Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Jonas Kaufmann

Leipzig, 12. Februar 2008, 07:37 | von Austin

Die Jonas-Kaufmann-Wochen sind ausgebrochen im deutschen Feuilleton. Und schon allein das untergräbt die konsumkritische »Diese Marketing-Strategie machen wir nicht mit«-Haltung, die diese Artikel durchzieht. Ein Arien-Album ist erschienen, und Jonas Kaufmann sieht passabel aus – Kommerz! schreit das Feuilleton. Geil. Wie berechenbar ist das denn. Der Kulturbetrieb argwöhnt, mit einer neuen Anna Netrebko belästigt zu werden, und macht dann kräftig mit, sich auf das eine Kriterium zu stürzen, das offensichtlich dazu ausreicht: Aussehen. Ansonsten: Stille. Weiteres fachlich Relevantes wird letztlich nicht geliefert.

Kaum ist also Rolando Villazón dauerhafter abgemeldet, sucht man nach einem neuen Partner für die schuhschmeißende Netrebko. Der »Spiegel« hat dann neulich seinen Opern-Kisch Moritz von Uslar in die Spur geschickt (Ausgabe 3/2008, S. 132-133), und der fand eben dann offenbar Jonas Kaufmann und rief direkt gleich mal das »Kaufmann-Jahr« aus, was aber, Grüße an die PR, im Prinzip auch schon 2005, 2006 oder auch 2007 hätte ausgerufen werden können.

Hingegen wuchtet Axel Brüggemann in seinem Artikel »Auf der Tonleiter nach oben geschoben« in der von uns wie immer gefeierten vorletzten FAS (3. 2. 2008, S. 53) viele schöne Anekdoten aneinander, die man über jeden, der im Opernbetrieb halbwegs Erfolg hat, hören kann, wenn man nur lange und spät genug in der Kantine nachfragt.

Er gelangt dabei zu folgender Erkenntnis: Im Vergleich zu irgendwelchen (schuldigung, Fritz) Vorbildern »fehlt im offenbar (…) die Stimme«, es mangele ihm an »vokaler Kraft«. Und dann der ultimative Tiefschlag: »Bei Jonas Kaufmann klingt es ein bisschen, als habe er die CD wirklich unter der Dusche aufgenommen.« Herrliche Polemik, der wir nicht widersprechen wollen, wir behaupten nur das Gegenteil.

Und stellen zwei Fragen: Warum fällt man auf so ein klassikradiohaftes Best-of-Album herein, anstatt in den letzten Jahren, in denen es dazu mehr als reichlich Grund gegeben hätte, vernünftig über Kaufmann berichtet zu haben. Und ihn als eben doch talentierten Mozart- und Verdi-Tenor wahrzunehmen, der als Alfredo oder Rodolfo viele hinter sich lässt. Und das nicht nur gesanglich. Was uns zur zweiten Frage führt: Warum keiner diese Connaisseure den gerade in der Oper mehr als erwähnenswerten Aspekt erwähnt, dass J. K. einfach mal über ein mehr als nur überdurchschnittliches Schauspieltalent verfügt.

Im Hintergrund laufen übrigens gerade Kaufmanns Strauss-Lieder, wobei, Moment, die Nummer 3 (»Die Nacht« von Hermann von Gilm zu Rosenegg, was für ein Name) scheint gerade einen Sprung zu haben, mal nachschaun.


Der Spiegeltaucher – Am Montag im »Spiegel«

Leipzig, 10. Februar 2008, 12:50 | von Paco

Gibt es eigentlich außer Oliver Gehrs niemanden, der einen auf den aktuellen »Spiegel« vorbereitet? Wir haben schon mal vorgelesen und geben hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Artikel aus den einzelnen Ressorts der morgen erscheinenden Ausgabe 7/2008 (11. 2. 2008), Titel: »Der Messias-Faktor. Barack Obama und die Sehnsucht nach einem neuen Amerika«. Eine Kompakt-Version dieser Vorschau gibt es bei medienlese.com, das komplette Inhaltsverzeichnis bei spiegel.de.

[ Hausmitteilung | Deutschland | Gesellschaft | Wirtschaft |
Titel | Ausland | Wissenschaft | Kultur ]

HAUSMITTEILUNG

Los geht’s: In der »Hausmitteilung« (S. 5) gibt es selbstkritische Worte zum schlecht geplanten Wechsel in der Chefredaktion. Außerdem werden Modernisierungen unter dem neuen Führungsduo Georg Mascolo/Mathias Müller von Blumencron versprochen.

DEUTSCHLAND

Ralf Neukirch und René Pfister beschreiben die CDU als »Kanzlerwahlverein« (S. 28-30). Angela Merkel käme ganz ohne CDU-Nostalgie aus und könne daher die Rituale der »Männerpartei CDU« ignorieren. Geschult an den nötigen Kompromissen bei der Arbeit in der Großen Koalition, umarme sie widersprüchliche Positionen lieber statt Polarisierungen Raum zu geben und so die Kontur der Partei zu schärfen. Das könne für die CDU ein Problem werden. Kritik aus den eigenen Reihen habe sie nicht zu befürchten, denn die Riege der CDU-Ministerpräsidenten sei zu einer »ziemlich kläglichen Truppe« geworden.

Die Oldenburger Ausstellung »Kaiser Friedrich II. 1194-1250. Welt und Kultur des Mittelmeerraumes« sei »die erste Ausstellung auf deutschem Boden«, die sich allein dem Stauferkönig widmet, schreibt Klaus Wiegrefe (S. 46-48). Ursprünglich sollte Friedrich vor allem als Vermittler zwischen Morgen- und Abendland zelebriert werden. Nach Protest von Historiker zeichnet die Ausstellung nun offenbar ein differenzierteres Bild, zu dem sowohl Friedrichs Reformen und seine Förderung der Wissenschaften als auch seine »nachweisliche Grausamkeit« gehören.

Ein siebenköpfiges Autorenteam schildert ausführlich die Verdachtsmomente, die sich zur Ludwigshafener Brandkatastrophe vom letzten Sonntag angesammelt haben (S. 36-38). Die Polizei ermittele in alle Richtungen, und die »Spiegel«-Redakteure skizzieren die kursierenden Thesen und Indizien. Sie beleuchten vor allem auch die politischen Dimensionen, die Spannungen im deutsch-türkischen Verhältnis, zu denen die unterschiedlichen Vermutungen und vorschnellen Anklagen geführt haben.

GESELLSCHAFT

Mal eine halbwegs gute Nachricht zum Thema Jugendgewalt gibt es im »Gesellschafts«-Ressort (S. 54-58). Fiona Ehlers berichtet vom baden-württembergischen Jumega-Projekts (»JUnge MEnschen in GAstfamilien«), das schwererziehbare, gewalttätige Jugendliche zwischen 10 und 16 Jahren für bis zu zwei, höchstens drei Jahre an Gastfamilien vermittelt. Das Konzept scheint aufzugehen, das Erleben familiärer Strukturen und Regeln in selbst »unperfekten« Familien gebe den Jugendlichen Halt und lasse sie den Kontakt zu den Gasteltern auch nach ihrer gemeinsamen Zeit aufrecht erhalten.

WIRTSCHAFT

Frank Hornig führt ein Interview mit dem Netscape-Gründer Marc Andreesen (S. 72-74). Entlang der IT-News der letzten Wochen beschreibt Andreesen die Entwicklung des Internets »zum wichtigsten Medium überhaupt«, da alle anderen Kommunikationstechniken und Medienarten »massenweise« ins Internet strömten. Außerdem geht es um sein neues Start-up Ning, eine Plattform für soziale Netzwerke.

TITEL

In der Titelgeschichte schreiben Marc Hujer und Klaus Brinkbäumer über »Barack Obama und die Sehnsucht nach einem neuen Amerika« (S. 88-98). Sie fragen, ob Obama (»ein politischer Poet, ein Menschenfänger«) es ernst meint mit der angekündigten »Politik von unten«, ob seine mögliche Präsidentschaft tatsächlich eine historische Wende à la Roosevelt und dessen New Deal einleiten könne. In einem »Land der Untergangsszenarien« verbreite er jedenfalls starke Hoffnung auf einen Wechsel. Ab der Mitte des Artikels werden seine Lebensstationen genau abgearbeitet, denn sein Werdegang sei wichtiger als seine Programmpunkte, die ohnehin denen Hillary Clintons ähnelten: »Obama ist kein Politiker, der sich über seine Überzeugungen definiert, es geht um seine Identität.« Da die unterschiedlichen Lebensstationen auf die unterschiedlichen Wählergruppen jeweils unterschiedlich wirken, kapriziere sich Obama darauf, die jeweils »richtigen Versatzstücke seines Lebens« zu erwähnen.

Im anschließenden Interview mit dem republikanischen Präsidentschaftsbewerber John McCain (S. 99-104) verspricht dieser die Rückkehr der USA zur Multilateralität und zu neuen Verhandlungen über das Kyoto-Protokoll. Einen vorschnellen Abzug aus dem Irak lehnt er ab: »Ich habe die Absicht, diesen Krieg zu gewinnen«. Innenpolitisch spricht er sich für einen schlanken Staat und Steuersenkungen als Wachstumsmotor aus. Den Vorwürfen (so muss man das wohl nennen) aus dem eigenen Lager, er wäre zu liberal, begegnet er mit der Aussage, er sei »stolz darauf, konservativ zu sein«.

AUSLAND

Aus Florenz, einer Stadt, in der selbst der Hausmeister noch mit einem Bildband zur Seicento-Malerei wedelt, berichtet Alexander Smoltczyk (S. 117). Es geht um das »Stendhal-Syndrom« oder »Hyperculturamie«: Regelmäßig werden Kunsttouristen von der Schönheit und Masse Florentiner Kunstschätze derart überwältigt, dass sie mit Schwindelgefühlen ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen.

WISSENSCHAFT

In ihrem Artikel »Hörsaal im Wüstensand« berichten Hilmar Schmundt und Samiha Shafy von der Schützenhilfe, die deutsche Professoren beim Aufbau von Universitäten auf der arabischen Halbinsel geben (S. 128-130). Der Ableger der RWTH Aachen im Oman sei aber nur das positive Gegenbeispiel eines Problems: Deutschland werde im Gegensatz zu den USA, Großbritannen, Kanada und Australien bei den großen Universitätsprojekten vor allem in Saudi-Arabien und den VAE außen vorgelassen. In der Gegend fehle »eine Erfolgs-Uni ›mit Leuchtturmfunktion‹«.

KULTUR

Jonathan Littell gibt äußerst selten Interviews. Zwei Wochen vor dem offiziellen Erscheinungsdatum der deutschen Übersetzung hat er jetzt mit Martin Doerry und Romain Leick über seinen Roman »Die Wohlgesinnten« gesprochen (S. 150-153). Der Autor ist neugierig auf die Rezeption in Deutschland und warnt vor der Historisierung des Holocaust, indem man ihn losgelöst vom Krieg diskutiert: »die gesamthistorische Betrachtung dejudaisiert das Problem auf eine bestimmte Weise, und das ist gut so, denn es ist ein universelles Problem. Der Holocaust war ja nicht eine Art Stammeskrieg zwischen Deutschen und Juden. Wäre es so gewesen, brauchte es alle anderen nicht zu interessieren.« Littell bekennt sich zur Konstruiertheit seines Ich-Erzählers Max Aue, sieht aber in »Kunst (…) die beste Möglichkeit, Wirklichkeit auszudrücken«. Mit seinem »Schreibexperiment« habe er »ein Fenster hin zum Unverständlichen öffnen« wollen.

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Titel | Ausland | Wissenschaft | Kultur ]


Schnütsgüfeli

Zürich, 31. Januar 2008, 18:15 | von Paco

Die Zeit im ICE reicht genau, um die heutige F-Zeitung und den »Spiegel« vom Montag durchzulesen. Als der Zug anfängt auf dem Zürcher Hbf zu halten, lese ich gerade den letzten Satz (»Shame on you.«) des 5-Seiten-Artikels zum US-Vorwahlkampf, den Gregor Peter Schmitz und Gabor Steingart geschrieben haben (S. 100-104).

Die Überschrift lautet: »Die Clintons im Krieg«, und es geht um die Endausscheidung im demokratischen Lager, um die rhetorischen Offensiv-Strategien, die Hillary und Bill gegen Barack fahren. Usw.

In der Innenstadt sammle ich dann alle erreichbaren Gratiszeitungen ein, die ich von der Berichterstattung auf medienlese.com her kenne, und gehe damit ins nächste Starbucks. Die dürren Blätter lesen sich von der Informationsdichte her wie gestreckte SMS-Nachrichten, man hat in eineinhalb Minuten einmal komplett umgeblättert.

In .ch stoße ich auf S. 18 im »people«-Teil auf ein schönes Interview mit Fabian Unteregger. Darin die Passage:

Frage: Wen würden Sie gern imitieren?

Antwort: Den Papst. Dann könnte ich ja 180 Sprachen. Ein Wort kann aber auch der Papst nicht aussprechen: Schnütsgüfeli.

Ich kenne natürlich das letzte Wort nicht und frage die Studentin neben mir. Innerhalb von 30 Sekunden spricht sich meine Wissbegier herum, die ganze untere Etage des Cafés ist in einer Art hilfsbereiter Aufruhr und strömt so halb auf mich zu mit immer wieder neuen Antworten.

Das Wort wird lauthals in seine Bestandteile zerlegt, dann die Bedeutung wieder zusammengesetzt. Jemand googelt die Vokabel, aber ein bisschen erfolglos.

Scheint evtl. ein interner Witz für die Unteregger-Gemeinde zu sein. Sachdienliche Hinweise sind willkommen, hehe.

Morgen dann Stippvisite beim Blogwerk. Und dann kommt noch Marcuccio angefahren und wir gehen umblättern in den zukünftigen Kaffeehäusern des Monats.


Endlich fertig: Die Feuilleton-Charts 2007

Leipzig, 15. Januar 2008, 00:30 | von Paco

Hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2007:

1. Renate Meinhof (SZ)
2. Peter Richter (FAS)
3. Henning Sußebach (ZEITmagazin LEBEN)
4. Jean-Philippe Toussaint (FAS/FR)
5. Robin Meyer-Lucht (SZ-Magazin)
6. Ursula März/Claudia Schmölders (Zeit)
7. Matthias Matussek (Spiegel)
8. Heribert Prantl/Remigius Bunia (SZ/FAZ)
9. Henning Ritter (FAS)
10. Jan Wigger (SPON)

Kurze Begründungstexte und Links (sofern vorhanden) gibt es auf dieser Seite, die sich wie schon die Top-10s für die Jahre 2005 und 2006 direkt von der rechten Seitenleiste aus aufrufen lässt.

Auch in diesem Jahr speichert die Liste unseres Erachtens snapshotartig ein repräsentatives Bild des Lebens in den Feuilletons im Jahr 2007. Zusammen bilden die Texte ein erstklassiges virtuelles Lesebuch, und wer den ein oder anderen Artikel noch nicht gelesen hat, sollte dies unbedingt nachholen – es sind alles Krachertexte, die jede Zeile wert sind.

Vor allem unser Lieblingstext, Renate Meinhofs Porträt eines 90-jährigen Wagnerianers, ging uns nicht mehr aus dem Kopf. Er ist im Juli erschienen, aber noch im November und Dezember sprachen wir gelegentlich über das Bayreuth-Erlebnis des Walter Odrowski, seine »Eppendorfer Heimoper« und seine Reaktion auf Stoibers Ignoranz.

Odrowski wollte auf dem Staatsanfang nach der »Meistersinger«-Premiere dem damaligen Ministerpräsidenten für die Einladung danken, dringt aber mit seinen dünnen Worten nicht zu ihm durch, bis es ihm schließlich auch egal ist und er im Hinblick auf Stoibers leicht unfreiwillige Demission trocken kommentiert: »Na macht nichts, nächstes Jahr ist der auch nicht mehr hier.«

Meinhofs Idee, dass Odrowski ein bisschen aussieht wie Franz Liszt und die diesbezügliche Bestätigung durch das zugehörige Foto sorgen zusätzlich dafür, dass man dieses Porträt nicht so schnell vergisst.


Die Rules of Cuteness und der neue »Spiegel«

Tel Aviv, 9. Januar 2008, 13:25 | von Paco

Es ist ein Fernziel des Umblätterers, einmal ein cuteoverload.com-würdiges Foto zu komponieren, und da kommt es gelegen, dass der Haushund Shweps so ein Feiner ist:

Shweps and me

Millek trainierte den Feinen mit einigen hebräischen Kommandotönen und schon bald war er in der Lage, ihm die unterschiedlichsten Dinge zu apportieren, etwa den alten »Spiegel« (1/2008), und wenn das nicht cute ist, was dann:

Shweps bringt den Spiegel

Hier werden folgende Rules of Cuteness befolgt:

#28: Your head looks down, but your eyes look up
#34: If your tail curls up, it’s cute
#37: If you tilt your head to a side, it’s cute

Ok, das Heft war danach etwas angenässt, aber das ist der Preis der Cuteness. Millek las den letzten ungelesenen Artikel (und damit doch noch das Langley-Interview), dann verließen wir Tel Baruch Zafon Richtung Steimatzky @ Dizengoff, denn der neue »Spiegel« (2/2008) war längst erschienen.

Wir erwischten das letzte vorrätige Exemplar, steuerten gewohnheitsmäßig das »Aroma« an und zerrissen diesmal ohne viel Federlesens das Heft in der Mitte.

Ich bekam die hintere Hälfte, Handke und Havemann, was will man mehr.


Der Silvestertaucher:
Zwischen den Jahren in den Feuilletons

Konstanz, 3. Januar 2008, 18:26 | von Marcuccio

Hatte ich mich eben noch geärgert, die Weihnachts-FAS samt Sibylle Bergs Artikel über St. Moritz beim Snowboarden ebenda verpasst zu haben, konnte ich nach der Beinahe-Begegnung mit Putin auf der Piste und Ahmadinejacket in der Loipe nur feststellen: Das war noch längst nicht die ganze Bescherung, im Gegenteil. Und deshalb ein kleiner Rückblick auf allerlei Feuilleton-Bräuche zum Jahreswechsel.

Malen nach Zahlen bei den Perlentauchers

Es war schon ein historischer Augenblick, als am 29. 12. die erste Perlentaucher-Presseschau mit Gemälde ans Netz ging. Ob sich der Perlentaucher für diese Aktion vom »Holy Family Set« (FAS vom 2. 12.) inspirieren ließ? Ob Thierry Chervel dieses eventuell sogar eigenhändig ausgemalt und eingesandt hat, um ein FAS-Jahresabo 2008 zu gewinnen und (unserem Pilotprojekt folgend) endlich den Sonntagstaucher zu starten? Wir können nur spekulieren und warten gespannt, was wird.

Bleigießen mit der S-Zeitung

Eher Konventionelles, nämlich eine bewährte Mischung aus Rückblick und Ausblick boten die »zehn Ideen, die uns bleiben« in der S-Zeitung vom 29. 12.: »Monopol« und »Monocle« wählten München zur City of the Year, der Klimawandel forderte ebenso seinen Tribut wie Damien Hirst sein Stück vom Diamantenschädel … Am Ende hätten wir uns das ziemlich genau so gedacht, aber na gut, wenn solche Trends auch nur einigermaßen repräsentativ sein sollen, bleiben sie für uns Halbwelt-Junkies notgedrungen im Rahmen des Erwarteten. Typisch nur, dass die S-Zeitung dann mal wieder übers Ziel hinausschießt und aus ihren zehn Ideen online gleich redundante 19 Vignetten macht – wieder eine ihrer berüchtigten »unsinnigen Klickstrecken«.

Chinaböller im »Spiegel«

Was man da mit der Silvester-Ausgabe als »KulturSpiegel« für Januar frei Haus bekam, war wirklich ein Rohrkrepierer: 16 Seiten Statements, »warum Künstler Olympia so lieben« – nein danke. Nachdem schon die gelben Spione so peinlich waren, muss man auf echte neue »Spiegel«-Kracher aus dem Reich der Mitte wohl weiterhin warten. Derweil lese ich doch lieber nochmal Ulrich Fichtners unvergessene Reportage über Shenzen: »Die Stadt der Mädchen« (6/2005).

Sündenablass bei der F-Zeitung

Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern: Am 28. 12. verpuffte die Meldung, dass der Tod eines Kritikers jetzt verjährt und Martin Walser Ein liebender Mann ist, der ab Februar in der F-Zeitung vorabgedruckt wird. Am 31. 12. folgte als Schirrmacher-Chefsache ein ganzes Schreibschulden-Register, in dem die Feuilletonredaktion Altlasten in eigener Sache abtrug. Und Gerhard Stadelmaier scheint in diesem Zusammenhang bekennen zu wollen: Verantwortlich für den sprichwörtlichen Tort eines Kritikers muss gar nicht immer ein Spiralblock, es kann auch der eigene Fingerknöchel sein.

Limonaden-Countdown im Deutschlandfunk

31. 12., 23:05 Uhr: Gepflegte Unterhaltung prickelt über den Äther, wenn sich zur letzten Radiostunde des Jahres die drei »Büchermarkt«-Redakteure Hajo Steinert, Hubert Winkels und Denis Scheck zusammensetzen, um bei einem Glas Limonade das literarische 2007 Revue passieren zu lassen. In munterer Silvesterlaune plaudert Denis Scheck dann auch schon mal ein Betriebsgeheimnis aus, so etwa ab Minute 4:27: »Also, ich darf der Wahrheit Ehre geben. Ich habe ganz sicher keine Limonade vor mir stehen.«

0:00 Uhr in der FAS: »Endlich Gegenwart!«

Das Jahresend-Spezial der FAS war eine exzellente Zündung, auf die Tel-Aviv-Koinzidenz hat Cobalt ja schon verwiesen. Ich ergänze an dieser Stelle weitere ungeahnte Korrespondenzen zwischen dem Umblätterer und der FAS (Fusionsgerüchte dementieren wir indes entschieden):

Johanna Adorján hat also auch eine Tagesschau-Tante, und um die herum entfaltet sie den herrlichen Beitrag »Mensch und Maschine: Moderne Kommunikation« (S. 29). Ein astreiner Epilog auf die Rituale einer letzten Generation ohne Google, Handy usw. Ganz nebenbei erweitert sich hiermit auch das von Paco ins Leben gerufene Rubrum Software & Erinnerung um die nicht unbedeutende Dimension der Hardware (Stichwort Wählscheibe).

Auf derselben Seite, links neben Adorján, serviert uns Nils Minkmar »Mensch und Margarine: Kapitalismus als Passion«. Ein schöner Review zum Lekr-Markt an der Ecke Hufeland-/Bötzowstraße in Berlin und nach dem (verpatzten) Auftakt durch Alexander Marguier das, wie ich meine, erste wahre Supermarkt-Feuilleton.

Das war sie denn auch schon fast, die feuilletonistische Bescherung zum Jahreswechsel. Folgt nur noch ein schöner Brauch: Unsere Bekanntgabe der Best of 2007.


In den Azrieli Towers

Tel Aviv, 31. Dezember 2007, 19:10 | von Paco

Heute morgen bei den Jungs von Waves Audio im 32. Stock des Triangle Towers, dem schönsten der Azrieli-Skyscraper. Unsere Lorbeerverteilung für die 10 besten Feuilletonartikel der letzten 12 Monate rückt näher, Millek am Telefon mit Marcuccio, im Hintergrund ein wenig Stadt und mit etwas Phantasie das Meer:

Sicht aus dem Triangle Tower

Währenddessen: In der Kantine liegt die Kostenloszeitung »Israel Ha’Yom« umher, kurz reinblättern, der tägliche Sticker zum Ausschneiden trällert heute den Abgesang aufs alte Jahr:

2007 endlich zuende

»Alpaim ve’sheva sofsof ha’sof«, »2007 endlich zuende«, diese Sicht deckt sich mit der von Oliver Gehrs, der gerade meinte, dass 2007 auch für den »Spiegel« »ein ganz ganz fieses Jahr« gewesen sei.

Hält uns natürlich nicht davon ab, hinunter in die Azrieli-Mall zu gehen, zu Steimatzky, und den heutigen »Spiegel« zu holen. Damit wir die Zeitschrift nicht wieder gleich zerreißen müssen, sacken wir noch eine »Vanity Fair« ein, die amerikanische natürlich, January 2008.

Vor dem Steimatzky

Dann eine Etage höher, in eine Aroma-Espresso-Bar-Filiale. Lektürewahn. Schere, Stein, Papier, ich verliere wie immer (absichtlich, hehe) und kriege die VF.

Schon beim Editorial von Graydon Carter merkt man, dass das keine deutsche Zeitschrift ist, das ist ein knallharter Diss Richtung GWB und Giuliani, etwas wohlfeil vielleicht, aber meinungsstark. Genau das, was deutsche Herausgeber-Vorworte nicht sind – dazu kurz an Julia Enckes FAS-Artikel von neulich erinnern. Sie schrieb damals, dass Helmut Markwort der einzige worthwhile Leitartikler ist, bloß merkt das eben kaum jemand, weil das im »Focus« passiert.

Dann gleich weiter zu einem der Coverartikel, »Into the Valley of Death«, Sebastian Junger über eine Einheit des 503. Infantrieregiments, die im Korengal-Tal fightet (S. 86-95 und 146-147). Ein sehr guter Frontline-Artikel, der Mikro- und Makrosicht einbezieht. Mehrere Abschnitte beginnen mit »ich«, es liest sich gleich viel besser, wenn die Situation des Schreibers ab und zu klar dargelegt wird.

Millek isst Sandwich um Sandwich, damit er sein Kampfgewicht erreicht (»endlich«), und liest dabei den »Spiegel«:

Die Aroma-Filiale in der Azrieli-Mall

Welche Artikel bis jetzt: »Der Schlächter von Monrovia« (S. 98), den generellen Artikel zu Privatisierungen staatlicher Unternehmen auf S. 58 und den Bhutto-Aufmacher (S. 82, noch nicht ganz fertig). Und ganz zu Anfang und vor allem das Interview mit Joachim Latacz auf S. 125. Tja, vorgestern war Millek noch Schrottianer, nachdem er die Lektüre der vier Homer-Seiten von vorletztem Samstag nachgeholt hat. Jetzt will er auf den nächsten Pro-Schrott-Artikel warten, um wieder umzuschwenken.

Dann raus aus den Towers und rein ins Museum of Art am Shderat Shaul Hamelech. Ein paar gute Sachen aus der zweiten Reihe, schärft den Blick. Aber auch etliche schöne Pissarros, und Alfred Sisley passt zum Wetter draußen, und die »Journal«-Bilder von Juan Gris wären ja im Prinzip geeignete Logos für den Umblätterer. Usw.


Tausche »Spiegel« gegen »FAZ«

Tel Aviv, 31. Dezember 2007, 00:40 | von Paco

Nach dem Aufstehen kurz Pita, Humus, Nutella und den Wilhelm-Busch-Artikel von Elke Schmitter, sehr gut, unerwarteterweise ein Highlight der Ausgabe. Sehr interessant der Battle zwischen den drei erwähnten neuen Busch-Biografien zum 100. Geburtstag.

Frühstück

Millek liest den »Yedioth Ahronoth« von heute, das Centerfold der Entertainment-Sektion, »צו אופנה« (»tzav ofna«), ein Wortspiel. ›tzav‹ ist ›Befehl‹, im engeren Sinn der Einberufungsbefehl, ›ofna‹ heißt ›Mode‹. Man könnte das mit »Ruf der Mode« ins Deutsche übersetzen, doch für ein funktionierendes Wortspiel müsste dann jedem noch klar sein, was ein »Ruf der Pflicht« ist. Na gut, unter jedem zweiten Weihnachtsbaum dürfte der Egoshooter »Call of Duty 4« gelegen haben.

Jedenfalls geht es um US-Mädels, die Dienst in der israelischen Armee leisten. Sie werden jeweils einmal in Uniform, einmal in ihrem Freizeitstyle abgebildet und fragebogenartig vorgestellt:

Ruf der Mode

Sowas sollte »Vanity Fair« mal machen, liest sich schön zwischendurch weg und ist sozusagen mindestens genauso gut wie damals die »Monocle«-Story über die japanische Navy.

Viel mehr ist nicht zu holen in der heutigen YA, also streiten wir uns um den »Spiegel« und zerreißen ihn schließlich in der Mitte. Guter Kompromiss.

Dann zum zweiten Frühstück ins Boya am alten Hafen. Shakshuka bis zum Abwinken. Dazu das tiefblaue Mittelmeer als Kulisse und die letzten ungelesenen »Spiegel«-Artikel.

Ich habe den vorderen Teil abgekriegt, den mit der Koran-Titelgeschichte, dem Schäuble-Artikel, alles schon gelesen. Was bleibt, ist der Klaus-Brinkbäumer-Artikel über den verschwundenen Abenteurer Steve Fossett und dessen ihn vermissenden Milliardärskumpel Barron Hilton. Ein unnötig langer Artikel, würde man denken (S. 62-68), aber das ist genau die »Spiegel«-Epik, der man sich nicht entziehen kann.

Am Strand trafen wir etwas später einen Berliner Touristen, der die vorgestrigen Ausgaben der FAZ und SZ bei sich trug. Wir schlugen ihm ein Tauschgeschäft vor, unser »Spiegel« gegen die Zeitungen, aber da das Aust-Blatt schon zerrissen und erkennbar ausgelesen war, wollte er nur eine Zeitung hergeben.

Es war die Stunde der Entscheidung. Wir nahmen die F-Zeitung, denn die war auch einfach zu reichhaltig. Wann hat man schon mal einen Artikel über Klaus Heinrich im Feuilleton (diesmal Friedrich Wilhelm Graf zum 8. Band der »Dahlemer Vorlesungen«). Und dann noch Andreas Platthaus zu den »Mosaik«-Comics, anlässlich einer Hallenser Ausstellung. Was für eine gelungene Mischung, die mussten wir haben.

Dann gingen wir neues Nutella kaufen und alte Zeitungen wegbringen, und zuhause kam auf yes stars 3 zufällig die »Curb«-Folge 4.01, ein Highlight-Revival, die Karaoke-Bar, der Zwischenfall mit dem Handy-Rollstuhlfahrer, Larrys Suche nach chinesischen Vornamen, schließlich die titelgebende »Mel’s Offer«, die Larry zum Max Bialystock macht.

Usw.


Auf der Spur von »Ding«

Tel Aviv, 29. Dezember 2007, 23:19 | von Paco

Heute sind wir den von Matthias Matussek ausgestreuten Zeichen und Wundern gefolgt, um die Live-Berichterstattung um das verschwundene »Ding« zu begleiten. Millek und ich vor dem Yotveta Ba’ir in der Rehov Ha-Yarkon:

Yotveta Ba'ir, Tel Aviv

Matthias Matussek und »Heinrich« M. Broder waren nicht mehr da, natürlich nicht, aber es muss etwas dahinter stecken, wenn sich die beiden konspirativ in diesem nicht unfurchtbaren Café treffen. Bloß was?

Danach im Bela Lugosi in der Rehov Dizengoff, das so sehr fein wie sehr klein ist, in der Nähe vom Dizengoff Center. Wir hatten nur einen »Spiegel«, aber glücklicherweise hatte Millek noch nicht den Homer-Scoop der F-Zeitung gelesen, sodass ich das Aust-Blatt zumindest heute für mich hatte.

Oliver Gehrs hat die aktuelle Ausgabe schon gelobt, den herrlichen Schäuble-Artikel von Jan Fleischhauer zumal (S. 46-50), und auch sonst werde ich morgen weiterlesen müssen, so interessant ist der »Spiegel« mal wieder nach der superschlechten Vorgängerausgabe, in der wirklich nicht ein einziger guter Artikel war. Ich kann das sagen, denn ich habe ihn komplett gelesen, hehe.


+++ Unsere Exzellenz-Initiative zeigt Erfolge +++

Konstanz, 10. November 2007, 16:01 | von Marcuccio

Hatte der Umblätterer, ehrlichstes Consortium für die Transparenz der Exzellenz im deutschen Feuilleton, diesen Herbst möglicherweise ein paar Wünsche frei? Es gibt da ein paar handfeste Indizien:

1. Die Farbfolge im FAS-Feuilleton. Nach Stefan George in Sektenguru-Grau (FAS vom 8. 7.) und Oswald Spengler vor Abendland-Untergeher-Rot (FAS vom 19. 8.) kam es nun doch noch, wie von Dique gewünscht, zu Gómez Dávila und dem Feuilletonaufmacher in Grün. Zwar nicht in direkter Kombination, aber doch in ziemlich zeitnaher Abfolge: Kaum war Dávila undercover in der Buchmessen-FAS aufgetaucht (nämlich in Volker Weidermanns (?) »Suada« unter dem Strich), da folgte in der FAS vom 21. 10. der unübersehbare Hinweis, dass der globale Klimawandel die Halbwelt erreicht hat:

»Grüner wird’s nicht«

… titelte der Aufmacher, und mittendrin in einer grasgrün ausfransenden Zeitungsseite stand Ian McEwan in einem giftgrünen Hemd. Das Interview über grüne Moral in der Literatur gab dann naturgemäß (hehe) nicht mehr her, als wir seit Gudrun Pausewang (»Die Wolke«) auch schon wussten:

»Man kann einem Roman mit zu viel moralischer Intention alles Leben austreiben, jede Geschichte wird unter dieser Last kollabieren.«

2. Unangekündigtes Spoiling in Buchrezensionen, von Paco neulich noch im Gegenlicht der so ganz anderen Praxis bei den Serienjunkiez betrachtet, scheint seit dem 23. 10. erstmals auf dem Rückzug. Da las man in der F-Zeitung doch tatsächlich und buchbezogen: »(Achtung, Spoiler.)« Notabene: in der F-Zeitung, deren Fraktur-Freunde alter Schule womöglich noch nicht einmal wissen, was Spoiling überhaupt ist. Gefreut haben dürfte sich in jedem Fall unser Mitleser Dumbledore, gab sein Outing auf allen Kanälen doch überhaupt erst den Anlass.

3. Mit unserem Motto (Feuilleton fordern und fördern und dabei ackern wie ein Maulwurf) bleiben wir »dran!sparent«, wie sms schreiben würde. Und trotzdem sind die paar Sekunden Umblätterer bei Matussek natürlich kein Vergleich zu einem Migros-Kulturprozent-Award. Complimenti dazu, und weitere Erfolge unserer Exzellenzinitiative in der Themen-Subsparte ›Supermarkt‹ demnächst wieder hier.