Autoren Archiv


100-Seiten-Bücher – Teil 210
James Noël: »Was für ein Wunder« (2017)

Zu Hause, 26. August 2020, 14:01 | von Paco

Zwischen dem Erdbeben in Lissabon am 1. November 1755 und dem Erscheinen von Voltaires Hundertseiter »Candide« vergingen knapp vier Jahre. Zwischen dem Erdbeben in Haïti am 12. Januar 2010 und dem Erscheinen von James Noëls Hundertseiter »Belle merveille« vergingen sieben Jahre. Dafür, dass das so lang gedauert hat, entschuldigt sich aber der Erzähler, Noëls Alter ego Bernard, im Buch pflichtschuldig (S. 21).

Der erdbebende Vielfraß, der »Goudougoudou Gourmand«, body count ca. 300.000, fand statt »an einem der schönsten Nachmittage, die eine Stadt so erleben kann« (S. 44). Schmetterlingswetter, sozusagen, und der Schmetterling ist auch die Leitmetapher des Buchs. Das Kürzel der Hauptstadt Port-au-Prince, PAP, wird nämlich zum »papillon«, mit einem sich hochschraubenden Schmetterling beginnt der Text, »Pap… pap… pap… papillon«.

Erstlingsroman eines Lyrikers, also gibt es auch einige stolzierend lyrische Wörter, die neapolitanische NGO-Freundin Amore wird in der Übersetzung zum »Mandelschnittenraubtierweib« (S. 31 und S. 114), es ist von einer »Weltuntergangszärtlichkeit« die Rede (S. 88), der in Port-au-Prince allgegenwärtige herumrieselnde Staub ist »kreolischer Schnee« (S. 101f.) und die Stadt Rom, in die der Erzähler als eine Art Erdbebentherapie einen längeren Ausflug unternimmt, »tibert vor sich hin« (S. 116)!

Länge des Buches: < 200.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

James Noël: Was für ein Wunder. Roman. Übertragung aus dem Französischen und Vorwort von Rike Bolte. Trier: Litradukt 2020. S. 15–119 (= 105 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 201
Friedo Lampe: »Septembergewitter« (1937)

Zu Hause, 27. Mai 2020, 21:47 | von Paco

Schwüler Septembernachmittag, man sitzt draußen im Bürgerpark vor dem Schweizerhaus und trinkt »Bier und Kaffee und Ananasbowle«, dies das, und »da kann es wohl sein, daß man plötzlich an diesen schrecklichen Mord denken muß, der da vor zwei Tagen im Bürgerpark bei der Borkenhütte (…) verübt worden war«. Dieser Mord wird nun aber nicht als großer Kriminalfall ausgewalkt und ist denkbar beiläufig in die Story gewebt.

Na ja, und die Jugend der Kleinstadt bildet Kinderbanden mit Blutritzen als Aufnahmeritual, geht ansonsten fröhlich baden und löst ihre eigenen Fälle. Und zwar jagt sie den gelbhaarigen ›Drachen-Emil‹ und ertappt ihn auf frischer Tat, wie er wieder die Drachenschnur unbescholten spielender Mädchen kappen will. Der Drachen überlebt diesmal und fällt erst später einem Unwetter zum Opfer.

Ein perfekter Hundertseiter, schnell hangelt sich das Auge durch die kurzen Abschnitte, die meist einen Perspektivwechsel mit sich bringen. Die Natur wird durch einen adjektivischen Leuchtfilter gejagt (golddämmernde Stuben, grünbemooste Najadenfiguren, sanftblauer Himmel). Menschliche Handlungen werden oft erst geheimnisvoll angedeutet, und dann schnappen sich eben die Kinder nach dem Abendbrot ihren toten Drachen »und waren schon zwischen den Büschen verschwunden«, um ihn ein paar Seiten später mit einer feierlichen Rede zu bestatten.

Gerahmt übrigens werden die Geschehnisse von der Ballonfahrt des Mr. Pencock und seiner Tochter Mary. Sie sehen von oben das anonyme Städtchen, und das Städtchen sieht hoch im Himmel den anonymen Ballon. Die Erzählrichtung ist vertikal.

Länge des Buches: ca. 1xx.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Friedo Lampe: Septembergewitter. Göttingen: Wallstein 2001. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Der ermordete Dachdecker

Zu Hause, 8. April 2020, 10:05 | von Paco

Kalter Märzmorgen in Paderborn, die Sonne steht lustlos am Firmament, »als ob ein Pfuscher von Maler sie hingepinselt hätte« (Kotzebue). Also sitzen wir erst mal in der Lobby des Best Western und essen runtergesetzte Hachez-Pralinen.

Ein paar Minuten später laufen wir die Pader hinunter Richtung Schloss Neuhaus. Dort prangt am Dachfirst des Westgiebels ein steinern hingeklumptes »Denkmal für den ermordeten Dachdecker«. Tatzeit: 17. Jahrhundert. Alles Weitere steht in der Ballade »Kurt von Spiegel«, die Annette von Droste-Hülshoff dem Täter gedichtet hat.

Wir lesen uns das Gedicht theatralisch am Handyscreen vor. Highlight – Bruchteil einer Sekunde – der Dachdecker »hört den Knall, und die Kugel noch pfeifen«, also derselbe Moment, den Manet auf seinem Gemälde von der Erschießung Maximilians festgehalten hat.

Am nächsten Morgen beim Frühstück würden wir einer amerikanischen Kollegin über Kurt von Spiegel und seine Tat berichten, woraufhin sie antworten würde: »What an asshole, I hope they punished him hard for that.« (Which they did, davon handelt der zweite Teil von Drostes Ballade.) Aber von dieser zukünftigen Begegnung wissen wir noch nichts, als wir vom Schloss aus mit dem Bus Nr. 8 zurück in die Innenstadt fahren.

In einem Café am Rathausplatz ist dann etwas passiert. Wir sitzen und trinken eine Wasserschorle, während am Nebentisch jemand eine überregionale Zeitung liest. Doch bevor diese Zeitung in unser Leben tritt – denn das wird sie gleich tun – sprechen wir noch über Chamisso und seine Grammatik der hawaiianischen Sprache, über unser Karl-Kraus-Marstheater-Projekt, über die ZDF-Verfilmung von Juli Zehs »Unterleuten«, über Thea Dorn und dann komischerweise auch über Rezzo Schlauch.

Denn zum einen hatte Rezzo Schlauch damals in der Nr. 3 von Christian Krachts sagenhafter Zeitschrift »Der Freund« einen Artikel veröffentlicht, an den wir uns nun zu erinnern versuchen. Zum anderen sieht der Zeitungsleser am Nebentisch ein bisschen aus wie Rezzo Schlauch.

Das Schlauch-Double hat sich in seine Zeitung hineingelehnt, und es sieht ja sowieso meist supergut aus, wenn Leute Zeitung lesen. Was er aber nicht bemerkt, ist, dass sich das erste Zeitungsbuch nach vorn in die idyllische Kerzenflamme zu beugen beginnt und rasch Feuer fängt.

Da brennt dann also tatsächlich vor unseren Augen die Zeitung, und gut brennt sie, das erste Zeitungsbuch ist längst Lohe, und wir von unserer Perspektive aus hören sozusagen »den Knall, und die Kugel noch pfeifen«, und in dem Moment will Rezzo eine Seite zurückblättern, und die Flamme springt ihm ins Gesicht.

Dafür, dass das so ein jäher Kurt-von-Spiegel-Moment ist, geht er erstaunlich schnell und schmerzlos vorüber. Zeitung fällt auf Boden, Feuer wird ausgetreten, Dachdecker hat diesmal überlebt, Kellnerin kommt, routiniert, okay, nicht das erste Mal.

Und ach so, Thomas Kling habe ich oben in der Aufzählung unserer Gesprächsthemen noch vergessen, Thomas Kling und sein Gedicht »Tumulus Muckibude«, das sich einer näheren Betrachtung des Fürstenberg-Denkmals verdankt, das im Dom zu Paderborn steht, und dahin! dahin! machen wir uns nun auf den Weg.

»Aloha! nui nui aloha.« (Chamisso)
 


Literatur in Zeiten des Wir

Zu Hause, 7. April 2020, 10:15 | von Paco

#literaturwirus

· dédié à Peter Glaser ·

 
»Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen.«
– Angela Merkel, 18. März 2020

»Der Herr ist mein Wirte, mir wird nichts mangeln.«
– König David, um 1.000 v. Z.

»Das Wir entscheidet.«
– SPD, 2013
 

  • Homer: Die Wirfahrten des Odysseus (8. Jh. v. Z.)
  • Shakespeare: King Wir (1606)
  • Wolfram von Eschenbach: Wirzival (frühes 13. Jh.)
  • Vivaldi: Die Wir-Jahreszeiten (1725)
  • Goethe: Götter, Helden und Wirland (1773)
  • Goethe: Die Leiden des jungen Wirthers (1774)
  • Goethe: Wir kommen und Abschied (1775)
  • Lessing: Nathan der Wirse (1779)
  • Schiller: Die Wirschwörung des Fiesco zu Genua (1783)
  • Goethe: Wirhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre (1796/1829)
  • Schiller: Wirhelm Tell (1804)
  • Goethe: Die Wirverwandtschaften (1809)
  • Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wirheit (1811–1831)
  • Jane Austen: Stolz und Wirurteil (1813)
  • E. T. A. Hoffmann: Die Elixwire des Teufels (1816)
  • Georg Büchner: Wirzeck (1837)
  • William Makepeace Thackeray: Vanity Wir (1848)
  • Gustave Flaubert: Madame Bowiry (1857)
  • Dostojewski: Wirbrechen und Strafe (1866)
  • Adalbert Stifter: Wiriko (1867)
  • Leo Tolstoy: Voyna i Wir (1869)
  • Arthur Conan Doyle: Wirlock Holmes (1887ff.)
  • Theodor Fontane: Irungen, Wirungen (1887)
  • Karl May: Wirnetou I–III (1893)
  • Karl May: Durch die Wirste (1895)
  • Robert Musil: Die Verwirungen des Zöglings Törleß (1906)
  • Adolf Loos: Ornament und Wirbrechen (1908)
  • E. M. Forster: Wir sehen in Howards End (1910)
  • Thomas Mann: Der Tod in Wirnedig (1912)
  • Thomas Mann: Wirsungenblut (1921)
  • Erich Maria Remarque: Im Wirsten nichts Neues (1929)
  • Marieluise Fleißer: Eine Wierde für den Wirein (1931)
  • H. P. Lovecraft: Berge des Wirsinns (1936)
  • Margaret Mitchell: Vom Winde verwirt (1936)
  • George Orwell: Farm der Wire (1945)
  • Evelyn Waugh: Wir sehen mit Brideshead (1945)
  • George Orwell: 198wir (1949)
  • J. D. Salinger: Wir Fänger im Roggen (1951)
  • Heinrich Böll: Wirisches Tagebuch (1957)
  • Heinrich Böll: Billard um halb wir (1959)
  • Harper Lee: Wir die Nachtigall stört (1960)
  • Heimito von Doderer: Die Wirowinger oder Die totale Familie (1962)
  • Friedrich Dürrenmatt: Die Wirsiker (1962)
  • Thomas Pynchon: Die Wirsteigerung von No. 49 (1966)
  • Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Wirsamkeit (1967)
  • Jane Gardam: Weit weg von Wirona (1971)
  • Fynn: Hallo, Mister Gott, wir spricht Anna (1974)
  • Peter Weiss: Die Ästhetik des Wirstands (1975–1981)
  • Johannes Mario Simmel: Hurra wir leben noch (1978) 🙃
  • Thomas Bernhard: Wirgensteins Neffe (1982)
  • Rainald Goetz: Wirre (1983)
  • Hans Wollschläger: Wire sehen dich an (1987)
  • Margriet de Moor: Der Wirtuose (1993)
  • Peter Handke: Mein Jahr in der Wirmandsbucht (1994)
  • Dietmar Dath: Wir immer in Honig (2005)
  • Michel Houellebecq: La possibilité d’un Wir (2005)
  • Jonathan Littell: Die Wirgesinnten (2006)
  • Uwe Tellkamp: Wir Turm (2008)
  • Jonathan Safran Foer: Wire essen (2009)
  • Juli Zeh: Corpus Wirlicti (2009)
  • Christian Kracht: Wirperium (2012)
  • Timur Vermes: Er ist wir, der da (2012)
  • Paul Auster: Wir 3 2 1 (2017)
  • Rudolf Borchardt: Wirpuff Berlin (2018)

 


Mit Novalis im Gorkipark

Moskau, 18. Februar 2020, 16:04 | von Paco

Hi! From Russia with love… Es war spät schon wieder. Ich saß noch in meinem Bureau of Investigations an der School of Linguistics und arbeitete an unserem Karl-Kraus-Marstheater-Dings, mehr dazu irgendwann demnächst mal. Jedenfalls kam Kollegin rein und schrie mich an: Hör auf zu arbeiten! Und komm, wir gehn eislaufen.

Und auch Novalis zog mich weg vom Desk, denn in einem Übersprungs­gedanken war sofort sein Jünglingswerk präsent, und ich ging zum prall gephyllten Bücherregal und entwand ihm den Reclamband 7991, Seite 9:

Blühender Jüngling, dem noch Kraft im Beine
Der nicht Kälte, als deutscher Jüngling scheuet
Komme mit zur blendenden Eisbahn, welche
    Glatt wie ein Spiegel.

Schnalle die Flügel an vom Stahle, welche
Hermes jetzt dir geliehn, durchschneide fröhlich
Hand in Hand die schimmernde Bahn und singe
    Muntere Lieder.

Ein herrliches jugendliches Experiment mit der sapphischen Ode, und es folgen noch zwei Strophen, in denen es darum geht, dass irgendwelche Nymphen Löcher in den zugefrorenen See brechen könnten, Novalis war noch nicht Allianz-versichert.

Im Gorkipark keine Löcher, frisch gespritztes Eis, 20.000 Quadratmeter Fun für angeblich bis zu 6.000 Leute. Heute Abend viel weniger da, die »Stahlflügel« (Novalis) wetzen fast von allein übers Eisparkett.

Man kann in diesem Spiegelparadies theoretisch wochenlang überleben, denn es gibt dutzende Restaurants und Imbissbuden am Rand des Parcours, alles ist mit Gummimatten ausgelegt, man muss die Skates also nie ausziehen und kann mal so richtig schön essen gehen, immer im Wechsel mit ein paar Runden Eislauf.

Leichter Schneefall setzt ein, wie unendlich nice.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 186
Urs Widmer: »Der Geliebte der Mutter« (2000)

Moskau, 26. November 2019, 09:20 | von Paco

Die Landung auf dem Edward-Snowden-Flughafen Scheremetjewo war etwas ruppig, der Kapitän musste scharf bremsen, um den Jet in ruhiges Rollen zu bringen. Auf meinem Nebensitz lag der Roman, den ich zwischen Berlin und Moskau zu Ende gelesen hatte. Durch den Bremsruck rutschte das Buch vom Sitz und segelte unter mehreren Reihen hindurch nach vorn.

Als in der Kabine das Licht anging, hatte ich mir schon den Satz zurechtgelegt, mit dem ich gleich die Sitzreihen vor mir abschreiten wollte: »Entschuldigen Sie bitte, ist bei Ihnen vielleicht das Buch des berühmten Schweizer Autors Urs Widmer gelandet? Es handelt sich um den Kurzroman ›Der Geliebte der Mutter‹ und er gehört mir.«

Ich musste gar nicht weit gehen. Schon zwei Reihen vor mir hielt eine junge Frau das Buch hoch und war außer sich. Ich bedeutete ihr, dass das mein Buch sei, und sah plötzlich, worüber sie so in Wallung geraten war. Auf ihrem Schoß lag ein anderes Buch des Diogenes-Verlags, ebenfalls Urs Widmer, »Der blaue Siphon«. Und sie schrie mir begeistert entgegen, dass sie den »Geliebten der Mutter« gerade gelesen habe, und das verblüffte mich nun natürlich auch ziemlich.

»There you go, young man!«, sagte sie, als sie mir das Buch zurückgab, einen Satz der Mutter aufnehmend, den diese sich für ihren Besuch in New York zurechtgelegt hatte (S. 122).

Und wenn mich nicht alles täuscht, so war dieser Aeroflot-Flug die Geburtsstunde des »Urs Widmer Bookclub Moskau«.

Länge des Buches: ca. 203.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Roman. Zürich: Diogenes 2003. S. 3–130 (= 128 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Zeitungsabonnement für Zauberer

Leipzig, 23. Juli 2019, 09:40 | von Paco

Ich hatte ihn ewig nicht mehr gesehen und traf ihn gestern wieder, als ich im Leipziger Osten Station machte. Er ist einer von rund 2.000 Zauberern in Deutschland, und ich erinnerte mich an eine Geschichte, die er mir vor langer Zeit erzählt hatte.

Zunächst muss ich noch vorausschicken, dass mein Zauberfreund seit vielen, vielen Jahren Abonnent der »Süddeutschen« war (Name der Zeitung für diesen Text geändert). Nun zur Geschichte:

Und zwar hatte er für einen Zaubertrick aus dem Bereich der Mentalmagie immer zwei Ausgaben der »Süddeutschen« benötigt. Da seine Shows jeweils freitags und samstags stattfanden, hieß das, dass er an Showtagen stets zusätzlich zu seinem abonnierten Exemplar noch eines vom Kiosk besorgen musste. Einmal war die SZ dort leider ausverkauft, und das brachte ihn dann auf einen Gedanken, den er sofort per Anruf dem Abo-Service der Zeitung mitteilte.

Er schilderte kurz seinen Fall und schloss dann mit der Frage: »Könnten Sie nicht ein Doppel-Abo für Zauberer anbieten? Würden Sie mir also in meinem Fall bitte freitags und samstags zwei identische Exemplare der SZ zuliefern?«

Der Abo-Service reagierte interessiert, denn schließlich werde ja die Zeitung in den Zaubershows prominent gefeaturt, also wäre das ein logisches quid pro quo.

Und so geschah es dann. Freitags und samstags wurden zwei Exemplare angeliefert. Das ersparte einen Gang zum Kiosk, alle waren’s zufrieden, und die Shows gingen weiter und weiter.

Nun ein Zeitsprung zu gestern, als ich den Zauberer wiedertraf. Während unseres sehr interessanten und unterhaltsamen gegenseitigen Updates fragte ich nebenbei auch nach dem Deal mit dem Abo-Service, und was musste ich hören? Zwei Dinge.

Erstens habe er schon lange die Zeitung abbestellt, so wie all unsere Bekannten auch. Und zweitens benötige er für den Zaubertrick nur mehr ein einziges Exemplar. Er sei früher einfach etwas faul gewesen, aber mit einem Exemplar funktioniere das Ganze problemlos auch, und da genügt dann ein Gang zum Zeitungskiosk, das heißt, solange es noch Zeitungs­kioske gibt.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 158
Kathrin Passig: »Vielleicht ist das neu und erfreulich« (2019)

Leipzig, 22. Juli 2019, 14:27 | von Paco

Es geht gleich super archäologisch los in diesen gesammelten »Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens«, die Kathrin Passig im Mai 2018 gehalten hat und die jetzt als Hundertseiterin bei Droschl erschienen sind. Und zwar erinnert sie an den Internet-Literaturpreis, der zwischen 1996 und 1998 von der ZEIT und IBM (what a combo!) insgesamt dreimal ausgelobt, dann aber sanglos und klanglos wieder eingestellt wurde.

Wohl und Wehe der Literatur im Netz, speziell ihre erwartete Transformation in genuine Netzliteratur, war journalistisch schon immer begleitet von Abgesängen (»Die Zeit« 1998, »Der Spiegel« 2002), und das ist ja auch nicht schlimm. Wir würden das interessante Neue sowieso nie bemerken, so Passig, während wir in derselben Zeitblase gefangen sind.

Also wo nach der Zukunft der Literatur suchen? Von den Feuilletons runtergeschriebene »schlecht angesehene Bereiche« seien gute Kandidaten, als da wären: »Pornografie, Selfpublishing, kollektives Erzählen, Auseinandersetzung mit Büchern bei YouTube« (S. 46). Wobei: »Letztlich hilft es wahrscheinlich nur, fünfzig oder hundert Jahre abzuwarten. Mit etwas Glück hat sich irgendeine Neuerung bis dahin unmissverständlich durchgesetzt: das Genre des Romolfs, der Vertriebsweg des Zenkens, die Leseweise in Klimpzirkeln.« (S. 47)

Zur Wiedervorlage: Romolf, Zenken, Klimpzirkel.

Ach so, an Jonathan Franzen arbeitet sie sich auch noch ab, eingeleitet mit diesem tollen Satz: »Ich weiß nicht mehr, ob ich das vor langer Zeit gelesene Buch – es handelte sich um ›The Corrections‹ – gut oder schlecht fand.« (S. 18) Nun ja, »Die Korrekturen« sind in der amerikanischen Erstausgabe 568 Seiten lang, aber vielleicht verwittern solche Lektüreeindrücke doch schneller als gedacht? Jedenfalls sollte man nach jeder Lektüre eines Buches irgendwo das Urteil JA oder NEIN (GUT oder SCHLECHT) vermerken, so wie das der von Matias Faldbakken ausgedachte armenische Kritiker Artoun Dilsizian getan hat.

Oh, hier noch ein Franzen-Zitat: »Es ist zweifelhaft, dass jemand, der einen Internetzugang am Arbeitsplatz hat, gute Romane schreibt.« (S. 23) Und Passig spießt wunderbar den Umstand auf, dass Franzen sein Unbehagen in alter Intellektuellentradition unzulässig verallgemeinert, und legt ihm die Worte in den Mund: »Ich leide unter Arbeitsstörungen wie viele Autoren und muss mich deshalb vorsichtig von Twitter, Facebook und dergleichen fernhalten.« (S. 30)

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen. – Ausgaben:

Kathrin Passig: Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik. Graz: Droschl 2019. S. 3–104 (= 102 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die linken Füße von Princeton

St. Petersburg, 1. Juli 2019, 09:00 | von Paco

Das Slawistik-Department hatte eingeladen, also nahmen wir den Direktflug von Moskau nach New York, dann das Überlandtaxi nach Princeton, zwei Stunden, und schon ist man da. New Jersey ist einfach nice, das sagten wir immer wieder, während der Taxista uns links und rechts auf landschaftliche Höhepunkte hinwies, und Princeton selbst erst!

Abends nach unserer Show wurden wir zum gemeinsamen Dinner eingeladen (ins »Mistral«), und zunächst wurden Food-Allergien diskutiert, von denen ich die meisten kannte, einige schienen mir aber neu und interessant zu sein.

TV-Serien wurden auch kurz angeschnitten, und da es ein Slawisten-Dinner war, ging es nicht um »Game of Thrones«, das sich ja gerade sang- und klanglos von den Bildschirmen verabschiedet hatte. Sondern es ging um »The Romanoffs«. Schnell jedoch war dieser Diskussionsstrang beendet, denn die Serie erschien allen als »too contrived«, und alle kündigten an, sie nie je zu Ende sehen zu wollen.

Ein weiterer Gesprächsfaden – Slawisten sind ja auch Linguisten – handelte vom englischen Verb ›to trump‹ (übertrumpfen, übertreffen). Einer der Mitspeisenden meinte beobachtet zu haben, dass einige Leute (er selbst auch) das Verbum ›to trump‹ aus Protest mittlerweile vermieden, auch in Kontexten, wo es angebracht und eigentlich unausweichlich scheint. Eine Kollegin schlug vor, dies empirisch zu überprüfen, und ein Plan war gefasst, und es war überhaupt insgesamt ein schönes Dinner, das mit vielen lauteren Wünschen ausklang.

Anderntags kamen wir am frühen Nachmittag unten vom Tenniscourt und waren guter Dinge, als uns ein unvermittelt einsetzender Platzregen ins nächstgelegene Gebäude zwang; es handelte sich zufällig um das Princeton Art Museum. Wir stellten die Blumenvasen im Self-Service-Garderobenschrank ab und …

Moment, welche Blumenvasen? Ein Sekretär, der auch für unsere Reisekostenabrechnungen zuständig war, hatte uns auf dem Weg nach oben getroffen und gebeten, zwei ellbogengroße Blumenvasen ins Department mitzunehmen. Haben wir dann sofort übernommen, da wir uns gut mit ihm stellen wollten und eh dort vorbeikommen würden.

… betraten die Museumssäle. Wir dankten dem Regen, denn ohne ihn wären wir wahrscheinlich gar nicht hier gelandet, einfach weil es so viele andere Sachen in Princeton zu machen gibt.

Eine nicht ganz fertiggestellte Replika aus Jacques-Louis Davids Studio, »Der Tod des Sokrates« (nach 1787), konnte man sich leider nicht aus der Nähe ansehen. Denn direkt davor steht eine bequeme Kunstbetrachtungscouch, in der sich ein sprichwörtlicher älterer Herr positioniert hatte und diesen Platz nicht räumte, während der gesamten zwei Stunden nicht, die wir im Museum zubrachten, und er verschmolz für uns übrige Museumsbesucher langsam mit dem Bild, vor dem er regungslos saß, was schon auch was hermachte.

Längere Zeit verbrachte ich mit einem historischen Gemälde von Angelika Kauffmann, »Plinius der Jüngere mit seiner Mutter beim Ausbruch des Vesuvs in Misenum« (1785). Das Sujet hatte mich sofort wieder gepackt und ich wanderte die Ebenen und dargestellten Figuren ab, aber irgendwas stimmte nicht, und ich wusste nicht was, bis auf einmal, hä?

Der jüngere Plinius, der in blauem Gewand und mit offenen Sandalen in der Mitte der vorderen Figurengruppe sitzt, die Beine übereinander geschlagen, hat zwei linke Füße! Ein Glitch, der einen sofort zwingt, voller Abscheu den Blick wegzuwenden, um sich dann doch ganz langsam und in verschiedenen Etappen an dieses Phänomen heranzutasten, das ja in der Kunstgeschichte kein seltenes ist, cf. Tischbein.

Der Katalog hat eine Erklärung parat:

»As was noted when the work was first exhibited at London’s Royal Academy in 1786, Pliny has two left feet. The reason for this may be that Kauffmann, then among the most popular artists in Rome, evidently relied on her less-talented husband, Antonio Zucchi, to complete many of her commissions.«

Antonio Zucchi, was hast du getan!

Mit diesem gellenden Ruf verließen wir das Museum, als es sich ausgeregnet hatte, und es war mal wieder Zeit für Dinner in Princeton.

Einige Tage später, wir waren längst wieder zu Hause, schrieb ich eine E-Mail an das Princeton Art Museum. Ich begann damit, meinem Excitement über die Sammlung Ausdruck zu geben und von den schönen Erinnerungen an unseren Besuch zu berichten. Im nächsten Absatz bat ich dann darum, doch bitte mal unverbindlich in der Garderobe nach zwei ellbogengroßen Blumenvasen Ausschau zu halten, denn die hatten wir dort einfach vergessen, und der Sekretär hatte sich tagelang nicht bei uns gemeldet wegen der Abrechnungen. Blumenvasen!
 


Menschen der Jahre 2002 und 2003

Leipzig, 7. April 2019, 13:37 | von Paco

Auch habe ich in den letzten Wochen einen Harald-Schmidt-Show-Rerun begonnen. Die Sendungen vor dem Aus der Sat.1-Originalshow Ende 2003 sind inzwischen fast alle auf YouTube und im Internet Archive gelandet. Die Folgen vor der Bundestagswahl im September 2002 lassen sich gut schauen, und auch die danach. Am 26. November 2002 zum Beispiel liest Schmidt in hallendem Kathedralensound das Kapitel »Vom neuen Götzen« aus Nietzsches »Zarathustra« vor.

Eckhard Schumachers Schmidt-Show-Artikel aus dem »Merkur« (Heft 641/642, September 2002) habe ich gleich auch noch mal gelesen, und ist schon gut beschrieben, was dieses letztlich immer selbstbezogene »Fernsehfernsehen« ausmacht, von dem sich Böhmermann ja explizit mit seiner télévision engagée absetzt.

Schmidt dagegen stellt sich nicht den Themen, er performt sie. Ankunft im Jahr 2003, der Irakkrieg steht vor der Tür, Schmidt lässt mit Ensemble und Gästen das Friedenstaubensymbol darstellen. Überhaupt der immer légère Einbezug des Publikums, Menschen der Jahre 2002 und 2003, irgendwelche Gastwirte oder Angestellte aus der nordrhein-westfälischen Provinz (»Wie heißen Sie? Was machen Sie?«), die man jetzt einfach googlen kann, um zu schauen, was aus ihnen geworden ist.