Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


Graw-tsee-yeah!

Rom, 13. Juni 2008, 16:40 | von Paco

Von unserer Erasmus-WG in Parioli ist es nicht weit bis zur Villa Borghese. Nach einem Zwischenstopp bei Il Cigno gehen wir direkt zur Galleria Borghese, wo im Moment eine Correggio-Ausstellung läuft, das dritte der Dekadenprojekte der Galerie nach Raffael und Canova – es folgen u. a. 2009 Bacon & Caravaggio, 2011 Tizian, 2012 Cranach.

Eine Correggio-Einzelausstellung war längst mal fällig, allerdings wird man von der unerwarteten Phylle halb erschlagen. Außerdem befinden sich im Präsenzbestand der Galleria natürlich auch noch die Wahnsinnsstatuen von Bernini und Canova, dazu noch 6 Bilder von Caravaggio, mehr als irgendwo sonst, Raffaels »Kreuzabnahme« und Correggios »Danae«.

Davon muss man sich erst mal mit ein paar Nebenwerken erholen: Ein Sassoferrato hängt überraschenderweise im selben Raum wie ein de Hooch. Das glaubt man immer gar nicht, dass das Zeitgenossen waren. Von Sasso hängt hier die übliche wächserne und superschöne Madonna, von de Hooch das Flötistenbild, das inklusive offenem Fenster wieder voller lüsterner Anspielungen ist.

Wir kommen dann irgendwann wieder auf das Veronese-Mocking und die Leonardo-Relativierung von Sébastien2000 zu sprechen und das Alan-Bennett-Interview neulich in »La Repubblica« (28. 5., S. 53, Aufmacher von »R2 Cultura«). »Leonardo? Non mi piace« war die Überschrift. Das ist wie wenn Umberto Eco in der SZ zitiert wird mit »Goethe? Find ich echt scheiße«.

Der Interviewer (Enrico Franceschini) hatte dann nachgefragt, was seine beleidigten Landsleute mit so einer Aussage bitteschön machen sollen. Bennett erwiderte, dass er Leonardo als Meister der Renaissance natürlich schon irgendwie anerkenne, dass seine Werke aber nicht seine Interessenssphäre berührten. Ob er nicht mal die »Mona Lisa« gut finde? Nun ja, er habe sich das Bild nie angesehen, da er stets von dem Massenauflauf davor abgeschreckt worden war.

Der Anlass für die Intervista war übrigens das Erscheinen der italienischen Übersetzung seines Buches über die Londoner National Gallery bei Adelphi. Er macht in dem Gespräch auch wieder Stimmung für den unvoreingenommenen Blick auf Kunstwerke. Das ist subtextuell natürlich auch ein Diss gegen die Audio-Guide-Kultur. Außerdem zeigt sich Bennett belustigt darüber, dass alle immer mit diesem Pathos ins Museum gehen und dadurch jedes dort ausgestellte Ding automatisch als anerkannt gut empfinden.

Nach 2 Stunden wird man bekanntlich aus der Galleria Borghese geschmissen, wir legen ein paar alte SZs und FAZs auf eine Villa-Wiese und machen Siesta. Noch im Halbschlaf kriege ich nach einer Weile mit, wie Dique einem Amerikaner mit »Lone Star State«-T-Shirt den Weg zur Piazza del Popolo beschreibt.

Der gut ausgestattete Touri hält Dique dann wegen seines blauen Hemds eventuell für einen Italiener und bedankt sich mit einem kräftigen: »Graw-tsee-yeah!« So ungefähr dürfte die »Grazie«-Ausspracheanweisung im Lonely Planet lauten. Diese herrlichen Amerikaner!

Auf einmal ist alles graw-tsee-yeah, wir schießen auch noch mal Richtung Piazza del Popolo, noch mal wegen ein paar Lieblingsdetails in die Caravaggio-Kirche rein, und danach mache ich ziemlich in der Mitte des Platzes noch dieses Bild, ich, Dique, Millek, Sébastien2000 (hat heute frei), San Andreas:

Piazza del Popolo


Nachträglich zum Achtzigsten:
Die Klaus-Heinrich-Charts

Leipzig, 27. März 2008, 21:32 | von Paco

Am 23. September 2007 wurde Klaus Heinrich 80 Jahre alt. Also der Mensch, der das aus dem Blick geratene Altertum so vergegenwärtigt, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts daneben zuweilen alt aussieht (Stichworte: Heidegger, Strukturalismus).

Seine Dahlemer Vorlesungen waren eine derartige class of their own, dass die gesammelten Vorlesungsmitschriften eben auch »Dahlemer Vorlesungen« heißen dürfen, selbst wenn Heinrich und die Herausgeber der Reihe anfangs Zweifel hatten, ob dieser Titel nicht zu sehr nach Provinz klinge (›nie aus Dahlem rausgekommen‹ oder so, was ja letztlich auch stimmt, Henning Ritter nennt es schönerweise »intellektuelle Sesshaftigkeit«).

Alle überregionalen Feuilletons, die etwas auf sich halten (also alle außer »FR« und »Welt«, hehe), haben Klaus Heinrich mit einem Gratulationsartikel Respekt gezollt. Alle 4 Beiträge sind sehr gut, und deshalb werden sie hier zwar gerankt, aber wie (sagen wir mal:) Koransuren der Länge nach angeordnet, nicht unbedingt nach inhaltlichen Kriterien:

1. FAZ (Henning Ritter)
2. TAZ (Cord Riechelmann)
3. ZEIT (Klaus Hartung)
4. SZ (Thomas Meyer)

Jeder der Artikel ist mehr oder weniger zweiteilig. Erstens wird der Konnex zwischen Heinrichs Biografie und der Geschichte der Freien Universität in Berlin-Dahlem hervorgehoben; zweitens werden Heinrichs Forschungen zum »Verdrängten der Philosophie« beschrieben, einschließlich der Erwähnung des »eigentlichen Hauptwerks«, den nach studentischen Mitschriften und Tonbandaufnahmen edierten, bei Stroemfeld erscheinenden »Dahlemer Vorlesungen«, die auf ca. 40 Bände angelegt sind.

1. FAZ

Henning Ritter: Die lange Lehre zum kurzen Protest. In: FAZ, 22. 9. 2007, S. Z1-Z2.

Den meisten Platz räumt dem Jubilar die F-Zeitung ein, der Aufmacher der Beilage »Bilder und Zeiten« belegt ganze zwei großformatige Seiten! Auch das Foto auf der zweiten Artikelseite ist hervorragend: Klaus Heinrich vor einem Bücherregal, im Hintergrund schimmert u. a. das »Lexikon der alten Welt« heraus, das er in seiner Vorlesung »arbeiten mit ödipus« der Benutzung nur mit Vorsicht anempfiehlt. Es steht dann also trotzdem in Griffnähe bei ihm im Regal wie ein Beispiel seiner intellektuellen Redlichkeit, sehr gut.

Im Text selber holt Henning Ritter ganz weit aus und beginnt mit Walter Benjamin, mit der Benjamin-Rezeption der frühen 60er-Jahre, »noch bevor die Schlachten um den Marxisten Benjamin entbrannten, von dem man [damals] noch nichts wusste«. Außerdem werden sehr plastisch die Stellungskämpfe um den sozialwissenschaftlich ausgerichteten »Fachbereich 11« rekapituliert, in die neben Heinrich vor allem Peter Szondi und Jacob Taubes verwickelt waren.

Ritter beschreibt auch am ausführlichsten die Faszination der vorwiegenden Mündlichkeit der Lehre: Heinrich hielt seine Vorlesungen stets ohne Stichwortzettel oder Manuskript und betrieb trotzdem »detaillierte Exegesen zu griechischen Mythen, zu frühneuzeitlicher Wissenschaft, zu Kantischer oder Hegelscher Philosophie oder zu Heidegger«.

2. TAZ

Cord Riechelmann: Die Chance des Verschwindens. In: die tageszeitung, 22./23. 9. 2007, S. 20.

Auch die »taz« ist großzügig und spendiert eine ganze Seite ihres Feuilletons. Cord Riechelmann legt den Schwerpunkt auf Heinrichs Apotheose einer unabhängigen Universität. Sein gleichzeitiges Schulterzucken ob der Tatsache, dass auch die Universität inzwischen von ökonomischem Denken durchwirkt ist, hat damit zu tun, dass diese Institution für Heinrich auch nur episodischen Charakter hat als Ort einer (von ökonomischen Zwängen freien) unabhängigen Wissenschaft.

3. DIE ZEIT

Klaus Hartung: Denken, sprechen, anklagen, besser machen. In: Die Zeit, 20. 9. 2007, S. 56.

Der »Zeit«-Artikel legt den Schwerpunkt ein wenig auf das Verhältnis von Heinrichs Habilitationsschrift »Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen« (1964) und den Studentenprotesten, die ja bekanntlich in die Gewalt mündeten. Wobei es Heinrich eben auch immer wieder darum gegangen sei, die »Blutseite philosophischer Abstraktionen« aufzudecken. Auch Klaus Hartung beschreibt lebendig die Vorlesungsatmosphäre und darüber hinaus das Phänomen, dass Heinrich bei der Wirkmacht seiner Gedanken doch so »verfügbar entzogen« sei, so »präsent verborgen«.

4. SZ

Thomas Meyer: Der ewige Wissenstrieb. In: SZ, 22./23. 9. 2007, S. 14.

Trotz der Knappheit seines Artikels gelingt es Thomas Meyer, die Eigentümlichkeit von Heinrichs Denkstil zu umreißen und die wilden Jahre an der FU zu evozieren. Sogar seine spätere Rivalität zu Taubes kriegt einen Satz ab: »Dass dies [Heinrichs Forschungen] etwa beim philosophierenden Kollegen Jacob Taubes, der in allem das Gegenteil von Heinrich war, wütende Ausfälle provozierte, gehört zur Geschichte der produktiven Jahre der Freien Universität.« Auch Meyers Text ist wie die anderen Text da am stärksten, wo er Heinrichs Lehrumgebung, die FU, anekdotisch wieder aufleben lässt.


Hexameter-Kritik im Feuilleton

Leipzig, 23. März 2008, 23:49 | von Paco

Eine dem fremdsprachlichen Original adäquate Versübertragung ist immer noch die Königdisziplin unter allen Übersetzungsmöglichkeiten.

Im Rezensionswesen gehört neben der Kritik altägyptischer Papyri sicher die nicht-wohlfeile Hexameter-Kritik in die Schwergewichts­klasse. (Es ginge natürlich auch ganz billig, etwa wenn Zlatko Trpkovski die Blankverse einer Shakespeare-Verfilmung als »Deppengeschwätz« bezeichnet, hehe).

Zuletzt konnte sich die feuilletonistische Kritik an der Hexametrisierung der »Odyssee« durch Kurt Steinmann austoben, die im letzten Jahr in einer Prachtausgabe bei Manesse erschienen ist (übrigens einige Wochen bevor Raoul Schrott mit einem Langartikel in der F-Zeitung eine neue Debatte zur Herkunft Homers in Gang setzte – der Umblätterer berichtete).

Kurt Flasch in der FAZ lobte Steinmanns Neu-»Odyssee«, Johan Schloemann in der SZ verriss sie. Beide kritisierten aber unisono die Umsetzung in deutsche Hexameter. Flasch spricht von einer »Belastung durch das Versmaß«, Schloemann bezeichnet die Übersetzung als »vielfach rhythmisch holprig und sprachlich unelegant«. Zusammengenommen gibt es folgende Kritikpunkte:

– unnatürliche Wortverlängerungen und Verkürzungen (FAZ)
– Verrenkungen der deutschen Syntax (FAZ)
– unnatürlich starke Wortbetonungen (SZ)
– Tonbeugungen bei mehrsilbigen Wörtern (SZ)

In der NZZ lobt dann Hans-Albrecht Koch an Steinmanns Neuübersetzung vor allem die Hexameter, und zwar lustigerweise aus denselben Gründen, aus denen FAZ und SZ die Versifikation ablehnten:

»Nicht mechanisch fällt bei Steinmann immer der Wortakzent mit dem Versakzent zusammen, das nimmt seiner Sprache die Schwere. Das ist in der langen Tradition deutscher Hexameter-Übersetzungen ein wenig gewagt, aber es ist schön und entlastet.«

Jens Jessen in der »Zeit« widerspricht im Übrigen allen anderen, indem er das Hexametrisieren als Bewertungskriterium herabwürdigt:

»(…) die Leistung einer neuen Übersetzung wird niemals in den Hexametern bestehen. Sie sind die leichteste Übung.«


Neues vom 1. FC Feuilleton

Konstanz, 12. März 2008, 07:01 | von Marcuccio

Paco und ich hatten an dieser Stelle schon mal den legendären Mannschaftstausch zwischen S- und F-Zeitung rekapituliert – den größten Spielertransfer der jüngeren Feuilleton-Geschichte! Nun geht ein Leser der F-Zeitung den nächsten Schritt und präsentiert seine persönliche Feuilleton-Auswahl:

Der FAZ-Linksaußen

Manche werden jetzt erst mal fragen, ob diese Position überhaupt bespielt wird. Aber ja doch, zumindest wenn man die »Angriffe auf die Feuilletonredaktion« ernst nimmt, von denen Stefan Kleie aus Basel auf der Leserbriefseite der F-Zeitung vom 28. Februar (S. 38) schreibt. Danach haben die »Leser Herbert J. Exner und Ernst Liebert in der F.A.Z. vom 11. und 22. Februar« dem für die Sachbuchseite zuständigen Redakteur Christian Geyer »Linksfundamentalismus« vorgeworfen. Das möchte Kleie so nicht gelten lassen:

»Geyers subtile Anmerkungen (…) sind keineswegs schlicht links, sondern können ebenso als Bekenntnisse eines skrupulösen Wertkonservatismus gelesen werden.«

Der Rechtsaußen

Ähnliches, so Kleie, gelte auch für die »Beiträge von Lorenz Jäger, in dem manche den Rechtsaußen des Feuilletons sehen wollen, und die Versuche Frank Schirrmachers, mit Blick auf Stefan George und Ernst Jünger nichts Geringeres als eine Neubwertung der deutschen Geistesgeschichte vor 1945 vorzunehmen.«

Insgesamt hält Leser Kleie nicht viel vom althergebrachten, starren Rechts-Links-Schema. Vielmehr gibt er sich – wie wohl die meisten Feuilleton-Fans seines Alters – als Anhänger eines flexiblen Spielsystems zu erkennen:

»Für mich als Angehörigen einer jüngeren, noch dazu in Ostdeutschland geborenen Generation sind solche Grabenkämpfe der alten Bundesrepublik irrelevant (…).«

So wundert’s einen auch nicht, dass Kleies größte Sympathie einer Feuilleton-Position gilt, die sowieso alle gängigen Schemata unterläuft:

Der Libero

»Zu Dietmar Daths großartigen Pop- und Marxismus-Exegesen brauche ich hier nicht eigens etwas auszuführen. Es wäre zu wünschen, dass er wieder einmal ganze Artikel schriebe.«

Ja, so bescheiden klingen Fans der Halbwelt … Tatsächlich liest man Dath zurzeit nur noch in der samstäglichen Sputnik-Kolumne. (Vielleicht macht er aber auch gerade Kreativpause für ein nächstes Buch? Was weiß ich. Dienstältester Dath-Umblätterer ist ja auch Paco …)

Und die Mannschafts-Hymne

»Es ist die Polyphonie der unterschiedlichen Ressorts und der einzelnen Positionen im Feuilleton, die die F.A.Z. für mich zu einer der besten Zeitungen der Welt macht.«

Das ist doch mal ein Bekenntnis. Und überhaupt wäre es toll, wenn sich auf den Leserbriefseiten neben all den Herrenreitern noch viel mehr Stefan Kleies zu ihren feuilletonistischen Lieblingsspielern zu Wort melden würden. Forza!


Wann fusioniert das deutsche Feuilleton?

Konstanz, 2. März 2008, 22:00 | von Marcuccio

Nach dieser Woche kann und muss man sich das schon mal fragen, denn so viel Gemeinsamkeit im Protokoll war selten. Donnerstag abend waren sie alle im Berliner Ensemble, bei Jonathan Littells einzigem Auftritt in Deutschland:

Eckhart Fuhr erlebte für die »Welt« einen »Nazi-Synthesizer«, Harry Nutt von der FR einen »Schriftstellerdarsteller« und Lothar Müller (S-Zeitung) einen Yale-Absolventen.

Sieglinde Geisel von der NZZ griff »sicherheitshalber zur Simultanübersetzung (…); doch auch der Übersetzer hat zu kämpfen«. Dirk Knipphals von der taz sah einen Littell, der mit allem, was er sagte, drauf aus war, »die Sache niedriger zu hängen«, während Hubert Spiegel für die F-Zeitung (Reading Room!) natürlich betont, dass Littell gar »nicht daran denkt, die Provokationen seines Romans kleinzureden«.

Schon am Mittwoch abend waren sie in Weimar kollektiv zur Urlesung von Martin Walsers »Ein liebender Mann« versammelt (und zwar nicht nur die gleichen Zeitungen, sondern sogar Eckhart Fuhr und Dirk Knipphals, so dass man sich unwillkürlich bei der Frage ertappte, ob taz und »Welt« denn jetzt schon Fahrgemeinschaften bilden).

Neben Walsers Krawatte, auf die wir wohl noch eigens in unserer Umblätterer-Rubrik »Eingeschneidert« zurückkommen werden müssen, bleibt uns aus Weimar vor allem Edo Reents als Lach-Detektor in Erinnerung:

An der Stelle »noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle«, lacht Joachim Kaiser das erste Mal laut auf: »Ha!« In den Anlaut ist ein kleines p hineingeschmuggelt, das a hat leichte Tendenz ins ä oder ö: »Hpäöh!« Was es da zu lachen gibt? Der nächste Lacher kommt bei »dringend zu wünschen«, wo Goethe Ulrike das Wort »unvorgreiflich« erklärt: »Hpäöh!« Das geht dann so weiter: Martin Walser liest in seinem alemannischen Singsang seine nicht immer ganz stubenreinen Goetheana, und Joachim Kaiser macht alle paar Minuten »Hpäöh!«

Das Live-Lachen des Kaisers hat sogar soviel News-Wert, dass es zu einem eigenen Interview mit dem »Leit-Lacher« geführt hat. Da findet man Martin Walser lustig, und schon ist man selber im Feuilleton, hehe.


Frühjahrsputz:
Die FAZ und ihre Leserbriefe

Konstanz, 23. Februar 2008, 06:15 | von Marcuccio

Zu den festen Momenten eines jeden Umblätterer-Jahres gehört der Frühjahrsputz. Denn was gibt es Schöneres, als beim lesenden Entsorgen zerfledderter Alt-Feuilletons noch allerletzte Perlen zu bergen. Ich persönlich fröne bei diesem Ritual ja immer ganz gerne der Leserbriefseite der FAZ, also der Seite, die in der F-Zeitung vornehmer als anderswo »Briefe an die Herausgeber« heißt.

Man kann dieser Seite mit den berühmt-berüchtigten Koreferaten der Oberstudienräte und Bundesverwaltungsrichter a. D. nachsagen, was man will. Sie ist manchmal wirklich eine Seite zum Wegschmeißen – was ihre Lektüre gerade beim Wegschmeißen sehr empfiehlt, hehe. Zum Beispiel hier, ich blättere eine F-Zeitung vom 12. Juni 2007 und lasse mich auf der Briefe-Seite von der schönen Headline »Herrenreiter-Mentalität« fangen:

»Vielen Dank für Ihren Artikel Potsdams Spaßbürger (F.A.Z.-Feuilleton vom 24. Mai). Dieser Fall ist, wie Heinrich Wefing treffend aufzeigt, eben leider symptomatisch für dieses Land. An die Herrenreiter-Mentalität nicht weniger Fahrradfahrer hat man sich ja schon gewöhnt, aber ein paar Oasen der Kultur sollen bitte erhalten bleiben.«

Na, nun kommt der Untergang des Abendlandes schon auf dem Drahtesel angefahren, denke ich mir noch, und blättere weiter. Bis ich ein paar Wochenstapel später, nämlich in der F-Zeitung vom 16. Juli 2007, schon wieder bei den Briefen an die Herausgeber hängen bleibe. Diesmal ist »Desavouiert« der Teaser – ein hübsches, schönes Bildungsbürgerwörtchen, das man auch nicht alle Tage zu lesen bekommt. Und dann steht da das:

»In seiner Zuschrift vom 12. Juni beschwert sich Leser Müller über die ›Herrenreiter-Mentalität‹, soll wohl heißen, das Verkehr und Natur gefährdende Rauditum von Radfahrern, besonders Mountainbikern. Ja, wenn diese sich doch wie Herrenreiter verhielten, dann würden sie in jeder Lage ihr Gefährt beherrschen, sich an Radwege halten und nicht auf Schnellstraßen fahren, nicht querfeldein über Saatfelder oder Lichtungen im Wald radeln. Die Begriffe ›Herrenreiter-Mentalität‹ und ›Gutsherrenart‹ werden heute von Leuten zur Bezeichnung rücksichtslosen autoritären Verhaltens gebraucht, die weder einen sein Pferd feinfühlig beherrschenden echten Herrenreiter noch einen stetig um seinen Betrieb besorgten Gutsbesitzer jemals kennengelernt haben. (…) Als Mann, der über 65 Jahre in Ehren korrekt im Sattel sitzt, fühle ich mich durch Leser Müller desavouiert.«

Leserbriefe, die auf andere Leserbriefe reagieren, ein echtes Schatten-Genre. Und wohl nur in der F-Zeitung kann sich eine Zuschrift an einem 16. Julei mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit auf eine durch ein Kompositum ausgelöste Desavouierung vom 12. Juno beziehen. Das zeigt mal wieder die wahren Zeitläufe dieser Zeitung: Sie ist eben auch nach mehr als einem Monat noch frisch.

Womöglich, denkt sich der Umblätterer beim Frühjahrsputz, begreift man diese Zeitung überhaupt erst im Abtrag eines Jahres. Dazu muss sie dann natürlich möglichst lückenlos archiviert sein (von daher darf man nicht zu oft mit der FAZ-Abbesteller-Szene sympathisiert haben und sollte seine F-Zeitung auch immer gut vor San Andreas in der Bahn verteidigen, hehe).

Denn wer weiß, wieviele Briefe an die Herausgeber übers Jahr noch so miteinander kommunizieren? Die geheimen Leser-Netzwerke in der Offline-Blogosphäre der FAZ, das wäre doch mal eine schöne Plotstruktur für die nächste Staffel dieses Buches. Und ist für mich schon jetzt ein Ansporn zum nächsten Frühjahrsputz.


Lesen 2.0:
Die F-Zeitung folgt Jochen Schmidt ins Netz

Konstanz, 15. Februar 2008, 07:20 | von Marcuccio

Seit knapp zwei Wochen gibt es den Reading Room der F-Zeitung: Jonathan Littell zum Lesen, Hören, Diskutieren soll ein »Pilotprojekt« sein, und man ist wohl kein großer Prophet, wenn man die Idee einer Blogosphäre für »FAZ-Gesinnte« schon jetzt als genialen Coup bezeichnet, mit dem die F-Zeitung ihr zuletzt doch eher altbackenes Alleinstellungsmerkmal »Feuilletonroman« ins 21. Jahrhundert rettet.

Denn wenn wir das weidlich kritisierte Marketing-, Experten- und Herausgeber-Tamtam einfach mal beiseite lassen. Dann bleibt als Role Model eines solches Lese-Events im Netz immer noch Jochen Schmidt, an den dieser Tage mal wieder kein Kritisier-Feuilleton erinnert hat:

Schmidt-liest-Proust hieß sein Projekt und war die sympathische Kompensation einsamen Lese-Inputs durch bloggenden Output, frei nach dem Motto: Ich teile euch mit, was und wie ich lese. Und ich lese (Prousts »Recherche« auch wirklich zu Ende), weil ich Leselust und Leselast mit euch teile, weil ihr hoffentlich protestiert, wenn ich vorher aufhöre, weil ihr mich animiert, durchzuhalten. 3.500 Seiten Proust sind ja eigentlich eine Ansage zum Eremitendasein. Aber 3.500 (mit-)geteilte Seiten Proust sind vielleicht die einzig reelle Chance, über ein Buch, das alle kennen und kaum einer wirklich gelesen hat, ins Gespräch zu kommen.

Und es muss ja gar nicht immer gleich Proust sein. Neulich zum Beispiel. Wollte ich mit Paco über dieses Buch quatschen, und er hatte es prompt noch nicht gelesen. Sollte er es dann endlich mal getan haben (Forza! hehe), habe ich die Hälfte schon wieder vergessen. Wie praktisch ist da ein Blog, das Unterhaltungen über Lektüreerlebnisse, für die es offline gar nicht immer den richtigen Zeitpunkt gibt, antizipiert und archiviert.

Es geht beim Lesen 2.0 also einerseits um das, was Literaturwissenschaftler wie Heinz Schlaffer als »mitgeteilte Lektüre« bezeichnen: das gesellige Gespräch über Literatur, das wir alle brauchen (Der Umgang mit Literatur. In: Poetica 31 (1999), S. 1-25). Und andererseits um »schreibendes Lesen«: Doch gerade das scheinbar harmlose Anmerken, Kommentieren und Reinschmieren in die Bücher konfrontiert unsere werten Bibliotheken ja immer wieder mit diesen Aufsehen erregenden Fällen von Zerstörungswut.

Reading Rooms und Lese-Blogs leisten, so gesehen, echte Prävention. Sie schützen nicht nur die Bücher, sie bewahren auch uns selbst – vor asozialer Lese-Vereinsamung ebenso wie vor einem unüberlegten Eintritt in den Jane Austen Club, hehe. Und dass auch eine schwarmähnliche Interessengemeinschaft im Netz so richtig schwärmerisch sein kann, hat der Schmidt-liest-Proust-Fanclub ja sowieso schon vorgeführt:

»Dankeschön Jochen! Dein Blog war wie ein Advents­kalender, dessen Türen jeder für sich öffnen konnte, wann er wollte und der uns jeden Tag mit einer für uns neuen Süßigkeit überraschte.« (hier)

Für Jonathan-Littell-Aficionados funktioniert das jetzt wahrscheinlich ganz ähnlich. Na ja, fast. Im Reading-Room der F-Zeitung wird halt nicht genascht; hier will und bekommt man echtes Vollkorn-Feuilleton: Oder was sonst wäre die tägliche Frage, die zur »Wohlgesinnten«-Verdauung anregen soll? Und nichts gegen Vollkorn: Jeder, der schon mal länger in Weißbrotländern gelebt hat, weiß erst, was gutes deutsches Schwarzbrot wert ist.

____
Als Einstieg in den Schmidt liest Proust-Kosmos, die ersten beiden Einträge:
http://vertr.antville.org/20060719/


Öl

Zürich, 2. Februar 2008, 19:48 | von Paco

Marcuccio, Hauptbahnhof, F-Zeitung, Jonathan Littell, das ganz große nächste Ding, bzw. Schirrmacher: »kein Jahrhundertbuch«. Der schön neu eingerichtete Reading Room, ein Anglizismus in der FAZ, sehr gut.

In Zürich

Ins Kunsthaus, Tischbeins »Brutus entdeckt die Namen seiner Söhne auf der Liste der Verschwörer und verurteilt sie zum Tode«, epischer Titel, epische Story, epische Größe. Besser als David, sage ich. Nicht besser als David, sagt Marcuccio.

Als wir zum zweiten Mal vor dem Brutus stehen, kommt aus der Tür neben dem Bild ein Typ auf uns zu, ein Problemtyp irgendwie. Seine Hände triefen: »Olio«, schreit er, »ooolio!«

Er habe sich gerade auf dem Bagno die Hände waschen wollen, »solo le mani«, das sei doch ein Menschenrecht, und aus dem Wasserhahn sei aber Öl gekommen, »olio, che cazzo, olio-olio«.

Wir weichen zurück, offenbar will er an unseren Hemden die Hände abwischen, auch ein Menschenrecht offenbar.

Das Öl auf dem Bagno scheint vielleicht eine Aktion für/gegen/über den Nahen Osten zu sein, wir werden es nicht erfahren, wir schießen runter ins Erdgeschoss, der Typ hinter uns her, olio-olio, wir rennen um unsere Hemden, Schließfach, Überzieher, Mützen, raus aus dem Kunsthaus, rein ins cabaret voltaire, gerettet.

Dort treffen wir nicht: Stefan/sms, den rebell.tv, denn: »ich meide zürich, wann immer es geht ;-))«.

Das WLAN im cv schwächelt, wie von sms vorhergesagt, auch das noch. À propos, sms: Grüße von Karin oder Andrea. Bis bald am Bodensee.


Endlich fertig: Die Feuilleton-Charts 2007

Leipzig, 15. Januar 2008, 00:30 | von Paco

Hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2007:

1. Renate Meinhof (SZ)
2. Peter Richter (FAS)
3. Henning Sußebach (ZEITmagazin LEBEN)
4. Jean-Philippe Toussaint (FAS/FR)
5. Robin Meyer-Lucht (SZ-Magazin)
6. Ursula März/Claudia Schmölders (Zeit)
7. Matthias Matussek (Spiegel)
8. Heribert Prantl/Remigius Bunia (SZ/FAZ)
9. Henning Ritter (FAS)
10. Jan Wigger (SPON)

Kurze Begründungstexte und Links (sofern vorhanden) gibt es auf dieser Seite, die sich wie schon die Top-10s für die Jahre 2005 und 2006 direkt von der rechten Seitenleiste aus aufrufen lässt.

Auch in diesem Jahr speichert die Liste unseres Erachtens snapshotartig ein repräsentatives Bild des Lebens in den Feuilletons im Jahr 2007. Zusammen bilden die Texte ein erstklassiges virtuelles Lesebuch, und wer den ein oder anderen Artikel noch nicht gelesen hat, sollte dies unbedingt nachholen – es sind alles Krachertexte, die jede Zeile wert sind.

Vor allem unser Lieblingstext, Renate Meinhofs Porträt eines 90-jährigen Wagnerianers, ging uns nicht mehr aus dem Kopf. Er ist im Juli erschienen, aber noch im November und Dezember sprachen wir gelegentlich über das Bayreuth-Erlebnis des Walter Odrowski, seine »Eppendorfer Heimoper« und seine Reaktion auf Stoibers Ignoranz.

Odrowski wollte auf dem Staatsanfang nach der »Meistersinger«-Premiere dem damaligen Ministerpräsidenten für die Einladung danken, dringt aber mit seinen dünnen Worten nicht zu ihm durch, bis es ihm schließlich auch egal ist und er im Hinblick auf Stoibers leicht unfreiwillige Demission trocken kommentiert: »Na macht nichts, nächstes Jahr ist der auch nicht mehr hier.«

Meinhofs Idee, dass Odrowski ein bisschen aussieht wie Franz Liszt und die diesbezügliche Bestätigung durch das zugehörige Foto sorgen zusätzlich dafür, dass man dieses Porträt nicht so schnell vergisst.


Allegorie und Anarchismus

Tel Aviv, 12. Januar 2008, 12:59 | von Paco

Am 22. August 1999 schrieb Lorenz Schröter unter der schönen Überschrift »Emails und die Detektive« einen Beitrag für das mittlerweile verschwundene Gruppenblog »pool«, in dem es um die Techniken des modernen Erzählens geht. Darin:

»Das Überflüssige wegschneiden, schneller beschreiben. Wir sind ja nicht in ›Die Zeit‹. (Man kann bei Artikeln in Die Zeit eine Zigarettenschachtel auf den ersten Absatz legen und landet dann dort, wo der Artikel beginnt. Falls wirklich was drinsteht.)«

Tobias Rüther hat in der heutigen F-Zeitung einen Artikel stehen, der sich einreiht in die Besprechungen der vorgestrigen Diskussion »Regeln oder Anarchie? – Journalismus im www« beim DJV.

Und in Rüthers Text ist es der erste Absatz, den man mit der berühmten Zigarettenschachtel hätte zudecken können. Da er bei seiner allegorischen Einführung den Fehler begeht, die ›Lady‹ mit der ›Mrs.‹ Astor zu velwechsern, hat Don Alphonso leichtes Spiel, seinen Beitrag nicht anhand der Argumentation, sondern anhand seiner schiefen Vergleiche zu verreißen. Zum Inhalt muss Don Alphonso gar nichts mehr sagen, der verreißt sich dann von selbst, das ist die ganz hohe Schule.

Dabei geht Alphonsos Text wie immer unlektoriert ins Netz: »zertritten« steht da statt »zerstritten«, und »Blösdsinns« statt »Blödsinns«. Was widerum für Zeitungen mit Schlussredaktion ein Angriffspunkt wäre, wenn dieser legasthenische Effekt nicht gerade zu Alphonsos Style gehörte und zum auch stilistischen Anarchismus, der sich in Blogs entwickelt hat. Dieser ist überhaupt bei der zunehmenden Blog-Berichterstattung noch nie als konstitutiv beschrieben worden, und so bleibt es dabei, was hier schon vor einem Monat mal stand:

»Ich habe noch in keiner gedruckten Zeitung oder Zeitschrift einen Artikel gelesen, in dem auch nur ansatzweise etwas Wahrhaftiges über die »Webloggerey« (Dietmar Dath) stand.

Was heißt es, Don Alphonso zu lesen? Was heißt es, Rechtschreibprobleme von Kommentarschreibern freudig hinzunehmen? Was heißt es, BILDblog nicht mehr deswegen zu lesen, weil man sich über die »Bild«-Zeitung aufregen will? Was heißt es, wenn man sich bei den Techies von F!XMBR besser über die Lage der SPD informiert fühlt als in den Kommentarspalten der Zeitungen? Usw.

Nichts davon im Feuilleton. Dabei ist es das einzige Zeitungsgenre, das sich erlauben dürfte, so einen Wahnsinn mal adäquat darzustellen.«

Und dann gerne mit ein paar barocken allegorischen Anfangsabsätzen, die von Musen und Erinnyen handeln.