Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


100-Seiten-Bücher – Teil 137
Irène Némirovsky: »Der Ball« (1930)

München, 4. Januar 2019, 00:45 | von Josik

Irène Némirovskys extremst witzige und auch slightly melancholische Novelle »Der Ball« wurde erstmals 1930 veröffentlicht und schon 1931 verfilmt. Der Film dauert 75 Minuten, und praktisch genauso lang dauert es, das Buch zu lesen. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich das Buch natürlich nicht nur gelesen, sondern erstens gelesen und zweitens parallel auf dem second screen gekuckt. Wer das tun möchte, möge bitte darauf achten, die richtige Verfilmung auszuwählen, denn es gibt auch noch eine weitere Verfilmung von 1931, die nicht eineinviertel, sondern anderthalb Stunden dauert, und eine dritte Verfilmung von 1969, die nur dreißig Minuten dauert, wobei man sagen muss, dass man es kaum schaffen wird, das Buch in nur einer halben Stunde zu lesen, außerdem gibt es noch eine vierte Verfilmung von 1993, die 83 Minuten dauert, und wer weiß, ob ich nicht noch die eine oder andere Verfilmung übersehen habe. Aber gut, das alles ist jetzt grade gar nicht so wichtig, deshalb zurück zum Buch.

Über Nacht reich werden ist leicht – wer kennt es nicht! Doch über Nacht die Manieren von Reichen annehmen ist schwer. Von diesem lustigen Dilemma erzählt Irène Némirovsky in ihrem supersten Buch »Der Ball«. Viel Spaß!

Länge des Buches: ca. 100.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Irene (ohne Accent) Nemirovsky (ohne Accent): Der Ball. Novelle. Berechtigte Übersetzung aus dem Französischen von Grit Zoller. Wien/Hamburg: Paul Zsolnay Verlag 1986. S. 5–91 (= 87 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 136
Gertrud von le Fort: »Die Letzte am Schafott« (1931)

München, 31. Dezember 2018, 13:23 | von Josik

Gertrud von le Forts katholische Splatternovelle »Die Letzte am Schafott« ist die ideale Lektüre für Silvester, denn gleich eingangs kommt die Rede auf »die bekannte Feuerwerk-Katastrophe bei der Vermählung Ludwigs XVI., d.h. des damaligen Dauphin mit der österreichischen Kaisertochter« (S. 11). Innerlich konnte ich diesen Satz zuerst nur schwer akzeptieren, denn diese Feuerwerk-Katastrophe war mir bis dato leider durchaus unbekannt. Es ist aber tatsächlich historisch verbürgt, dass bei diesem anfänglich schönen Feuerwerk sehr viele Raketen versehentlich mitten in der Menschenmenge explodierten, wobei nach offiziellen Angaben 135 Menschen ums Leben kamen. Diese Schilderung wird z.B. auch von der »Chronik der Geschichte des Feuerlösch- und Rettungswesens = Band 2004/2 der Diskussionspapiere der Fachhochschule Kehl« bestätigt. Sollten bei einer Silvesterparty also wieder einmal alle über das Feuerwerk-Unwesen klagen, werde ich in Zukunft mit historischem Spezialwissen glänzen und auf die bekannte Feuerwerk-Katastrophe bei der Vermählung Ludwigs XVI. mit Marie Antoinette rekurrieren.

Der Hauptteil unserer Geschichte spielt sich aber 24 Jahre nach der explodierten Vermählung ab, also schon mitten in der Französischen Revolution, und zwar in einem Karmelitinnenkloster. Eine der Nonnen ist ganz scharf darauf, für den Christkönig am Schafott zu sterben, und hofft darauf, dass die Revolution ihr eine gute Gelegenheit dazu bieten werde. Die anderen Nonnen sind nicht ganz so scharf darauf, lassen sich aber nach und nach dann doch von der Vorzüglichkeit dieser Idee überzeugen. »Nur die kleine naive Constance de Saint Denis gestand halb weinend, daß sie sich sehr fürchten werde, die Letzte auf dem Schafott zu sein. Marie de l’Incarnation empfand dies Bekenntnis als peinliche Entgleisung. ›Aber in Ordensgemeinschaften geht doch nicht die Jüngste, sondern die Älteste zuletzt‹, sagte sie« (S. 86). In dem fürchterlichen Chaos der Revolution, das hier geschildert wird (S. 94: »Ich taumelte von Leiche zu Leiche«), wirkt es irgendwie beruhigend, dass wenigstens beim Schlangestehen vor dem Schafott noch Disziplin gewahrt wird und gemäß der internen Ordensrichtlinien die Schwestern sich da schön nach Alter aufreihen.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Gertrud von le Fort: Die Letzte am Schafott. Novelle. München: Ehrenwirth 1959. S. 3–124 (= 122 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 135
Muriel Spark: »The Driver’s Seat« (1970)

München, 30. Dezember 2018, 23:31 | von Josik

Am Ende des ersten Kapitels von Muriel Sparks »The Driver’s Seat« steht der merkwürdigste Vergleich, der mir jemals untergekommen ist: »The woman comes to the street door emitting noise like a brown container of laughing-gas« (S. 17). Wieso um Himmels willen muss der Lachgasbehälter braun sein? Bzw. wie würde es denn klingen, wenn die Frau Laute von sich geben würde wie, sagen wir, ein grüner Lachgasbehälter? Oder kam der Vergleich mit dem braunen Lachgasbehälter niemandem strange vor, weil damals, 1970, als diese superste Hundertseiterin erschien, braune Lachgasbehälter ja vielleicht allgegenwärtig waren?

Soweit ich sehe, gibt es bisher leider noch keine Ausgabe von »The Driver’s Seat«, die zeitgeschichtliche, kulturhistorische und länderkundliche Annotationen zu braunen Lachgasbehältern enthalten würde. Da es aber starke Indizien dafür gibt, dass im ersten Kapitel die Geschichte noch in Dänemark spielt, tat ich das, was jede*r andere an meiner Stelle auch getan hätte: Ich googelte die Suchbegriffe »brauner lachgasbehälter dänemark«. Leider wurden mir nur ein paar Treffer zum Thema Schweinepest angezeigt. Vorsichtshalber klickte ich diese Seiten gar nicht erst an.

Übrigens sollte man in diesem Hundertseiterinnenfall unbedingt das englische Original lesen, nicht die deutsche Übersetzung. Facepalmerweise hat der Diogenes Verlag nämlich die Schlusspointe, den plot twist, das, worum es in diesem Buch eigentlich geht, direkt in den Titel der deutschen Übersetzung gehoben. Und worum es in diesem Buch eigentlich geht, puh!

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Muriel Spark: The Driver’s Seat. With an Introduction by John Lancester. London: Penguin Books 2006. S. 7–107 (= 101 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 134
Ursula K. Le Guin: »Nächstes Jahr im September« (1976)

München, 29. Dezember 2018, 23:53 | von Josik

Am entzückendsten ist, wie die 18-jährige Natalie dem 17-jährigen Owen eine Biografie der Brontë-Geschwister zu lesen gibt. Owen stellt fest, dass er von zwölf bis sechzehn im Prinzip das Gleiche gemacht hat wie die Brontë Sisters, nämlich sich Geschichten über erfundene Länder ausdenken. Nur dass das von Owen erfundene Land nicht Angria und nicht Gondal heißt, sondern Thorn.

Thorn ist ein kleine Insel im Südatlantik. In Thorn weht ständig starker Wind. Thorn ist so klein, dass es an seiner weitesten Ausdehnung nur 97 Kilometer misst. Thorn ist von allen anderen Nationen unendlich weit entfernt. Thorn lebt in Frieden und Eintracht mit allen anderen Nationen. Thorn besitzt nicht einmal eine Militärbasis. Thorn hat keine Rollbahn für Flugzeuge und nur einen ganz kleinen Hafen. – Nun fragt die solide Leserschaft sich natürlich zurecht: Aber wovon leben denn die Thorner (Thornesen?)?

Auf diese Frage hat Owen eine geniale Antwort: »Handel trieben sie nur mit der Schweiz, Schweden und San Marino« (S. 55). Und es steht zwar nicht explizit da, aber wenn man diesen klugen Gedanken weiterdenkt und sich dann mal so vorstellt, was die Einheimischen in Thorn wohl so importieren aus der Schweiz, aus Schweden und aus San Marino, dann kommt man drauf, welche Dinge das sein müssen, und dann kommt man auch drauf, dass das ja tatsächlich alles ist, was man zum Leben braucht, nämlich Emmentaler Käse, Billy-Regale und, hehe, Marinowolle. Die Frage, was die Thornesen eigentlich im Gegenzug exportieren, ist allerdings nach wie vor offen.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ursula K. Le Guin: Nächstes Jahr im September. Protokoll einer Begegnung. Übersetzt von Norbert Lechleitner. Freiburg im Breisgau: Herder 1978. S. 3–96 (= 94 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 133
Jane Austen: »Sanditon« (1817/1925)

München, 24. Dezember 2018, 02:16 | von Josik

Mr. und Mrs. Parker unternehmen eine längere Reise in das kleine Willingden, um den dortigen Arzt davon zu überzeugen, sich im aufstrebenden Badeort Sanditon anzusiedeln, wo es nämlich bisher noch eines Arztes ermangelt. Am Ende der Reise verunfallen sie mit ihrer Kutsche. Einige hilfsbereite Bewohner Willingdens kommen herbeigeeilt. Mr. Parker bittet darum, zum Arzt gebracht zu werden. Einer der Einheimischen, Mr. Heywood, antwortet, hier gebe es keinen Arzt. Der frisch aus der Kutsche Geplumpste fragt, ob er sich hier etwa nicht in Willingden befinde? Doch, das hier sei Willingden. Hurra! Mr. Parker holt aus seiner Brieftasche eigenhändig Ausgeschnittenes aus der »Morning Post« und der »Kentish Gazette«:

»Dann, Sir, kann ich Ihnen beweisen, daß Sie einen Doktor im Kirchspiel haben – ob Sie nun von ihm wissen oder nicht. Hier, Sir – (…) dann können Sie sich selbst überzeugen, daß ich nicht ins Blaue rede. Sie werden feststellen, Sir, es handelt sich um die Bekanntmachung der Auflösung einer ärztlichen Sozietät – hier in Ihrem Kirchspiel (…) – lesen Sie es hier in voller Länge, Sir« – und er hielt ihm die beiden länglichen Zeitungsausschnitte hin. – »Sir« – sagte Mr. Heywood mit nachsichtigem Lächeln – »zeigen Sie mir sämtliche Zeitungen, die im Lauf einer Woche im ganzen Königreich gedruckt werden, und Sie werden mich doch nicht davon überzeugen, daß es in Willingden einen Arzt gibt – denn da ich schon mein ganzes Leben hier lebe, alle siebenundfünfzig meiner Knaben- und Mannesjahre, müßte ich von einer solchen Person doch wohl wissen« (S. 8f.).

Soweit ich sehe, hat Jane Austen hier den bisher besten Kommentar zur Causa #Relotius abgeliefert.

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Jane Austen: Sanditon. Aus dem Englischen neu übersetzt von Sabine Roth. Düsseldorf: Artemis & Winkler im Patmos Verlag 2007. S. 3–104 (= 102 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 132
Agatha Christie: »Das Geheimnis von Greenshore Garden« (1954/2014)

München, 17. Dezember 2018, 08:55 | von Josik

Agatha Christies Hundertseiter »Das Geheimnis von Greenshore Garden« wurde unglaublicherweise erst 38 Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht. Es geht da um eine Art Krimi-Dinner, welches von einem Upper-Class-Engländer ausgerichtet wird, der für die Ausarbeitung der Einzelheiten die berühmte Krimi-Autorin Ariadne Oliver engagiert. Der allerdings kommt irgendwann irgendwas komisch vor, weswegen sie ihren alten Buddy Hercule Poirot herbeiruft.

Die Story ist auch eine Art Metaroman, denn Mrs Oliver sagt einen Vortrag ab, in dem sie hätte darlegen sollen, wie sie ihre Bücher schreibt: »[W]as kann man schon darüber sagen, wie man seine Bücher schreibt? Ich meine, erst denkt man sich etwas aus, und wenn man es sich ausgedacht hat, muss man sich zwingen, sich hinzusetzen und es zu schreiben. Mehr ist das nicht!« (S. 102f.)

Hochsympathisch von Agatha Christie finde ich, dass sie den eingebildeten Schnösel Hercule Poirot als jemanden darstellt, der genau genommen jetzt nicht so der große Checker ist. Zum einen hat er halt einfach immer Glück, weil praktisch alle, denen er über den Weg läuft, ihm sofort – und ohne dass er sie überhaupt danach gefragt hätte – ihre komplette Lebensgeschichte reindrücken. Zum anderen löst er in diesem Buch den Fall durchaus nicht unverzüglich, sondern erst zwei Monate nach der Tat und sogar das erst, als ein Typ von der Polizeidienststelle, die im Gegensatz zu ihm offiziell mit den Ermittlungen betraut ist, ihn besucht, um mit ihm zu plaudern.

Zu diesem Zeitpunkt, also wie gesagt zwei Monate nach der Tat, gerüchtet Poirot zwar, dass er »es schon seit einiger Zeit weiß« (S. 107), aber gut, das kann man jetzt glauben oder nicht.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Agatha Christie: Das Geheimnis von Greenshore Garden. Ein Fall für Hercule Poirot. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Hamburg: Atlantik 2015. S. 13–123 (= 111 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 131
Clara Zetkin: »Erinnerungen an Lenin« (1924/1926)

München, 16. Dezember 2018, 10:55 | von Josik

Karl Ove Knausgård hat vor einiger Zeit den wohl dümmsten Text seit »Mein Kampf« veröffentlicht: »Gibt es einen guten Schriftsteller, der einen Hund hat?«, fragt dort der ehemalige Hundehalter Knausgård und beantwortet seine Frage gleich selbst: »Flaubert hatte keinen … Kafka hatte keinen Hund, Hamsun hatte keinen Hund, Sandemose hatte keinen Hund. Tor Ulven hatte keinen Hund … Ibsen, hatte er einen Hund? Nein.« Usw. usw. Es lohnt sich wirklich nicht, auch nur eine Sekunde länger bei diesem Hundeunsinn zu verweilen. Reden wir lieber über Katzen.

Denn Clara Zetkin wartet in ihren »Erinnerungen an Lenin« mit sehr süßem Cat Content auf. Sie berichtet u. a., wie sie Lenin in seiner Privatwohnung im Kreml besucht habe, der Hausherr allerdings erst kurz nach ihr eingetroffen sei: »Als Lenin kam und etwas später, von der Familie aufs freudigste begrüßt, eine große Katze erschien, die dem ›Schreckensführer‹ auf die Schulter sprang und es sich dann auf seinem Schoß bequem machte, hätte ich wirklich wähnen können, daheim zu sein oder bei Rosa Luxemburg und ihrer für die Freunde geschichtlich gewordenen Katze ›Mimi‹.« (S. 14)

Wie Lenins Katze hieß, erfährt man leider bis zum Schluss des Buches nicht. Das ist aber nicht so schlimm, denn glücklicherweise treten in diesem Buch noch viele andere Säugetiere auf, zum Beispiel Ernst Reuter, nach dem bekanntlich der schönste Platz Berlins benannt ist.

Anhang:
Lenin mit Katze auf dem Arm (Wikimedia Commons)

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin. Mit einem Anhang – Aus dem Briefwechsel Clara Zetkins mit W. I. Lenin und N. K. Krupskaja. Berlin: Dietz 1961. S. 3–99 (= 97 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 130
Annemarie Schwarzenbach: »Lyrische Novelle« (1933)

München, 15. Dezember 2018, 11:25 | von Josik

Weil ich demnächst mal wieder in die Schweiz fahre, lieh ich mir im Gasteig zur Vorbereitung auf diese Reise die »Lyrische Novelle« der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach aus. Das Exemplar, das im Magazin der Münchner Stadtbibliothek vorrätig ist, endet auf Seite 114, und zwar mit folgendem Satz aus dem angehängten Essay von Roger Perret: »Kein Wunder, dass die Mutter gegenüber den Büchern von«. Nanu?

Da ich nicht annehme, dass es sich bei diesem Essay um ein literaturhistorisch irgendwie bedeutsames kryptoromantisches Fragment handelt, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass in dieser Ausgabe einfach ein paar Seiten fehlen. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens, dass das besagte Exemplar total zerfleddert ist und im Grunde nur noch aus lauter einzelnen losen Seiten besteht. Zweitens, dass diese Ausgabe laut den Angaben der Deutschen Nationalbibliothek nicht 114, sondern 147 Seiten dünn ist.

Nun aber endlich zu der supersten und stilistisch eigentümlich flirrenden »Lyrischen Novelle« selbst. Eigentlich finde ich Spoiler nicht gut. Hier muss ich aber eine Ausnahme machen. Nachdem das Buch erschienen war, bezeichnete Annemarie Schwarzenbach als den »Hauptfehler« der Geschichte nämlich Folgendes: »Der zwanzigjährige Held ist […] kein Jüngling, sondern ein Mädchen – das hätte man eingestehen müssen« (S. 100).

Also, Leute, wenn ihr demnächst die »Lyrische Novelle« lest, dann stellt Euch bitte keinen Ich-Erzähler vor, sondern eine Ich-Erzählerin!

Vielen Dank.

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Annemarie Schwarzenbach: Lyrische Novelle. Mit einem Essay von Roger Perret. Basel: Lenos 1988. S. 5–97 (= 93 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 129
Irmgard Keun: »D-Zug dritter Klasse« (1938)

München, 14. Dezember 2018, 17:43 | von Josik

Gegen Ende der Lektüre dieses Buches fiel mir wieder dieses Lied ein, das ich vor mehreren Jahrzehnten, als Kind, ein paarmal im Fernsehen gehört hatte: »Augen auf, Ohren auf, Helmi ist da.« An den Inhalt der Helmi-Sendungen habe ich merkwürdigerweise keine Erinnerung, aber dieses Augen-auf-Ohren-auf-Helmi-ist-da-Intro ist das wahrscheinlich eingängigste Lied, das jemals komponiert wurde, und man kriegt es einfach nie wieder aus dem Kopf raus. Bei der mehrsekündigen Recherche zu diesem Text hier habe ich zu meiner Überraschung soeben festgestellt, dass es die Helmi-Sendung immer noch gibt, und krasserweise hat Helmi mittlerweile sogar einen eigenen YouTube-Kanal mit momentan 76 Abonennt*innen.

Das Ganze fiel mir also wieder ein, weil in Irmgard Keuns hinreißendem Roman »D-Zug dritter Klasse« kurz vor Ende eine Figur auftaucht, die Helmi Kanister heißt. Man fragt sich ja oft, was Autor*innen reitet, ihren Figuren die und die Namen zu geben, but, I mean, »Helmi Kanister«! Das ist ja wohl der superste Name in der deutschen Literatur überhaupt! Und der Name passt zu diesem Roman wie die Hülle vom iPhone 7 Plus auf das iPhone 7 Plus, denn Irmgard Keun erzählt so spritzig, so witzig, so hintergründig, so untergründig, dass es eine götterfunkende Freude ist.

Und fragte mich jemand, welche von hundert Hundertseiterinnen ich ganz besonders empfehlen würde, so antwortete ich, ohne zu zögern: diese!

Länge des Buches: ca. 220.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Irmgard Keun: D-Zug dritter Klasse. Roman. Ungekürzte Ausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990. S. 3–100 (= 98 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 128
Natalia Ginzburg: »Anton Čechov. Ein Leben« (1989)

München, 11. Dezember 2018, 12:05 | von Josik

Die meisten Biografien sind ja viele hunderte, wenn nicht sogar tausend oder noch mehr Seiten dick, aber Natalia Ginzburg hat vorgemacht, dass es auch elegant geht: Ihre herrliche Čechov-Biografie hat auf fast genau hundert Seiten Platz, ist also etwas länger als ein durchschnittlicher Wikipedia-Eintrag, liest sich freilich viel literarischer als ein Wikipedia-Eintrag, und das Büchlein ist sogar noch garniert mit sehr schönen Fotos.

Im Paratext der deutschen Ausgabe steht: »Die Originalausgabe erschien 1989 als Vorwort der von der Autorin herausgegebenen Ausgabe Anton Čechov. Vita attraverso le lettere bei Guilio [sic!] Einaudi editore in Turin.« Nun ist es ja bei sehr vielen Büchern so, dass man das tolle Vorwort als eigenes Buch herausbringen und sich den Rest des Buches einfach sparen sollte, aber hier wurde diese Idee, zack, einfach mal in die Tat umgesetzt.

Natalia Ginzburg hat übrigens nicht nur eine fantastische Lebensbeschreibung von Čechov verfasst, sondern auch eine wunderbare Todesbeschreibung:

»Am 1. Juli erwachte er nachts und sagte zu Olga, sie solle einen Arzt holen (…). Doktor Schwoerer kam um zwei Uhr morgens (…). Der Arzt gab ihm eine Kampferspritze. Dann wollte er nach einer Sauerstoffflasche schicken. Čechov sagte: ›Es ist sinnlos. Bis sie sie herbringen, bin ich schon tot.‹ Da ließ der Arzt Champagner kommen. Čechov nahm das Glas, das man ihm anbot, und sagte: ›Ich habe so lange keinen Champagner mehr getrunken.‹ Er leerte das Glas und drehte sich auf die Seite. Kurz darauf atmete er nicht mehr.« (S. 103f.)

Einfach noch mal ein Gläschen Champagner trinken und dann sterben – das ist doch eine superste Todesart, die hiermit unbedingt zur Nachahmung empfohlen wird.

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Natalia Ginzburg: Anton Čechov. Ein Leben. Aus dem Italienischen von Maja
Pflug. Berlin: Klaus Wagenbach 2009. S. 3–103 (= 101 Textseiten).

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