Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Vor- und Nachruf auf Frank Schirrmacher

Berlin, 20. Juni 2014, 07:00 | von Josik

»Der Großteil der Journalisten des deutschen Gegenwarts­feuilletons hat Schirrmachers Weg gekreuzt, zum Besseren oder zum Schlechteren. Schaudernd erzählen sich noch heute die, die dabei waren, von der großen Feuilletonisten-Wanderung, die im Jahr 2001 zwischen SZ und FAZ stattfand«.

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Man muss sich klarmachen, dass trotz seines jungen Alters der Großteil der Journalisten des deutschen Gegenwarts­feuilletons Schirrmachers Weg gekreuzt hat, und diese Begegnungen hatten oft Folgen, zum Besseren oder zum Schlechteren. Legendär ist ja die große Feuilletonisten-Wanderung, die im Jahr 2001 zwischen den Kulturressorts der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen stattfand.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

*

»Über Schirrmachers Schlüssel-Ego Christian Meier heißt es in dem Buch: ›Er führte seine Zeitung wie ein Bankier einen Hedgefonds, als spekulatives Geschäft. Dauernd passierte etwas, das zu keinem vorhersehbaren Verlauf, zu keinem Skript passte.‹ Das ist eine schöne und böse Beschreibung. Der Wille zur Denunziation ist unübersehbar. Aber, warum nicht – Schirrmacher als Themen-Kapitalist, einer, der auf die Akkumulation von Fantasie setzt, ein Spekulant der Ideen und Entwürfe, der in seiner Anlagestrategie auch mal über die Leichen der braven Kultur-Leute in den Redaktionen geht, die sich ihre Ideen mühsam vom Munde absparen müssen, dessen Rendite aber das beste Feuilleton des Landes ist.«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Über Schirrmachers Buch-Ego Christian Meier heißt es in dem Roman: ›Er führte seine Zeitung wie ein Bankier einen Hedgefonds, als spekulatives Geschäft.‹ Das war eine schöne und böse Beschreibung: Schirrmacher, der Themen-Kapitalist, der auf die Akkumulation von Fantasie setzt, ein Spekulant der Ideen, der in seiner Anlagestrategie auch über die Leichen der braven Kultur-Leute geht, die sich ihre Ideen mühsam vom Munde absparen müssen, dessen Rendite aber das beste Feuilleton des Landes ist.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

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»Zum Ende des vergangenen Jahrhunderts hat er sich selber und uns allen ein Programm für die kommenden Jahre geschrieben: ›Fast wöchentlich werden wir von technologischen und wissenschaftlichen Innovationen überrascht wie kaum eine Generation zuvor, und Europa schweigt. … Der amerikanische Theoretiker und Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen. … Europa soll nicht nur die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie liefern. Wir sollten an dem Code, der hier geschrieben wird, mitschreiben.‹«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Im Jahr 2000 legte Schirrmacher sich und uns allen das Programm für die kommenden Jahre fest: ›Fast wöchentlich werden wir von technologischen und wissenschaftlichen Innovationen überrascht wie kaum eine Generation zuvor, und Europa schweigt. (…) Der amerikanische Theoretiker und Computerexperte Ray Kurzweil verkündet unter dem Beifall des amerikanischen Publikums, dass Computer noch zu unseren Lebzeiten den menschlichen Verstand übersteigen werden, und in Deutschland kennt man noch nicht einmal seinen Namen. (…) Europa soll nicht nur die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie liefern. Wir sollten an dem Code, der hier geschrieben wird, mitschreiben.‹«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

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»Schirrmacher schreibt: ›Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.‹ Und dann schreibt Sahra Wagenknecht ihre vielleicht besten, sicher aber einflussreichsten Texte über Europa und die Finanzen in der FAZ – nicht im Neuen Deutschland und nicht auf der Netzseite der Linkspartei (und auch nicht im Freitag).«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Nach der großen Finanzkrise, die eine Vertrauenskrise des Kapitalismus war, stellte er fest: ›Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.‹ Und dann druckte er die vielleicht besten Texte der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht über Europa und die Finanzen in der FAZ ab.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

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»Ein ›großartiges intellektuelles Spielzeug‹ hat Schirrmacher das Feuilleton einmal genannt. Wie sehr müssen ihn all jene dafür hassen, die das Spielen vor langer Zeit verlernt haben.«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Schirrmacher nannte das Feuilleton einmal ein ›großartiges intellektuelles Spielzeug‹. Und wie sehr hassten ihn all jene dafür, die das Spielen vor langer Zeit verlernt haben!«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

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»Der Mächtige, der es jung an die Spitze geschafft hat und für dessen Aufstieg das Nietzsche-Wort galt: ›Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige, – das verzeiht mir keine Stufe.‹«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Für den Mächtigen, der es jung an die Spitze geschafft hatte, galt das Nietzsche-Wort: ›Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige – das verzeiht mir keine Stufe.‹«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 115)

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»Wer sich hierzulande gleichzeitig mit Philosophie, Technologie, Soziologie, Epistomologie und Heuristik befasst, arbeitet vermutlich eher in der Redaktion der Sendung mit der Maus als am Elitezentrum einer deutschen Universität oder in der Redaktion eines Feuilletons.«

(Jakob Augstein im »Freitag« vom 16. August 2012)

»Wer sich gleichzeitig mit Philosophie, Technologie, Soziologie und Heuristik befasst, arbeitet eher in der Redaktion der ›Sendung mit der Maus‹ als in der Redaktion einer großen Zeitung.«

(Jakob Augstein im »Spiegel« vom 16. Juni 2014, S. 114)

 


Der Fall Elke Heidenreich

Berlin, 24. Mai 2014, 21:43 | von Josik

Nein, es weihnachtet grade nicht, aber es raddatzt sehr. Zu verdanken ist das Elke Heidenreich. Im »Literaturclub« ging sie fehlerhaft mit einer Heidegger-Wortfolge um und wollte sich diese Fehlerhaftigkeit auch vom Moderator Stefan Zweifel nicht kaputtmachen lassen. Nachdem der widerborstig-impertinente Stefan Zweifel seine Mitdiskutantin Elke Heidenreich auf die Fehlerhaftigkeit ihrer Heidegger-Wortfolge hingewiesen hatte, schmiss sie feingeistig den besprochenen Heideggerband auf den Tisch (YouTube is your friend).

Stefan Zweifel wurde daraufhin seiner Pflichten als Moderator entbunden und viele Kommentatoren (darunter hier der und möglicherweise indirekt auch hier der) fordern nun, nicht auf ihn, sondern auf Elke Heidenreich solle der erste bzw. zweite Stein geworfen werden. Und sie führen den Fall Raddatz als Beispiel dafür an, wie die Zeiten sich verändert hätten: 1985 sei es noch so gewesen, dass nicht derjenige rausgeschmissen wurde, der die Fehlerhaftigkeit eines Zitats erkannt hat, sondern derjenige, der einem Falschzitat aufgesessen ist.

Benedict Neff schreibt in der »Basler Zeitung«: »Wie heikel solche falschen Zitate auch im Kulturbetrieb sein können, zeigt das Beispiel des einstigen Feuilleton-Chefs der Zeit, Fritz J. Raddatz.« Und Jürg Altwegg erinnert in der »FAZ« daran, dass die »Basler Zeitung« an Fritz J. Raddatz erinnert.

Philologisch gänzlich unverantwortlich und absolut fahrlässig wird hier aber ersichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Denn erstens ist einem Interview, das Elke Heidenreich vor einiger Zeit dem Magazin »Cicero« gab, zu entnehmen, dass sie ihre Arbeit sehr wohl immer nach bestem Wissen und Gewissen verrichtet: »Es ist (…) wichtig«, sagte sie dort, »sich auch intellektuell mit Texten und Büchern auseinanderzusetzen, und das kann nur das Feuilleton. Da kann man die Sätze nachlesen, da kann man schwierige Texte noch mal überprüfen.«

Und zweitens ist es seit rund drei Jahrzehnten Communis Opinio, dass Raddatz’ fehlerhafter Umgang mit Zitaten eine Lappalie, mithin sein Rausschmiss bei der »Zeit« nicht gerechtfertigt war. Also, d’accord: Damals wäre es richtig gewesen, Raddatz auf seinem Posten zu belassen! Aber heute soll es falsch sein, Elke Heidenreich auf ihrem Posten zu belassen? Beide sind fehlerhaft mit Zitaten umgegangen. Doch was einem renommierten Intellektuellen, einem Germanistik­professor, einem Universalgenie, aber letztlich eben auch einem Menschen wie Raddatz passieren kann, soll ebenfalls einem Menschen und immerhin einer gestandenen Trägerin des Medienpreises für Sprachkultur wie Elke Heidenreich nicht passieren dürfen?

Im Fall Raddatz sprach Peter Voß von einem »Fehler, von dem man eigentlich sagen kann, der nicht der Rede wert ist«. Raddatz selbst berichtet, wie er auf einer Geburtstagsfeier bei den Henkels am 25. Oktober 1985 von vielen Geistesgrößen angesprochen worden sei: »Von Scheel zu Hamm-Brücher, von Höfer bis Ehmke, von Liebermann bis Ledig: Was wollen die überhaupt, wieso verteidigen die Sie nicht, das alles wegen eines läppischen Fehlers? Man kann NIRGENDS begreifen, daß eine solche Lappalie überhaupt ernst genommen wird.« Ja, sogar Steuerrechtsexperte Theo Sommer selbst nennt das Ganze inzwischen eine »Lappalie«!

Im Fall Raddatz spricht auch Lothar Struck von einem »lächerlichen Fehlerchen«, im Fall Heidenreich spricht derselbe Lothar Struck jetzt aber plötzlich von der »Aufgabe jeglicher intellektuellen Redlichkeit (Falschzitat)«.

Man muss vielleicht doch noch einmal daran erinnern, was Robert Gernhardt 1985 im »Spiegel« über Raddatz schrieb: »Er hat uns mehr über Grammatik, Geographie, Bildende Kunst und (…) auch Philologie beigebracht als so manches andere staubgründliche Feuilleton.« Klar ist, dass ein unabhängiger Geist wie Raddatz sich von solch anbiederndem Lob nicht beeindrucken lässt. Noch sechs Jahre nach Gernhardts Tod urteilte Raddatz: »Die Deutschen lieben ihre selbstfabrizierten Mythen, lauwarm weichgespült mögen sie bitte nicht von den kühlen Wassern der Vernunft gereinigt werden. (…) So halten sie Robert Gernhardt für einen fast genialen Lyriker – der doch in Wahrheit über Schülerzeitungsreime à la ›Den Mistkerl hab ich rangekriegt. Er hat sie in den Mund gefickt‹ nie hinausgelangte«, und auch in einer Kritik, die laut »Zeit Online« bereits vom 31. Dezember 1899 stammt, verglich Raddatz in einem Totalverriss, einen brillanten Gedanken variierend, Gernhardts dichterische Potenz mit »der parodistischen Energie eines Schülerzeitungs-Redakteurs«.

Doch zurück zu Elke Heidenreich: Wollen wir allen Ernstes den Fehler, der anno 1985 im Fall Raddatz begangen wurde, wiederholen? Wollen wir denn gar nichts aus der Geschichte lernen? Wollen wir wirklich über Elke Heidenreich den Stab brechen? Was ist mit den Idealen der Toleranz und des Miteinanders? Stattdessen werden weiterhin Hass, Wut und schlechte Laune gepredigt. Warum nur ergötzen Menschen sich so lustvoll am Unglück anderer? Warum haben Menschen so weitgehend die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren, zu Erbarmen – gar Barmherzigkeit? Die Botschaft von Barmherzigkeit trifft auf taube Herzen, ist dahingeschmolzen wie die Kerzen am Baum. Statt des Gebots »Liebe deinen Nächsten« liest man die Umtauschgarantie. Es zählen nur noch Gütesiegel – keine Güte mehr. Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten.
 


Döpfner-Porträt

Berlin, 31. Januar 2014, 01:42 | von Josik

Es war also soweit alles in Butter. Bis dann am Montag plötzlich ein sechsseitiges, von »Spiegel«-Gesellschaftschef Matthias Geyer gezeichnetes Mathias-Döpfner-Porträt auf uns herniederging. An diesem Porträt wurde inzwischen derart herumgehackt, dass ich es heute in aller Ruhe ein zweites Mal las, um mir eine unabhängige Meinung darüber zu bilden, ob es denn wirklich so schlecht ist, wie alle sagen.

Nach der ersten Lektüre war ich einfach nur enttäuscht, weil es da hauptsächlich um Döpfner als Verleger ging, aber so gut wie gar nicht um Döpfner als Journalist. Das jedoch hätte mich viel mehr interessiert, war mir doch immer noch die untoppbare neoklassische Antithese in Erinnerung, die Döpfner in seinem Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki untergebracht hatte: »dass sein Tod zur Hauptschlagzeile sogar der ›Bild‹-Zeitung wurde … ist ein Lebenswerk für sich«. UMBL-intern gibt es seit diesem Nachruf eine rege Diskussion darüber, ob wir statt den vossianischen Antonomasien, die uns ja allen schon langsam zum Hals heraushängen, nicht viel lieber neoklassische Antithesen sammeln sollten.

Doch zurück zu Matthias Geyer. Nach der zweiten Lektüre des besagten »Spiegel«-Artikels lautet nun mein Fazit: Es scheint, als ob hier wieder einmal ein Missverständnis vorliegt. Denn die Frage ist natürlich immer, mit welchen Erwartungen man an einen solchen Artikel herangeht. Erwartet man ein feuilletonistisches Glanzstück, einen Meilenstein des impressionistischen Journalismus, eine vitale, anregende, beflügelnde, zwischen Dichtung und Wahrheit oszillierende Darstellung, der man in jeder Silbe anmerkt, dass die Schreibkraft Geyer von der Muse geküsst wurde, so ist dieses Porträt in der Tat rundum misslungen, eine Katastrophe ohnegleichen, der letzte Dreck. Erwartet man aber nichts weiter als hard facts, so ist dieser Artikel über jeden Zweifel erhaben.

Karl Kraus hat geschrieben, Zweck der Zeitungen sei es, »Tatsachen wiederzugeben« (Fackel 378, S. 26), und an der »nützlichen und unerläßlichen Funktion, Tatsachen zu sammeln« (Fackel 890, S. 22), hat er nie einen Zweifel gelassen. Gemessen an diesem Anspruch also, muss der überragende faktenorientierte Nachrichtenwert des Geyer-Artikels noch mal nachdrücklich verteidigt werden.

Der Berliner Wintermorgen, an dem Döpfner in ein Flugzeug stieg, war »lichtlos«. Döpfners Lesebrille hat »goldfarbene« Bügel. Döpfner trägt einen »schwarzen« Anzug und ein »weißes« Hemd.

An seinem Jackett steckt ein Namensschild mit einem »roten« Balken. Gegenüber von Döpfner sitzt ein Mann mit einem »grünen« Balken auf dem Namensschild. Die Haare dieses Mannes »wellen« sich im Nacken »in die Höhe«.

Döpfner trägt einen weiten »schwarzen« Mantel. Friede Springer setzt sich vorsichtig auf einen »cremefarbenen« Sessel. Sie hält eine »abgegriffene Ledertasche« mit »beiden« Händen auf ihrem Schoß.

Sie »greift« ihre »Ledertasche«. Döpfner fällt in »weiches, beigefarbenes« Leder. Das Kostüm, das Friede Springer trägt, ist »tadellos gebügelt«.

Wenn man mit Easyjet fliegt, bedient einen »der Typ mit dem Teewagen«. Im Learjet holt Döpfner »Dosenbier« und »Nüsse« aus dem Kühlschrank. Döpfner lässt das Bier nicht, wie naive Leser erwartet hätten, angebrochen stehen, sondern: »Er trinkt das Bier aus«.

Zuvor war Döpfner mit »elastischen« Schritten in die Ankunftshalle gelaufen. (Und wie anders als in der Luft sind die Verhältnisse zu Lande: Ein Kleinbus »ruckelt« über die »löchrigen« Berliner »Straßen«.) Das »Tischchen« vor Döpfner ist aus »poliertem« »Wurzelholz«.

Friede Springer und Mathias Döpfner treffen einen Asiaten, der »akzentfrei« Deutsch spricht. Die Wände in Friede Springers Büro sind mit dem »dunklen« Holz der »Douglasfichte« verkleidet. Der »Bourdeaux« (Hölderlin), den Döpfner in der Paris Bar bestellt, ist »gut«.

Döpfner scheint eine »Welt«-Tüte »wie eine Erinnerung« bei sich zu tragen. Das Verlagshaus Springer hat »Stammzellen« »ausgespuckt« (was auch biologisch interessant ist!) »wie verdorbenes Essen«. Ein Fünfsternehotel, in dem eine Roadshow stattfindet, muss man sich vorstellen »wie einen Luxuspuff«.

Irgendwo steht die Zahl 920.000.000 »wie ein Appetitanreger«. Der Mann, dessen Haare sich im Nacken »in die Höhe« »wellen«, blättert in einem Ringbuch »wie in einer einfallslosen Speisekarte«. Stefan Aust steht neben Döpfner »wie sein persönlicher Journalistenpreis«.

In Friede Springers Büro bedecken alte, in »Leder« gebundene Bücher mit »Goldschnitt« die Wände »wie Schlingpflanzen«. Friede Springer lebt in ihrem Büro »wie eine stille Museumswärterin«.

Von hinten betrachtet sieht Mathias Döpfner aus »wie ein Kardinal«. Alfred Neven DuMont sitzt hinter seinem Schreibtisch »wie ein König«.

Aus Neven DuMonts Westentasche hängt die »goldene« Kette einer Taschenuhr. Neven DuMonts Beine liegen auf einem großen Kissen, das mit »weichem Leder« bezogen ist.

»Manche Begriffe pfiffen wie Kugeln durch den Raum«. »Pfff.«

Aus rechtlichen Gründen kann hier leider nicht der komplette Artikel zitiert werden.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2013

Leipzig, 14. Januar 2014, 04:14 | von Paco

Der Maulwurfstag ist da! Heute zum *neunten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2013:

Der Goldene Maulwurf

Dass Özlem Gezers Gurlitt-Porträt aus dem »Spiegel« vergoldet werden musste, war natürlich ein bisschen offensichtlich. Aber wie wir in der Laudatio schreiben: »Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern.«

Andreas Puff-Trojan wiederum ist die mit Abstand beste und pastichierendste Literaturkritik des Jahres gelungen. Sie wurde im »Standard« veröffentlicht, und überhaupt: österreichische Tageszeitungen! Wir können die nur immer wieder empfehlen, gerade für die Momente, in denen das Feuilletonlesen nicht mehr so viel Spaß zu machen scheint wie früher.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2013:

1. Özlem Gezer (Spiegel)
2. Andreas Puff-Trojan (Standard)
3. Sascha Lobo (FAZ)
4. Wilfried Stroh (Abendzeitung)
5. Simone Meier (SZ)
6. Claudius Seidl (FAS)
7. Liane Bednarz (Tagespost)
8. Margarethe Mark (Zeit)
9. Peter Unfried (taz)
10. Joachim Lottmann (Welt)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben. Wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen, wobei es sich bei dem Artikel der »Münchner Abendzeitung« um ein On-/Offline-Gesamtkunstwerk handelt. À propos, das gutgelaunte »Servus aus München«, das der AZ-Kulturredakteur Adrian Prechtel beim Feuilleton-Pressegespräch im Deutschlandradio Kultur immer in den Äther schickt, ist der momentan wohl schönste feuilletonistische Kampfschrei und wir sind ganz süchtig danach.

Nächstes Jahr steht endlich der 10. Goldene Maulwurf an, Jubiläum! Hinweise auf feuilletonistische Ubertexte des laufenden Jahres 2014 bitte wie stets an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis später,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Väter und Söhne und »Focus« und »Spiegel«

Leipzig, 12. November 2013, 09:46 | von Marcuccio

Hammertext. Der Schweinsohr kauende Vater … Diese Väter-Söhne-Geschichten von Jens über Kohl bis Unseld und Wimbauer sind wirklich ein Verhaltens- und Kulturmotor ersten Ranges. Oft genug die reine Hypothek. Der eine verdaut den Vater offensiv, der nächste hyperaktiv, der dritte passiv – Sohn von Hildebrand Gurlitt zu sein, bedeutete ja auch, lebenslänglich Sohn zu sein. Da erbst du 1406 Kunstwerke und kannst sie doch nur deponieren. Einem Beruf gehst du erst gar nicht nach. Nur wenn die Knödelvorräte zur Neige gehen, verkaufst du halt mal wieder einen Schinken. Der Kunstmarkt spielt Jahrzehnte diskret mit. Wie schlecht die »Focus«-Story von vor einer Woche war, zeigte sich erst gestern. Man hat in der Sache nichts Substanzielles verpasst, wenn man erst den »Spiegel« las (S. 150–158). Lustig finde ich ja auch, dass »Paris Match« gelang, was »Bild«, SZ und »Abendzeitung« (»Servus aus München«) mit geballter Münchner Lokalmedienmacht nicht schafften. Gurlitt, der die ganze Zeit zu Hause war, zu Gesicht zu kriegen.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 45
Peter Hacks: »Zur Romantik« (2001)

Berlin, 28. Dezember 2012, 09:03 | von Josik

Ganz nebenbei erfährt, wer im Biologieunterricht nicht aufgepasst hat, in diesem Buch Erstaunliches über das Sexualleben von See-Elefanten (S. 37f.). Gleich auf der ersten Seite aber legt Peter Hacks los mit einem Zitat aus dem »Spiegel« vom 5. April 1999, also jener Ausgabe, die das berühmte Interview enthielt, in welchem Sandra Bullock sagte: »Ich habe das Surfen aufgegeben. Die Entwicklung der virtuellen Welt hat mich wirklich erschreckt. Da draußen geht es zu wie im Wilden Westen.«

Mein Lieblingssatz in Hacks‘ Romantikbuch ist allerdings der mittlere der folgenden drei Sätze: »Aber auch Johnston hatte Vorgänger in der Kleistforschung. Ich erwähne die Namen. Es sind Reinhold Steig und August Fournier.« (S. 55) Natürlich hätte der Satz »Ich erwähne die Namen« ebensogut weggelassen werden können. Aber gerade das ist ja wahrscheinlich das Tolle an Hacks: dass er diesen Satz nicht weglässt, sondern uns seiner Offenbarungen teilhaftig werden lässt. Eine mir völlig unverständliche Aversion hegt Hacks jedoch gegen den schönen Namen Leberecht und verhunzt ihn sowohl im Falle Karl Immermanns (S. 40) als auch im Falle des Generalfeldmar­schalls von Blücher (S. 69) auf eine ganz entsetzliche Weise.

Das formvollendete Deutsch, das Peter Hacks zu schreiben pflegte, wurde schon oft gelobt. Ein Hacks indes bedarf des Lobes nicht, deshalb wäre es falsch, ihn mit noch mehr Lob zu überhäufen. Vielmehr ist es nun an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun und Peter-Hacks-Sätze als Musterbeispiele in Stilfibeln aufzunehmen. Da man aus Platzgründen leider nicht alle Peter-Hacks-Sätze wird nehmen können, wird man auswählen müssen. Ich rate zu diesen beiden: »Später wird es so hergehn, daß […] Hardenberg einen hohen Rang bei den Illuminaten bekleiden wird, während vom Freiherrn vom Stein zu sagen sein wird, daß sein Assistent Carl Wilhelm Koppe […] den Tugendbund […] formen wird.« (S. 64) Und: »Das Buch ist ein sowohl schwul als sadistischer Porno.« (S. 13)

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Hacks: Zur Romantik. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 2001.

Peter Hacks: Zur Romantik. In: Ders.: Die Massgaben der Kunst III. Hacks Werke, Band 15. Berlin: Eulenspiegel-Verlag 2003. S. 5–107 (= 103 Text­seiten).

Peter Hacks: Zur Romantik. Berlin: Eulenspiegel-Verlag 2008. (Zitatgrundlage für oben. Diese Ausgabe erschien zeitlich parallel und seitengleich auch im Konkret Literatur Verlag.)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Anlässlich der FAS vom 2. Dezember 2012:
Die extrem tolle deutsche Zeitungslandschaft

Chemnitz, 3. Dezember 2012, 00:16 | von Paco

Gegen 15 Uhr erwachte ich endlich aus tiefem Schlaf und hatte sofort extreme Lust darauf, die FAS zu lesen. Eine Stunde später saß ich im Michaelis und tat genau das. Das heutige Feuilleton war wieder mal gehobenste Spitzenklasse. Das fängt schon bei den Kolumnen an. Tobias Rüther (in Absprache mit Angus T. Jones) über »Two and a Half Men«: »Die Show ist wirklich der letzte Dreck.« Und Johanna Adorján mit einer erfahrungsgesättigten These zu Fahrradhelmen: »Beim Anblick von Fahrradfahrern, die einen Helm aufhaben, ergreift mich mittlerweile die nackte Angst. Sie ist nicht angeboren, sondern in zahlreichen Zweikampfsituationen qualvoll erlernt. Wer, sagen wir, älter als zwölf Jahre ist und sich zum Fahrradfahren einen Helm aufsetzt, fährt nämlich unfassbar schlecht Fahrrad. Ist so.«

Dabei dachte ich zunächst, ich hätte die falsche Zeitung und das falsche Jahrzehnt erwischt, denn in der Fußzeile der Feuilleton-Frontpage stand etwas von »Call of Duty 2«, das ja aber schon zu Weihnachten 2005 erschienen war. Es handelte sich aber eindeutig um die heutige Ausgabe, 2. Dezember 2012, also dachte ich als nächstes: ein Retro-Review? Warum nicht! Warum nicht einfach mal Bücher, Filme, Ego-Shooter besprechen, die schon vor sieben Jahren erschienen sind: sehr gute Idee! Dann ging es aber im Artikel selber natürlich um »CoD: Black Ops 2«, was der Beauftragte für die Gestaltung der Ankündigungsfußzeilen vergessen hatte zu erwähnen.

Die Rezension von Gregor Quack ist jedenfalls hervorragend, und zwar weil er gleichzeitig die momentane Unmöglichkeit mitkommuni­ziert, über einen so bombastisch inszenierten Ego-Shooter überhaupt urteilen zu können. Die Videospielbranche bräuchte genau jetzt einen IT-Lessing, der analog zur »Hamburgischen Dramaturgie« erst mal rausfindet, wie man über so eine ästhetische Revolution überhaupt angemessen schreiben kann: »Es gehört eigentlich zu den Aufgaben der Kulturkritik, hierfür das passende ästhetische Besteck zu schmieden. Und wir fangen auch damit an. Versprochen.«

Dann schreibt noch Volker Weidermann über 70 Jahre Peter Handke. Erst mal vermerkt er seine Freude darüber, dass Handkes »Jugosla­wien-Phase« vorbei sei und er nun wieder leise, filigrane Bücher wie den »Versuch über den Stillen Ort« schreibe. (Wobei sich ja mit wachsendem zeitlichen Abstand komischerweise irgendwie der Eindruck verstärkt, dass Handke das Scharmützel gegen die Jugoslawien- und Serbienfeinde damals haushoch gewonnen hat.) Anhand des frisch erschienenen Briefwechsels zwischen Handke und Unseld macht Weidermann übrigens die interessante Beobachtung, dass sich Unseld bei der Korrespondenz mit seinen Autoren (Koeppen, Frisch, Bernhard usw.) so lange runterputzen lässt, »bis es ihm irgendwann einmal reicht. Und zwar, so mein Eindruck – reichte es Unseld bei jedem seiner Autoren, die allesamt ihm gegenüber das Sozialverhalten von ungefähr Fünfjährigen an den Tag legten – genau einmal. Einmal im Leben schimpft er zurück.« Diese seltenen Unseld’schen Rückschimpf­briefe sollten unbedingt in einer bibliophilen Einzeledition erscheinen!

Im Medienressort ist noch ein Interview von Harald Staun mit Christoph Amend und Timm Klotzek zu lesen. Es geht da um die jeweils nächste Ausgabe des »Zeit«- und des »SZ«-Magazins, die nämlich beide das Titelthema »Konkurrenz« haben werden, und warum auch nicht.

Als ich fertig war mit Minztee, Stachelbeerbaiser und FAS, traf ich mich noch mit ein paar Leuten auf dem Weihnachtsmarkt. Irgendjemand berichtete, dass er nun endlich das Thielemann-Interview in der »Zeit« von neulich gelesen habe. Sofort zitierten alle ihre Lieblings­stellen, denn dieses Interview ist wohl das Feuilletonereignis des Jahres gewesen, so so geil, es ist wirklich immer noch nicht zu fassen, dass dieser Text gewordene Feuilletontraum tatsächlich gedruckt in einer Zeitung gestanden hat.

Als ich später nach Hause schlenderte, fiel mir ein, wie extrem toll es doch derzeit um die deutsche Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft bestellt ist, und als ich dann zu Hause war, rief Dique an und fragte, ob ich den genialen »Spiegel« von morgen schon gelesen habe. Hatte ich da noch nicht, habe ich inzwischen aber nachgeholt: wunderbar!
 


Marlene Streeruwitz

Berlin, 5. September 2012, 10:49 | von Josik

In dem berühmten »Spiegel«-Interview mit Marlene Streeruwitz (Ausg. 48/2006, S. 173) ist übrigens wirklich jeder einzelne Satz spitze: »Ich will als handelndes und denkendes Subjekt nicht auf ein sprechendes Geschlechtsorgan reduziert werden.« Oder: »Das Theater hält sich selbst nicht für kritisierbar. Das muss besprochen werden.« Oder: »Wir sind damit wieder beim Hanswurst-Theater auf dem Marktplatz, von dem Lessing einst wegwollte.« Oder: »Ich bin telefonisch erreichbar.« Oder auf die Frage: »Sie bekennen sich zur Humorlosigkeit?« die schöne Antwort: »Ja.« Ach ach, ich könnte jahrzehntelang nichts anderes tun als aus diesem herrlichen Interview zitieren!
 


Alte Fälle der Feuilleton-Kriminalistik:
Luciana Glaser

Krakau, 17. August 2012, 14:10 | von Marcuccio

Hauptsache, man ist überhaupt irgendwie. Sichtbar und greifbar. Deswegen erinnert die Enthüllung von Per Johansson ein bisschen an den Fall Luciana Glaser, der aber in sich noch mal ganz anders gelagert war, auch weil der Verlag (Zsolnay) damals nicht mitspielte, sondern mit reingelegt wurde. Aber der Reihe nach, denn auch diese Autorin kam scheinbar aus dem Nichts:

»Nirgends hatte sie vorgelesen, nie hatte sie Stipendien beantragt oder Literaturpreise empfangen, nicht einmal im Rundfunk an irgendwelchen Diskussionsrunden zum traurigen Stand der Gegenwartsliteratur teilgenommen.«

Schreibt Willi Winkler im »Spiegel« 27/1990. Interessant, wie sehr die in die Jahre gekommene Bemerkung auch darüber Auskunft gibt, wie extrem literarische Identität damals noch an klassische Zugangswege gekoppelt war. Unvorstellbar ein Airen, der einfach mal so als Blogger da ist, entdeckt, plagiiert, berühmt wird.

Wer also war Luciana Glaser?

Ein Pseudonym. Eine Fake-Person. Aber zuallererst mal war sie eine angeblich 1952 geborene Südtiroler Autorin, die für ihre im Februar 1990 erschienene Erzählung »Winterende« gelobt wurde – in den höchsten Tönen: »Den Kritikern fielen nur erlauchte Namen ein, um vergleichsweise der vollkommen unbekannten Größe Glasers gerecht zu werden: Thomas Bernhard und Rilke und Hölderlin mußten es schon sein«, berichtet Winkler rückblickend in bewährt-süffiger »Spiegel«-Häme. Ansonsten gab es nur »eine biographische Notiz, nach der Luciana Glaser aus Rovereto stamme, Tochter eines österreichischen Vaters und einer italienischen Mutter sei und in Wien studiert habe. Mit dem Verlag verkehrte sie zeitweilig über eine c/o-Adresse in Innsbruck.«

Und ein Foto der 38-jährigen, das gab es auch nicht, offizielle Begründung: Sie lebe »in solcher Zurückgezogenheit, daß keine Photographie zur Verfügung steht«. Und überhaupt: Sie »habe eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet und dort lernen können, was es für einen Autor und mehr noch für eine Autorin bedeutet, sich auf diesen Markt der Körper zu begeben«. Hui. »Ich bin nicht in der psychischen Verfassung, mir das zuzutrauen«, verlautete, acht Jahre vor Erfindung des literarischen Fräuleinwunders, der O-Ton von Luciana Glaser im »Spiegel«.

Das ließ die feuilletonistische Kriminalistik nicht ungerührt, aber sie musste vor der Erfindung von Google noch richtig reisen. Noch mal Willi Winkler:

»Vor allem die österreichischen Literaturkritiker verwandelten sich über Nacht in nichtlizenzierte Detektive und forschten im Geburtenregister der Stadt Rovereto (eine Familie Glaser gibt es dort nicht), blätterten im Immatrikulationsverzeichnis der Universität Wien (unter diesem Namen hat niemand studiert). Es gab sie offenbar nicht. Das Rätsel verlieh der Erzählung eine Bedeutung, die sie gar nicht hatte.«

Und damit sind wir beim Thema, das Gregor Keuschnig angeschnitten hat. Die Bereitschaft, Texte ohne Paratexte, sprich: Literatur von Autoren ohne Herkunft, ohne Foto, ohne Identität zu akzeptieren, ist gering. Ob sie in der professionellen Kritik jemals stärker vorhanden war als heute, sei aber dahingestellt. Beim aktuellen Fall Johansson/Steinfeld war sie freilich nie einzufordern, denn ein Verlag, der Blurbs, Fake-Foto und Fake-Biografien so opulent arrangiert wie S. Fischer für Per Johansson, der will ja gerade einen außerliterarischen Referenzrahmen schaffen.
 


Irina Antonowa

Leipzig, 11. Juli 2012, 22:18 | von Paco

Als ich diese Woche den wieder mal randvoll mit sehr schönen Artikeln gefüllten »Spiegel« las, musste ich unweigerlich an »Curb Your Enthusiasm« denken, an die Folge »Chet’s Shirt« aus der 3. Staffel:

Larry kauft sich bei Caruso’s in Santa Monica dieses schwarz-cremefarbene Shirt, das er auf einem Foto des verstorbenen Chet gesehen hat. Als sich Ted Danson später lobend über dieses Kleidungsstück äußert, beschließt Larry, ein weiteres Exemplar zu besorgen und es Ted zu schenken. Bei der Geschenkübergabe stellt sich allerdings heraus, dass da ein Loch im Gewebe ist. Larry will das kaputte Shirt aber nicht zurücknehmen, lieber soll nun Ted wieder zu Caruso’s gehen und das Shirt ganzmachen lassen, es gehöre ja jetzt ihm, das Geschenk sei ja schon auf den Beschenkten übergegangen: »I don’t own this shirt anymore, as I see it. I gave it to you. It’s your responsibility.«

Worauf Ted Danson definiert: »You didn’t give me a gift. You gave me a defective shirt. It’s got a hole in it. (…) That’s a problem, not a gift

You call it a gift and I call it a problem. Also genau wie bei Ginger Rogers & Fred Astaire (»you say tomäjto and I say tomahto«). Und genau wie im aktuellen »Spiegel«. Denn darin ist auf den Seiten 80 bis 84 ein sehr hervorragendes Interview mit der 90-jährigen Immer-noch-Direktorin des Moskauer Puschkin-Museums abgedruckt. Und schon im Artikelvorspann rufen ihr die Autoren zu: You say Trophäenkunst and we say Beutekunst.

Ich habe den Text mittlerweile dreimal gelesen, einfach spitze von vorne bis hinten. Neben der Benennungsschlacht zwischen Beute- und Trophäenkunst startet Irina Antonowa in all ihrer Neunzigjährigkeit noch ein weiteres Scharmützel:

»Ein bei uns recht bekannter Künstler kam 1993 ins Puschkin-Museum und verrichtete vor einem Gemälde von van Gogh seine Notdurft. Das nennt sich dann Performance. Das ist doch keine Kunst, sondern eine Schweinerei. Ich denke, dass ihm drei Monate Gefängnis nicht geschadet hätten, um darüber nachzudenken, was er da getan hat.« (S. 81)

You say Performance and I say Schweinerei. An dieser Stelle heißt es dann bei Ginger & Fred: Let’s call the whole thing off. Aber das »Spiegel«-Interview geht weiter, immer weiter, in all seiner Herrlichkeit.