

Das vielleicht wichtigste Thema in Maultasch und in Plattners anderen – im übrigen formal ganz unterschiedlichen - Stücken ist Erwerb, Ausübung oder Erhaltung von Macht. Er dekonstruiert die Strategien machthungriger Frauen, die der dominanten genauso wie jene von Frauen, die sich als Opfer inszenieren, um ihre Umwelt nach Herzenslust zu manipulieren (wie Margarethes Schwester Adelheid) oder sogar zu terrorisieren (wie die Tochter in umhausen).
Von einem aufklärerischen Standpunkt her ist das zu begrüßen.
In politischer Hinsicht ist es problematisch. Denn mächtige Männer werden nicht von vornherein als unsympathisch empfunden.
Mächtige Frauen hingegen müssen sich, wenn sie akzeptiert werden wollen - sogar wenn sie durch demokratische Prozesse an die Macht gelangt sind und die Strukturen, innerhalb derer sie sie ausüben, vorgegeben sind - zumindest tendenziell an den kultur- und geschlechtsübergreifend akzeptierten archaischen Modellen weiblicher Machtträger ausrichten. Sie spielen die mächtige Mutter, die Diva (Spielarten der archaischen Muttergottheit) oder die sich rückhaltlos aufopfernde Gefährtin (Alkestis). Eva Perón brachte es fertig, alle drei Register zu bedienen. Das wirft die Frage auf, wie frau agieren soll, wenn die meisten Menschen aufgrund ihrer – salopp ausgedrückt - archetypischen mentalen Ausstattung beherrscht und manipuliert werden wollen?
Plattners Margarete, die die Rollen der „Landesmutti“ und der Diva gespielt hat (opulente Kostüme sind in diesem Stück ein Desideratum!) hat auch nach einem Leben als Landesfürstin keine Rezepte parat. Was ihre beiden Gegenspielerinnen angeht, kommt sie zu dem Urteil, daß für Adelheid das Klosterleben, also Unfreiheit, und für Weirat ihre Rolle als Widersacherin, d.h. ein Dasein in Abhängigkeit von einer anderen Person, vielleicht zufriedenstellende „Schicksale“ waren.

Plattner unterscheidet sich vom postmodernen Mainstream dadurch, dass er, trotz satirischer Intention, Identifikation mit der Figur möglich macht, und das ist (Brecht würde mir natürlich aufs Entschiedenste widersprechen) der einzige Weg, dem Publikum zu vermitteln, dass das Gezeigte Bezug zu ihm und seinem Leben hat.
Es wäre schön, wenn sich für das Stück ein Theater fände, das es adäquat besetzen könnte, und Regisseure, die dem Autor und seinem Text vertrauen. Maultasch gibt mehr her als postmoderne Blödelei.

 Homepage Martin Plattner


 

Der LiLit-Fragebogen beantwortet von Ursula Scheidle

Die Idee eines Fragebogens an sich ist natürlich nicht neu; entstanden ist sie im späten 19. Jahrhundert in England als Salon-Zeitvertreib. Es geht um Vorlieben und Abneigungen, Selbsteinschätzungen und Weltanschauungen – und das Ganze zur „geselligen Neugier“. Die Franzosen haben diesen Einfall bereitwillig übernommen und Marcel Proust, der große Marcel Proust, hat einen solchen Fragebogen 1890 voll Esprit ausgefüllt. (Daher die geläufige Bezeichnung: der „Proust-Fragebogen“.) Bernard Pivot, der französische Reich-Ranicki, hat die Idee für seine Literatur-Sendung Bouillon de la Culture übernommen, James Lipton für sein TV-Interview-Format Inside the Actors Studio, die FAZ als „Herausforderung an Geist und Witz“ für ihr Magazin. Die Idee ist also allemal den – leicht adaptierten –  Versuch wert. (Bernhard Sandbichler)

 

Status quo & überhaupt

Wie geht’s, wie steht‘s?
Bin entspannt, danke.

Worum geht’s im Leben?
Glaube, Liebe, Sex und Hoffnung.

Ihre größte Extravaganz?
Wenn ich Geld hätte, wären das ganz klassisch Diamanten, viele glitzernde Diamanten und seltene Tiefseeperlen in allen Schattierungen, blau bis rot, grün bis gelb und noch vieles mehr, alles, was glitzert. Schatzkisten.

Ihre Devise?
To dare is to do (Leitspruch des Londoner Fußballclubs Tottenham Hot Spurs)

Ihr größter Fehler?
Wenn ich es wüsste!
 

Fast nur Lieblinge & Lieblinge

Das schönste Wort/das hässlichste Unwort?
ALL /Wirtschaftsflüchtling

Ihre Lieblingsbeschäftigung offline?
Privatheit, allein, zu zweit, mit Menschen sein, mit denen ich ich selbst sein kann.

Ihre Lieblingsbeschäftigung online?
Youtube

Ihr Lieblingsname?
Caroline und Wendelin

Ihre Lieblingsfarbe und -blume?
Alle Schattierungen von Rot und Blau. Roter Mohn.

Ihr Lieblingsduft?
Der hängt vom Kontext ab.

Ihr Lieblingsessen und -trinken?
Hängt eigentlich auch vom Kontext ab. Aber guter Rotwein ist eigentlich kontextunabhängig. Oder Grappa und Espresso. Retsina eisgekühlt schmeckt zum Beispiel nur in Griechenland wirklich gut. Aber am wichtigsten ist das Gegenüber beim Essen.

Ihr Lieblingsbuch?
Es gibt so viele ...

Ihr Lieblingsbild?
... viele ...

Ihr Lieblingsfilm?
... viele ...

Ihr Lieblingsmusikstück?
Und überhaupt, so viele Lieblingsmusikstücke ... zum Beispiel von der Selfmade Frau  Ani DiFranco

Ihr/e Lieblingsfotograf/in?
Und so viele Lieblingskünstler und Innen ... die ich liebe.

Ihr/e Lieblingsschauspieler/in?
Kate Blanchett.


Präferenzen & Schätzungen

Fisch oder Fleisch?
Fisch

Berg oder Meer?
Das eine nicht ohne das andere.

Handke oder Bernhard – oder beide nie gelesen – oder lieber einen von zwei anderen?
Der eine nicht ohne den anderen.

Beatles oder Stones?
John Lennon

Hofer oder Gaismair?
Hofer

Was schätzen Sie an Ihrem Wohnort am meisten/wenigsten?
Ich lebe in Wien. Der öffentliche Verkehr funktioniert hier wirklich hervorragend. // Die Monate Jänner und Februar sind entsetzlich in ihrer atmosphärischen Wirkung!

Was schätzen Sie an Tirol am meisten/wenigsten?
Die Natur, der blaue Himmel im Winter// Die ewige Nabelschauschauschau

Welchen Fehler entschuldigen Sie am ehesten, welchen nie?
Beim Wort Fehler denke ich an Rotstift und Schule. Der Rest sind für mich Handlungen. Und eine Handlung geschieht ja nie isoliert für sich. Also wo beginnen?  Und wo ist die Grenze? Das muss man wohl immer wieder neu verhandeln.

Welche Eigenschaft schätzen Sie bei einem Mann am meisten?
Mut und Humor und Großzügigkeit und Sinnlichkeit

Welche Eigenschaft schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
Humor und Mut und Großzügigkeit und Sinnlichkeit

Was schätzen Sie bei Ihren FreundInnen am meisten?
Loyalität


Historizitäten & Realitäten

Ihre HeldInnen in der Wirklichkeit?
Malala Yousafzai

Ihre HeldInnen in der Weltgeschichte?
Herkules. Und als Kontrast: Die Figuren in Alice Munros Geschichten. Oder Truman Capotes. Die gehören jedenfalls zu meiner Weltgeschichte. Sie sind so menschlich.

Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten?
„In jedem von uns lebt ein kleiner Hitler.“ Das habe ich einmal irgendwo gelesen. Ich fürchte, es stimmt.

Welche (anti)militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten?
Der Fall der Berliner Mauer; das Revolutionsjahr 89. Ich habe es live am Fernseher verfolgt. „Tor auf!“

Welche Reform bewundern Sie am meisten?
1918 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen. Die langen, harten Kämpfe/Reformen dauern an ...


Wunsch- & Antiwunschkonzert

Wo möchten Sie leben?
Ich lebe ganz gern da, wo ich bin. Außer im Jänner, Februar!

Ihr Traum vom Glück?
Ich denke, Glück hat wenig mit Träumen zu tun. Doch, auch, manchmal.

Was wäre für sich das größte Unglück?
Autonomieverlust - in welcher Hinsicht auch immer

Was verabscheuen Sie am meisten?
Ödön von Horvath sagte einmal: „Nichts ist so unendlich als die Dummheit.“ Gut, wenn man ab und an die eigene Unendlichkeit durchbrechen kann.

Wer oder was wären Sie gern?
Ich bin endlich soweit, dass auch ich mich mag :-)

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?
Ich hätte gerne eine natürliche Begabung für Zahlen.

Hätten Sie sich gern selber als Chef?
Ja.

Die berühmte Fee „kommt geflogen, setzt sich nieder auf Ihr‘n Fuß“, Sie haben drei Wünsche frei. Welche?
Ich wäre vollkommen überfordert von dieser Fee.

Wie möchten Sie sterben?
Mit Leichtigkeit.

Und was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen?
Aber das kann ich doch jetzt noch nicht sagen! Morgen schon werde ich eine andere sein oder auch nicht. Morgen schon werde ich diesen Fragebogen doch ganz anders beantworten oder auch nicht.

Danke! Das ist übrigens auch ein schönes Wort. Ein schönes Schlusswort :-)


Ursula Scheidle spielt, spricht, schreibt und führt Regie. Neben ihrem Studium der Germanistik und Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien erhielt sie die Schauspielreife von der paritätischen Kommission mit Auszeichnung. Ihr Hörspiel GPS (Global Positioning System) wurde 2009 im ORF gesendet und während der "Langen Nacht des Hörspiels" mit dem zweiten Platz ausgezeichnet sowie vom NDR übernommen. 2009 wurde sie für den Retzhofer Literaturpreis nominiert; im Rahmen dessen entstand das Stück Im Puppenhaus. 2010 wurde ihr Stück Bei Skotty – Eine Revolutionssimulation an der Garage X – Theater Petersplatz uraufgeführt. Mit ihrem Stückentwurf Boardingtime wurde sie Anfang 2011 von den Vereinigten Bühnen Bozen zu den Bozner Autorentheatertagen eingeladen. Für ihr Ö1-Hörbild Was lange gärt, wird endlich Wut – Protokoll eines Asylverfahrens erhielt sie im November 2011 den Prälat-Ungar-Anerkennungspreis und 2012 den Claus Gatterer-Preis sowie den Hilfswerk Journalistenpreis. 2012 wurde ihr preisgekröntes Hörspiel/Stück GPS unter der Regie von Esther Muschol als Bühnenstück im RKH Wien uraufgeführt und vom Theater in der Drachengasse in Wien übernommen. 2012 erhielt sie das Dramatikerstipendium des BMUKK. Ihr neuestes Stück Letzter Halt Plattform 80 wurde 2013 vom ORF als Hörspiel produziert und 2014 mit dem Hörspielpreis der Kritik als "künstlerisch anspruchsvollstes und ansprechendstes" Hörspiel des Jahres 2013 ausgezeichnet. Anfang Dezember dieses Jahres strahlten NDR und ORF ihre Hörspiel-Bearbeitung von Thomas Glavinic‘ Roman Die Arbeit der Nacht aus, bei der sie auch Regie führte. Hans Platzgumer steuerte die Musik bei. 2014 erhielt sie den Literaturförderpreis der Stadt Innsbruck “Hilde-Zach-Preis”.

 Homepage Ursula Scheidle

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