Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


Lyrik gegen Medien!

Berlin, 18. Juli 2014, 09:21 | von Josik

Der Endreim ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Die »Süddeutsche« und andere seriöse Zeitungen kolportieren derzeit ein Gedicht, das u. a. die folgenden Strophen enthält (Schreibweise behutsam verändert):

»FAZ« und »Tagesspiegel«?
Lieber kauf’ ich mir ’nen Igel!

»Taz« und »Rundschau«, ARD?
Hm, Moment, ich sage: Nee!

»Bild« oder »SZ« genehm?
Wie spät *ist* es? Ich muss geh’n!

Der Daumen, der nach unten zeigt,
der trifft bei mir auf Heiterkeit.

Viele andere Medien dürften sich aufgrund der Tatsache, dass sie in diesem Gedicht gar nicht erst erwähnt werden, erheblich düpiert fühlen. Um die Gefühle dieser Medien nicht zu verletzen, wird das Gedicht im folgenden lose weitergereimt.

»Mopo«, »Emma« und »Die Zeit«?
Hört gut zu, ich bin euch leid!

»Isvéstija« und »Kommersánt«?
Haltet einfach mal den Rand!

»Kronen Zeitung«, »Standard«, »Presse«?
Haltet einfach mal die Fresse!

»Tagi«, »Blick« und »NZZ«?
Früher wart ihr einmal phatt!

»Guardian« und »New York Times«?
Ihr vermiest mir voll die rhymes!

»Super Illu«, »Bunte«, »Gala«?
Für euch zahl’ ich nicht einen Taler!

»Börsen-Zeitung«, »Handelsblatt«?
Euch mach’ ich doch locker platt!

»Merkur«, »Lettre«, »Cicero«?
Euch spül’ ich sofort ins Klo!

Auch der Hokuspokus-»Focus«
liegt aus Jokus auf dem Locus!

»Junge Welt« und alte »Welt«?
Widewitt, wie’s euch gefällt!

ORF und ATV?
Euch Wappler mach’ ich jetzt zur Sau!

RTL und auch ProSieben
kann man sonstwohin sich schieben.

Mach’ es wie die Eieruhr:
Zähle die Minuten nur!

Und nun: Schafft zwei, drei, viele weitere Strophen!
 


Der Fall Elke Heidenreich

Berlin, 24. Mai 2014, 21:43 | von Josik

Nein, es weihnachtet grade nicht, aber es raddatzt sehr. Zu verdanken ist das Elke Heidenreich. Im »Literaturclub« ging sie fehlerhaft mit einer Heidegger-Wortfolge um und wollte sich diese Fehlerhaftigkeit auch vom Moderator Stefan Zweifel nicht kaputtmachen lassen. Nachdem der widerborstig-impertinente Stefan Zweifel seine Mitdiskutantin Elke Heidenreich auf die Fehlerhaftigkeit ihrer Heidegger-Wortfolge hingewiesen hatte, schmiss sie feingeistig den besprochenen Heideggerband auf den Tisch (YouTube is your friend).

Stefan Zweifel wurde daraufhin seiner Pflichten als Moderator entbunden und viele Kommentatoren (darunter hier der und möglicherweise indirekt auch hier der) fordern nun, nicht auf ihn, sondern auf Elke Heidenreich solle der erste bzw. zweite Stein geworfen werden. Und sie führen den Fall Raddatz als Beispiel dafür an, wie die Zeiten sich verändert hätten: 1985 sei es noch so gewesen, dass nicht derjenige rausgeschmissen wurde, der die Fehlerhaftigkeit eines Zitats erkannt hat, sondern derjenige, der einem Falschzitat aufgesessen ist.

Benedict Neff schreibt in der »Basler Zeitung«: »Wie heikel solche falschen Zitate auch im Kulturbetrieb sein können, zeigt das Beispiel des einstigen Feuilleton-Chefs der Zeit, Fritz J. Raddatz.« Und Jürg Altwegg erinnert in der »FAZ« daran, dass die »Basler Zeitung« an Fritz J. Raddatz erinnert.

Philologisch gänzlich unverantwortlich und absolut fahrlässig wird hier aber ersichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Denn erstens ist einem Interview, das Elke Heidenreich vor einiger Zeit dem Magazin »Cicero« gab, zu entnehmen, dass sie ihre Arbeit sehr wohl immer nach bestem Wissen und Gewissen verrichtet: »Es ist (…) wichtig«, sagte sie dort, »sich auch intellektuell mit Texten und Büchern auseinanderzusetzen, und das kann nur das Feuilleton. Da kann man die Sätze nachlesen, da kann man schwierige Texte noch mal überprüfen.«

Und zweitens ist es seit rund drei Jahrzehnten Communis Opinio, dass Raddatz’ fehlerhafter Umgang mit Zitaten eine Lappalie, mithin sein Rausschmiss bei der »Zeit« nicht gerechtfertigt war. Also, d’accord: Damals wäre es richtig gewesen, Raddatz auf seinem Posten zu belassen! Aber heute soll es falsch sein, Elke Heidenreich auf ihrem Posten zu belassen? Beide sind fehlerhaft mit Zitaten umgegangen. Doch was einem renommierten Intellektuellen, einem Germanistik­professor, einem Universalgenie, aber letztlich eben auch einem Menschen wie Raddatz passieren kann, soll ebenfalls einem Menschen und immerhin einer gestandenen Trägerin des Medienpreises für Sprachkultur wie Elke Heidenreich nicht passieren dürfen?

Im Fall Raddatz sprach Peter Voß von einem »Fehler, von dem man eigentlich sagen kann, der nicht der Rede wert ist«. Raddatz selbst berichtet, wie er auf einer Geburtstagsfeier bei den Henkels am 25. Oktober 1985 von vielen Geistesgrößen angesprochen worden sei: »Von Scheel zu Hamm-Brücher, von Höfer bis Ehmke, von Liebermann bis Ledig: Was wollen die überhaupt, wieso verteidigen die Sie nicht, das alles wegen eines läppischen Fehlers? Man kann NIRGENDS begreifen, daß eine solche Lappalie überhaupt ernst genommen wird.« Ja, sogar Steuerrechtsexperte Theo Sommer selbst nennt das Ganze inzwischen eine »Lappalie«!

Im Fall Raddatz spricht auch Lothar Struck von einem »lächerlichen Fehlerchen«, im Fall Heidenreich spricht derselbe Lothar Struck jetzt aber plötzlich von der »Aufgabe jeglicher intellektuellen Redlichkeit (Falschzitat)«.

Man muss vielleicht doch noch einmal daran erinnern, was Robert Gernhardt 1985 im »Spiegel« über Raddatz schrieb: »Er hat uns mehr über Grammatik, Geographie, Bildende Kunst und (…) auch Philologie beigebracht als so manches andere staubgründliche Feuilleton.« Klar ist, dass ein unabhängiger Geist wie Raddatz sich von solch anbiederndem Lob nicht beeindrucken lässt. Noch sechs Jahre nach Gernhardts Tod urteilte Raddatz: »Die Deutschen lieben ihre selbstfabrizierten Mythen, lauwarm weichgespült mögen sie bitte nicht von den kühlen Wassern der Vernunft gereinigt werden. (…) So halten sie Robert Gernhardt für einen fast genialen Lyriker – der doch in Wahrheit über Schülerzeitungsreime à la ›Den Mistkerl hab ich rangekriegt. Er hat sie in den Mund gefickt‹ nie hinausgelangte«, und auch in einer Kritik, die laut »Zeit Online« bereits vom 31. Dezember 1899 stammt, verglich Raddatz in einem Totalverriss, einen brillanten Gedanken variierend, Gernhardts dichterische Potenz mit »der parodistischen Energie eines Schülerzeitungs-Redakteurs«.

Doch zurück zu Elke Heidenreich: Wollen wir allen Ernstes den Fehler, der anno 1985 im Fall Raddatz begangen wurde, wiederholen? Wollen wir denn gar nichts aus der Geschichte lernen? Wollen wir wirklich über Elke Heidenreich den Stab brechen? Was ist mit den Idealen der Toleranz und des Miteinanders? Stattdessen werden weiterhin Hass, Wut und schlechte Laune gepredigt. Warum nur ergötzen Menschen sich so lustvoll am Unglück anderer? Warum haben Menschen so weitgehend die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren, zu Erbarmen – gar Barmherzigkeit? Die Botschaft von Barmherzigkeit trifft auf taube Herzen, ist dahingeschmolzen wie die Kerzen am Baum. Statt des Gebots »Liebe deinen Nächsten« liest man die Umtauschgarantie. Es zählen nur noch Gütesiegel – keine Güte mehr. Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2013

Leipzig, 14. Januar 2014, 04:14 | von Paco

Der Maulwurfstag ist da! Heute zum *neunten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2013:

Der Goldene Maulwurf

Dass Özlem Gezers Gurlitt-Porträt aus dem »Spiegel« vergoldet werden musste, war natürlich ein bisschen offensichtlich. Aber wie wir in der Laudatio schreiben: »Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern.«

Andreas Puff-Trojan wiederum ist die mit Abstand beste und pastichierendste Literaturkritik des Jahres gelungen. Sie wurde im »Standard« veröffentlicht, und überhaupt: österreichische Tageszeitungen! Wir können die nur immer wieder empfehlen, gerade für die Momente, in denen das Feuilletonlesen nicht mehr so viel Spaß zu machen scheint wie früher.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2013:

1. Özlem Gezer (Spiegel)
2. Andreas Puff-Trojan (Standard)
3. Sascha Lobo (FAZ)
4. Wilfried Stroh (Abendzeitung)
5. Simone Meier (SZ)
6. Claudius Seidl (FAS)
7. Liane Bednarz (Tagespost)
8. Margarethe Mark (Zeit)
9. Peter Unfried (taz)
10. Joachim Lottmann (Welt)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben. Wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen, wobei es sich bei dem Artikel der »Münchner Abendzeitung« um ein On-/Offline-Gesamtkunstwerk handelt. À propos, das gutgelaunte »Servus aus München«, das der AZ-Kulturredakteur Adrian Prechtel beim Feuilleton-Pressegespräch im Deutschlandradio Kultur immer in den Äther schickt, ist der momentan wohl schönste feuilletonistische Kampfschrei und wir sind ganz süchtig danach.

Nächstes Jahr steht endlich der 10. Goldene Maulwurf an, Jubiläum! Hinweise auf feuilletonistische Ubertexte des laufenden Jahres 2014 bitte wie stets an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis später,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (1/2014)

Leipzig, 2. Januar 2014, 13:14 | von Paco

Helgoland

1. »In Noworossisk steht seit knapp zehn Jahren das weltweit einzige Leonid-Breschnew-Denkmal.« (NZZ)

2. Huhu? Doch, die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen sind jetzt vorbei!

3. Als nächstes steht hier am Dienstag, dem 14. Januar 2014, die feierliche Bekanntgabe der zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2013 an. Zum *neunten Mal* wird dann unsere wundersame Siegtrophäe vergeben, der Goldene Maulwurf für den besten Kulturberichterstattungs- und -verarbeitungsartikel! (Ergebnisse vom letzten Jahr hier.)

4. JProgressBar: Die Longlist wurde mittlerweile sondiert, das Consortium Feuilletonorum Insaniaeque tagt, die Wahl läuft.

5. Bis zur feierlichen Bekanntgabe erscheinen hier aber noch ein paar andere Texte. Wir sind sozusagen grad frisch vom 30C3 zurück und kucken jetzt mal, was inzwischen alles an raddatzfreiem Material eingelaufen ist.

6. »Wenn Günter Brus schreibt, Camus habe einen ›Pestseller‹ verfasst, ironisiert er das sogleich.« (Die Presse)

7. »Der bisher kaum bekannte Autor David Vogel wird gerne in einem Atemzug mit Arthur Schnitzler genannt.« (noch mal Die Presse!)

8. »(…) der sympathische Bio-Metzger Wilhelm Hehe – das ›Hehe‹ ist zugleich Signum seiner Lachfreudigkeit auf seinen Wursttüten –, (…)« (FAZ)

9. Und nun: Der Sprung ins Dunkle!
 


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 13):
»Pyrenäenreise im Herbst« (1985)

Berlin, 13. Dezember 2013, 08:10 | von Cetrois

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 92)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Sehr pragmatisch findet man Fritz J. Raddatz’ »Pyrenäenreise im Herbst« im Regal der Kreuzberger Amerika-Gedenkbibliothek eingeordnet zwischen dem Vorbild von 1927, Kurt Tucholskys »Pyrenäenbuch«, und Jürgen Engels »Mit dem Wohnmobil durch die Pyrenäen«, das 2007 bereits in dritter Auflage erschienen ist. Engel verspricht im Klappentext »Burgen, Gletscher, Höhlen und Schluchten« und, etwas mysteriös, »genaue Hinweise auf Ver- und Entsorgungs­möglichkeiten«; Raddatz verspricht im Untertitel eine Reise »auf den Spuren Kurt Tucholskys«.

Indes muss er, um dieses Versprechen einzulösen, sich gleich zu Anfang ein wenig sputen, denn während Tucholsky schon zum Stierkampf in Bayonne weilt, beginnt Raddatz’ Roadtrip, spätsommer­lich elegisch, natürlich auf Sylt. Und während Tucholsky sich aus den Absurditäten des Pass- und Grenzregimes zu einer ätzenden Kritik des Nationalstaats als Ersatzreligion aufschwingt, ist Raddatz erst einmal froh, dass die »Säsong« vorbei ist, in der »die Düsseldorfer Gebrauchtwagenhändler Grillparties mit Sekkkt feiern« (S. 9).

Allein, vor den geschmacklichen Todsünden der nouveaux riches aller Epochen ist Raddatz auch im französisch-spanischen Baskenborder­land nicht gefeit. Was ihn dann immer wieder, und besonders bei der Besichtigung von Heinrichs IV. Château de Pau, schockiert: der frappante »Unterschied der ästhetischen Sensibilität« (S. 13) – zwischen seiner und der Tucholskys nämlich, dem es in Pau offenbar gar nicht schlecht gefiel. Vor allem aber plagt Raddatz »das eisern durchgehaltene Ritual« der Franzosen: »zwei Stunden Mittagessen« (S. 55) – eine Raddatz verhasste Mahlzeit, die in seinem eigenen, delikat ritualisierten Tagesablauf niemals vorkommt, ja, die er nach eigenem Bekunden (zuletzt im großen Stil-Interview in der FAZ) nicht einmal kennt.

Länge des Buches: ca. 142.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 7–75 (= 69 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 4):
»Erfolg oder Wirkung« (1972)

Berlin, 4. Dezember 2013, 08:05 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 85)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Fritz J. Raddatz porträtiert in diesem Buch Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Erich Mühsam, Willi Münzenberg, Ernst Niekisch und Robert Havemann. Es sind meisterliche impressionistische Genrebilder, die er mit leichter Hand skizziert, absolute Pflichtlektüre für alle, vielleicht nur für den Erdkunde- oder Geschichtsunterricht nicht unbedingt. Aus Raddatz spricht die ungestillte Sehnsucht nach dem Süden, wenn er einen Kreis junger Naturalisten nach »Friedrichshafen am Müggelsee« (S. 55) verlegt; aus ihm spricht der klare Wunsch, dass Hitler schon viel früher hätte weggeräumt werden müssen, wenn er das berühmte Attentat auf den »20. Juli 1940« (S. 130) datiert; und dass eine zweibändige Erich-Mühsam-Auswahl, die 1958 in der DDR erschien, dort »nie wieder aufgelegt« (S. 53) worden sei, ist natürlich ebenfalls falsch.

Cool sind die lebenspraktischen Tipps: Indirekt empfiehlt Raddatz, in keine Autos zu steigen, in denen vom Rückspiegel eine Zottelhexe hängt. Allen Geheimdiensten gemeinsam nämlich sei eine »Atmosphäre von Blechkaffeekanne, Blümchen auf dem Fensterbrett und die Zottelhexe am Rückspiegel der Abholautos« (S. 129). Muffige Zottelhexen am Rückspiegel kann der Stilexperte Raddatz nicht gutheißen; und gerade in Stilfragen sollte man sich generell auf Raddatz’ Urteil verlassen, seit er im FAZ-Interview erklärte: »Ob Sie einer schwangeren Frau den Bauch aufschneiden oder sechs Millionen Juden vergasen – das hat alles mit Stil überhaupt nichts mehr zu tun« und darüber hinaus auch noch lehrte, dass man normalerweise die Unterwäsche jeden »zweiten« Tag wechselt.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Erfolg oder Wirkung. Schicksale politischer Publizisten in Deutschland. München: Hanser 1972. S. 3–137 (= 135 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2012

Leipzig, 8. Januar 2013, 04:25 | von Paco

Maulwurf’s in the house again! Heute zum *achten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2012:

Der Goldene Maulwurf

Die Nummer 1 herauszudiskutieren, war dieses Jahr nicht schwer, einhellig fiel die Wahl auf Volker Weidermanns endgültige Erledigung des herumdichtenden Grass.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2012:

1. Volker Weidermann (FAS)
2. Jens-Christian Rabe (SZ)
3. Christian Thielemann u. a. (Zeit)
4. Olivier Guez (FAZ)
5. Ulrich Schmid (NZZ)
6. Mara Delius (Welt)
7. Kathrin Passig (SZ)
8. David Axmann (Wiener Zeitung)
9. Friederike Haupt (FAS)
10. Thomas Winkler (taz)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben, wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen der Jury.

Außerhalb der Top-3 gab es übrigens ziemliche Rangeleien. Handke zum Beispiel konnte letztlich wie so oft nicht genügend Stimmen auf sich vereinen, deshalb müssen wir ihm für den Feuilletonsatz des Jahres (»Ein Wortspiel pro Text ist erlaubt.«) separat gratulieren.

Hinweise auf feuilletonistische Supertexte des laufenden Jahres 2013 bitte an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis nächstes Jahr,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Old Shatterhand in Oberschlesien

Leipzig, 25. Juni 2012, 08:09 | von Marcuccio

O.S. (für Oberschlesien) muss mal eine gängige deutsche Abkürzung gewesen sein, so geläufig wie heute NRW. »O.S.« als Roman von Arnolt Bronnen kennen wohl die wenigsten, und da hat man natürlich im Prinzip auch nichts verpasst.

Das Buch spielt vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Unruhen in Oberschlesien 1921 und erschien 1929, und dass der Ernst Jünger der Zwischenkriegszeit es lobte und mochte, ist jetzt auch nicht unbedingt ein Argument, hehe.

Nun ja, ein im Handgepäck nach Polen eingeschleuster FAZ-Artikel brachte mich dazu, Bronnen doch mal zu lesen. Hubert Spiegel hatte auf der »Geisteswissenschaften« vom 18. April die »Oeuvres et correspondances. Dialogues d’Ernst Jünger« besprochen. Es ging um den Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Ernst von Salomon.

Salomon hat übrigens einen ähnlich gelagerten Roman geschrieben, »Die Geächteten«, der ein paar Monate nach Bronnens Buch erschien und auch ein Kapitel namens »O.S.« enthält. Salomon hat dann später in seinem Bestseller »Der Fragebogen« (1951) gemeint, dass dieser Roman sein schlechtestes Buch aller Zeiten gewesen sei, aber eben leider auch sein bis dahin mit Abstand erfolgreichstes.

Aber zurück zum FAZ-Artikel, in dem es auch darum ging, dass sich Jünger gleich mehrfach zu »O.S.« geäußert habe.

Was Jünger an »O.S.« gefällt …

… ist »die Traditionslosigkeit, der völlige Mangel an ethischen Wertungen, die absolute Respektlosigkeit«:

»Denn der Gang der Dinge ist folgender. Zunächst hat man das Kriegserlebnis ignoriert. Als es sich dann stärker und unabweis­barer ins Bewußtsein schob, versuchte man es einzufangen und das Elementare an ihm zu lähmen, indem man es mit zivilisatorischen Mitteln behandelte.«

Doch Krieg, so Jünger, könne man nun mal »auf die Dauer nicht mit jenen Mitteln behandeln, die seinem Wesen entgegengesetzt sind«. Und deswegen sei »O.S.« als Roman, der vom Untergrundkampf im völkerrechtlich neutralisierten Oberschlesien handelt, ein Werk, »das auch dem, der es noch nicht wußte, deutlich macht, daß im Zivilisatorischen das Barbarische als eine notwendige Konsequenz enthalten ist«. (Ernst Jünger: Wandlung im Kriegsbuch. A. Bronnens Roman ›O.S.‹. In: Der Tag, 23. Mai 1929.)

Ein ziemlich tendenziöser Zeitroman …

… ist »O.S.« natürlich trotzdem. Proletarisch, polenfeindlich, deutschnational-chauvinistisch. Grundgedanke des Buchs ist, dass die lasche Politik in Berlin, die den Versailler Vertrag ernst nimmt, nichts bringt und man selbst für die Sache kämpfen muss – notfalls auch »gegen die Republik, gegen Demokratie und Parlamentarismus, gegen Pazifismus und Liberalismus, gegen ›Politik‹ ganz allgemein«. (Ursula Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens. Wandlungen seines Denkens. Bern etc.: Peter Lang 1985, S. 131f.) Für Carl von Ossietzky war »O.S.« denn auch: »ein Attentat auf den Völkerfrieden«.

Andere Zeitgenossen finden, dass Bronnen eher exemplarisch mit Oberschlesien dealt. Mit dem realen Oberschlesien, so die Lesart von Karl Heinz Ruppel, habe Bronnen eigentlich wenig am Hut: »Ihn lockten der Krach, die Zerstörung, die Ansätze zur Anarchie, die in den oberschlesischen Notjahren auftauchten.« (zit. nach Ursula Münch, S. 139) Das wäre dann wieder Jüngers Idee vom Elementaren. Oder eben, mit Kurt Tucholsky, doch nur »Blut, Vagina und Nationalflagge«.

Der Plot von »O.S.« …

… ist tatsächlich ziemlich abstrus, teilweise auch schlicht willkürlich und deswegen kaum nachzuerzählen. Ungefähr passiert folgendes:

Ein Berliner BEWAG-Monteur, gerade an einer Straßenlaterne beschäftigt, wird von einem Taxi angefahren. Weil er deswegen seinen Zug nach Oberschlesien verpasst, rastet der Taxipassagier aus. Haut dem Taxifahrer eins über und lässt sich kurzerhand vom Monteur mit dem geklauten Taxi nach Oberschlesien chauffieren.

Und so beginnt eine Roadnovel: Rein ins Ruhrgebiet des Ostens, das zu der Zeit offiziell unter alliierter Kontrolle steht, aber inoffiziell von allen möglichen Gruppen terrorisiert wird: Es gibt aufständische polnische Arbeitnehmer, deutsche Kommunisten und nationalrevolutionäre Zirkel, die schon vor der Volksabstimmung Fakten schaffen wollen und sich mit rivalisierenden polnischen Freischärlern paramilitärische Scharmützel liefern. Daneben großbürgerliche (deutsche) Arbeitgeber, die das Industrierevier und seine Bodenschätze auf jeden Fall ›halten‹ wollen. Waffenschmuggler, ein französischer General und eine Einheimische, die man vielleicht »fickrig« nennen würde, sind mit von der Partie. Das Mädel wird prompt schwanger, die Abtreibung (vorgenommen von einem Medizinstudent) geht krass schief. Und es kommen noch mehr Leute ziemlich splattermoviehaft zu Tode. Kurzum:

Das Blutige, das Trashig-Gewaltorgiastische, …

… überhaupt die ganzen Anarcho-Elemente und der Genreverschnitt – das hätte ein Tarantino-Drehbuch auch nicht besser hingekriegt. Im Übrigen taugt Bronnen als Zeitansage: Massenhaft beginnen Szenen so, dass es irgendwo gerade »punkt elf«, »zwölf Minuten nach« oder »eine Minute vor viertel Zwölf« (hä?) ist. Also sehr livestreamig, aber eben, das muss auch Jünger zugeben: schon »mehr gestanzt als gefeilt«.

»›O.S.‹ ist ein mehrschichtiges Gangster-Stück Bronnens«, schreibt Friedbert Aspetsberger in seiner Bronnen-XXL-Monografie. Wer sich literaturwissenschaftlich einlesen will: Das Ganze gipfelt in der Pointe, dass Bronnen ein Westernheld ist und O.S. eigentlich für Old Shatterhand steht …

P.S. für alle Leipziger

Völlig unwichtiger Aha-Effekt bei der »O.S.«-Lektüre, der mir aber trotzdem nicht mehr aus dem Kopf geht: Europas größter Kopfbahnhof hatte schon in den Zwanzigern nur ein Gleis für den Fernverkehr, näm­lich das einschlägige. Es geht auch damals schon »zum 10. Bahnsteig, wo hinter weißen Wolken frischen Dampfes die schwarzen, feuchten Wagen des München-Breslauer D Zuges lagen«.
 


Erzählen

Düsseldorf, 18. April 2012, 17:35 | von Luisa

Im Feuilleton der Samstags-FAZ hat Rainer Hank sehr schön erzählt, welche Erzählungen wirklich zählen und wie ein erfolgreicher Erzähler arbeitet. Der erfolgreiche Erzähler ist PR-Mann und schreibt keine Bücher, sondern Leute. Wirkliche Leute im wirklichen Leben. Ihr Erzähler erfindet, wer sie sind und wie das, was sie tun, zu verstehen ist. Wie alle Erzähler arbeitet er zwar mit Worten, aber am Subjekt, denn das Objektive existiert nicht, alles ist Deutung. Der Erzähler hat gute Arbeit geleistet, wenn seine Erfindungen konsistent sind und der Erfundene sie überzeugend vertritt.

Um dies zu erreichen, muss der Erzähler geheim bleiben. In der FAZ aber gab es nicht nur eine halbe Seite Text über den Geschichten­erfinder Alexander Geiser, sondern auch sein Foto. Das Foto steht farbig und nicht besonders groß auf der Website der Agentur, für die er arbeitet. Schwarz-weiß aufgeblasen auf eine halbe Zeitungsseite wirkt das Gesicht wie eine Maske. »Ihn gibt es nicht« steht darunter. Ziemlich gruselig.

Während ich noch auf das Foto starre, denke ich darüber nach, was für ein Erzähler der FAZ-Redakteur Hank ist. Er hat eine spannende Story erzählt. Er hat Geiser gezeigt, dass er auf Augenhöhe mit ihm ist. Für die Leser, die nicht so genau wissen, wie die Wirtschaft funktioniert, hat er das Entlarvungsspiel gespielt. Und im Einklang mit dem Foto hat er eine fabelhafte Roman- oder Serienfigur geschaffen, die ich gern ein bisschen lesend begleiten würde. Die Seite ist ein Gesamtkunstwerk, eindeutig. Hoffentlich to be continued.
 


Schiffsmeldungen

München, 14. April 2012, 10:10 | von Guest Star

(Gastbeitrag von cehaem)

Lange Zeit dachte man ja, die Zeitung sei dazu erfunden worden, Dinge aufzuschreiben, die irgendwo in der Welt vorgefallen sind. Mittlerweile wissen wir, dass es auch darum geht, über sich selbst zu berichten.

Ein (letztens beim Aufräumen wiederentdecktes) Schmuckstück in dieser Hinsicht ist die »Chronik 2011« der F.A.Z. vom 24. Dezember 2011, die das Jahr anhand ausgewählter Seite-eins-Abbildungen nacherzählt. Der Eintrag zum bzw. das Titelbild vom 9. Juni (in der »Chronik« auf Seite J8) zeigt, wie Angela Merkel der US-Außenmini­sterin Hillary Clinton eine eingerahmte Titelseite der F.A.Z. vom 15. April als Geschenk überreicht. Diese hatte mit einem Bild der zufällig synchron gespreizten Hände der beiden Politikerinnen aufgemacht, das bei Clintons Berlin-Besuch entstanden war.

Anders gesagt: Die F.A.Z. erinnerte am 24. Dezember daran, dass die F.A.Z. am 9. Juni darüber berichtet hatte, dass Frau Merkel am 8. Juni Frau Clinton gezeigt hatte, dass die F.A.Z. am 15. April darüber berichtet hatte, dass Frau Merkel und Frau Clinton am 14. April ihre Hände irgendwie merkelsch gehalten hatten.

Die Clinton-Merkel-Story scheint erst mal an ihr Ende gekommen zu sein. Am vorletzten Mittwoch, 4. April 2012, war auf Seite eins der F.A.Z. nun immerhin dies zu sehen: Schiffe. Genauer gesagt, drei Schiffsmodelle. Sie stammen aus dem Bestand eines gewissen »Berliner Sammlers Günter Bannas«, der sich mit einem gewissen »einfachen Abgeordneten Peer Steinbrück« getroffen hatte, um ausgiebig über Modellbau und Schifffahrt zu fachsimpeln, wie in derselben Ausgabe auf Seite neun in absolut fabelhafter Anlass­losigkeit nachzulesen ist.

Dass der Hauptstadtbüroleiter der F.A.Z. eine Leidenschaft für Schiffsmodelle besitzt, ebenso wie Herr Steinbrück – ein wunderbares Zusammentreffen, und vielleicht der Beginn einer neuen F.A.Z.-Telenovela? Denn Angelas Hände sind Peers Schiffe, und sollte letzterer erstere tatsächlich im Kanzleramt beerben, ahnen wir schon, mit welcher Ikonografie die Frankfurter Titelredaktion ihn von nun an regelmäßig bedenken wird. Wie auch anders: Das Schachbrett haben sich schließlich schon die Kollegen von der »Zeit« gesichert.