Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


Betriebsjubiläum:
Vor 30 Jahren begann die Feuilletonmanie von Rainald Goetz

St. Petersburg, 29. August 2011, 00:50 | von Paco

Er ist promovierter Historiker und Mediziner und arbeitet nun schon seit drei Jahrzehnten an einem ordentlich durchnummerierten literarischen Œuvre. Den größeren Teil seines erwachsenen Lebens dürfte Rainald Goetz aber mit etwas anderem zugebracht haben. Er dürfte irgendwo herumgesessen, herumgelegen oder herumgestanden haben mit einem aufgeschlagenen Feuilleton vor der Nase.

Teleologisch schien dieses Zeitungsleserleben auf den Auftritt in der Harald-Schmidt-Show am 8. April 2010 gerichtet zu sein, als Goetz vor einem Millionenpublikum triumphal die erste Seite des aktuellen FAZ-Feuilletons vorführte und auf sympathische Weise feierte und lob­preiste. Angefangen hat diese manische Auseinandersetzung mit dem Kulturressort der deutschsprachigen Zeitungen aber vor genau 30 Jahren. Damals erschien unter dem Titel »Reise durch das deutsche Feuilleton« einer der ersten Goetz-Texte überhaupt. Er fand sich in der von Hans Magnus Enzensberger und Gaston Salvatore gegrün­deten Zeitschrift »TransAtlantik«, in der Ausgabe vom August 1981.

Dieses einige Jahre später eingestellte Monatsmagazin wollte sich nach dem Vorbild des »New Yorker« auf große Reportagen speziali­sieren, entlang der von Enzensberger ausgegebenen Parole von der »Untersuchung der Wirklichkeit mit literarischen Mitteln«. Der 27-jährige Rainald Goetz ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht der ewige Suhrkamp-Autor, er ist noch erkennbar auf der Suche nach seiner Sprache und den vom Herausgeber angekündigten »literarischen Mitteln«.

Heiliger Bezirk

Der Münchner Medizinstudent, der gerade in der Psychiatrie arbeitet, nutzt für seine geplante Reportage drei Wochen Ferien, um einige der von ihm »bewunderten Herren des Feuilletons« aufzusuchen und persönlich kennenzulernen, als erklärter Fan. Als Zeitungsleser ist man ja sowieso auch erst satisfaktionsfähig, wenn einem die Namen der Journalisten mindestens genauso wichtig sind wie deren jeweilige Themen, wenn nicht wichtiger. Und so schnappt er sich seinen Kassettenrekorder und macht sich auf den Weg zu Wolfram Schütte (»Frankfurter Rundschau«), Wolfgang Ignée (»Stuttgarter Zeitung«), einem ungenannten »Spiegel«-Redakteur, Fritz J. Raddatz (»Die Zeit«), Marcel Reich-Ranicki (FAZ) sowie Joachim Kaiser (SZ).

Die kurzen Ausflüge führen ihn nach Frankfurt, Stuttgart, Hamburg und in den Münchner Norden. Berlin, heute unangefochten die Stadt mit dem höchsten Feuilletonistenaufkommen pro km², ist noch geteilt und weit ab vom Schuss, für ein Porträt des bundesrepublikanischen Kulturjournalismus entbehrlich. Das Feuilleton ist damals auch noch nicht zur diskursiven Allzweckwaffe umgebaut, und so begegnet Goetz vor allem Rezensenten alter Schule, inklusive »Großkritiker« und »Literaturpapst«. Seine Feuilletonhelden haben ihm mit ihren Kritiken vor allem eingeimpft, »dass die Literatur ein heiliger Bezirk ist«.

Und so klingt die Reportage ab und zu noch wunderbar gestelzt, Goetz redet von sich in der dritten Person und tritt stets als »der Besucher« auf. Als solcher lässt er sich von seinen Idolen des Kulturbetriebs begierig die Biografien heruntererzählen, denn eines scheint ihn vor allem zu interessieren: Wie wird man Feuilletonist? Als ihm Reich-Ranicki seinen Tagesablauf schildert, sinniert Goetz: »Von einer solchen Existenzweise, meint der Besucher, kann man nur träumen.«

Zweifel und Dissen

Dabei haben ihn die Besuche bei Schütte (»verquälte Selbstzweifel«) und Ignée (»forcierte Bescheidenheit«) sowie der Klatsch und Tratsch auf seiner ersten Buchmesse erst mal desillusioniert. Begeistert ist er über das Frankfurter Gelände gestapft und hat freudig Hellmuth Karasek und Reinhard Baumgart an sich vorüberhuschen sehen. Aber dann muss er erschrocken in einen Abgrund blicken: »Menschenver­achtung beherrscht diesen Betrieb, Neid, Verlogenheit, Größenwahn, Ungerechtigkeit, Anmaßung.« Erst Raddatz wird ihn wieder beruhigen. Das sei doch alles ganz normal. Und am Ende reden sie noch über stilvolle Selbstmorde und alles ist wieder gut.

Auch die Jovialität von Reich-Ranicki und Kaiser holen ihn zurück in die Welt seiner Feuilletonfantasien. Dabei hat er schon noch das Gefühl, abgefertigt zu werden. Kaiser scheint durch ihn hindurchzublicken, und von Reich-Ranicki muss er sich dessen Buch »Zur Literatur der DDR« signieren und schenken lassen. Aber Goetz will kritisch sein, wie man das eben sein muss, und stellt dabei gelungene Coming-of-Age-Fragen: »Aus welchem Impuls heraus schreiben Sie?« Und zwischen­durch wendet er ab und zu ordnungsgemäß die Kassetten im Rekorder.

So begann also vor 30 Jahren seine Tätigkeit im feuilletonverarbei­tenden Gewerbe. Die Manie ist schon da (wer sonst besucht freiwillig sechs Literaturredakteure?), aber noch will Goetz etwas angestrengt an allem zweifeln, um seine Begeisterung ansatzweise zu relativieren. Trotzdem schimmert hier schon die unbedingte Totalaffirmation des deutschsprachigen Feuilletons durch, die sich später etwa an den täglichen Eintragungen in »Abfall für alle« ablesen lässt, wenn er längst Zweifel durch Dissen ersetzt hat. Für den Autor Goetz ist die intensive Feuilletonlektüre nachgerade überlebensnotwendig geworden. Ohne sie würde er wahrscheinlich seine Bücher auch gar nicht mehr vollkriegen, hehe.


(Dass Goetz beim Bücherschreiben und nicht beim Feuilleton selbst gelandet ist, hat übrigens auch mit dieser frühen Reportage und einem kleinen Disput mit Enzensberger zu tun, siehe R. G., »Kronos«, Suhrkamp 1993, S. 259f.; dazu vielleicht später mehr.)
 


Der 19. August 2011 und die Stimme von Werner Herzog

St. Petersburg, 25. August 2011, 10:30 | von Paco

Werner Herzog, like James Earl Jones before him, could
read the phone book and bring down the house.

— The Guardian

»Was hast du am 11. September gemacht!« Das fragt schönerweise in Russland niemand. Das könnte hier auch kein Mensch mehr beantwor­ten. Stattdessen wird gefragt, gerade in den letzten Tagen: »Was hast du am 19. August gemacht!«

Für 1991, für den Tag des großen dilettantischen Putsches, weiß ich das nicht mehr, aber für 2011 schon noch. Der Freitag beginnt für mich damit, dass ich den aktuellen SPIEGEL zuende lese. Und neben der ganzen FAZ-Verherrlichung hier soll die SPIEGEL-Verherrlichung nicht zu kurz kommen. Was für ein Glück, jede Woche diese süffigen Storys dieses durch Enzensberger’sches Sperrfeuer gegangenen besten Magazins der Welt lesen zu dürfen. Zum Beispiel den bisher besten Verriss des neuen Woody-Allen-Mistfilms »Midnight in Paris«, geschrieben von Georg Diez.

Gerade als ich den SPIEGEL ausgelesen habe, klingelt es an der Wohnungstür. Ein junger Mann wirbt für die baldige Eröffnung eines Gemischtwarenladens »ganz in der Nähe« und möchte aus diesem Anlass ein deutsches Messerset (6.000 Rubel), irgendwelches Hydrogel (100 Rubel) sowie Medizinbälle verkaufen. Wie er die Kartons mit den schweren Bällen hier allein hochgetragen hat, ist mir schleierhaft. Ich zeige mich interessiert und frage, wie der Laden heißt und wo genau er eröffnen wird, aber diese Fragen dürfe er noch nicht beantworten.

Ich gehe dann wie eigentlich jeden Tag hinüber in die Nationalbiblio­thek, um ein bisschen andere Sachen zu lesen. Ich bin sehr eupho­risch, denn die dienstälteste Bibliothekarin im Lenin-Lesesaal hat bei der Buchherausgabe heute mal gelächelt, dezidiert gelächelt. Zur Mittagszeit bin ich zum Essen verabredet und mache mich auf den Weg zu einem georgischen Restaurant gleich hinter der Kasaner Kathedrale.

Anwesend ist zum Beispiel der Literaturkritiker einer russischen Wirtschaftszeitung (»immer 3.000 Zeichen pro Artikel«). Vor ihm steht ein Salzfass, das irgendwann mit lauter Plötzlichkeit umkippt und tot auf dem Tisch liegt. Alle haben erschrocken hingesehen, trotzdem vermute ich, während ich eine große Portion Plov verspeise, dass verschüttetes Salz vielleicht doch kein international anerkanntes schlechtes Omen ist. Vielleicht ist es ja in Russland wieder mal genau umgekehrt, keine Ahnung, aber siehe das Sprichwort »Что для русского хорошо, для немца смерть.« Denn der Literaturkritiker stellt das Fass wieder hin und wirft es dann absichtlich noch einmal um, und noch einmal und noch einmal. Alle sehen ihm immer weniger erschrocken dabei zu, und er kichert nur in sich hinein und murmelt Unverständliches.

Nach weiteren anderthalb Stunden oder so in der Bibliothek treffe ich an einem der Deschurnaja-Schalter einen Althebraisten, mit dem ich ins Gespräch komme, das wir auf dem teilweise identischen Nachhause­weg fortsetzen. Auf der Lomonossowbrücke trennen sich die Wege, aber wir bleiben dort noch ein paar Minuten stehen und erzählen weiter, und während dieser paar Minuten vergrößert sich unsere Unterhaltung um sechs bis acht Teilnehmer, allesamt Bekannte, die man auf der Lomonossowbrücke irgendwie ständig trifft (there is something about this place). Und dort wird auch für irgendein Festival geworben, das am Abend in der ›Taiga‹ stattfinde, so einem neuen Art Space am Newaufer, Nähe Eremitage.

Dort kreuze ich dann ein paar Stunden später auf und treffe als erstes den Franzosen wieder, der mich vor ein paar Tagen gefragt hatte, ob sie Raskolnikow am Ende noch drankriegen. Inzwischen habe er seine Lektüre von »Schuld und Sühne« beendet, und zwar zornig beendet, denn der Epilog sei ja wohl das Allerhinterletzte, völlig unnötig, schlecht geschrieben, wahrscheinlich gar nicht von Dostojewski selber. Ich pflichte ihm bei usw., und kurze Zeit später schon unterhalten wir uns aus mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen über die Kathedrale von Auxerre.

Dann wird zur Filmvorführung gerufen, es gibt Kurzfilme zu Umwelt­thematiken, also okay, als erstes einen Film namens »Plastic Bag«. Das Leben einer Plastiktüte wird nacherzählt, sie gelangt via Supermarkt in einen Haushalt, wird irgendwann weggeworfen und vom Wind durch alle möglichen Weltgegenden getragen, ohne zu sterben. Soweit die Botschaft dieses kurzen Films.

Was mich aber erst irritiert, dann sofort in den Bann schlägt, ist: die Stimme von Werner Herzog! Dieses ewige eindringliche Raunen, dieses sehr gewählte Vokabular, dieser Wille zu einem Englisch mit dezidiert deutsch-deutschem Akzent. Nach den letzten Wochen russischer Totalinvasion meines Hirns ganz unerwartet das. Die Stimme von Werner Herzog erinnert mich an eine Million Dinge gleichzeitig. Unter anderem daran, dass ich in Leipzig mal einen Werner-Herzog-Imitations-Wettbewerb gewonnen habe, mehr als drei Jahre ist das jetzt her.

Nach knapp 20 Minuten Filmdauer trete ich benommen wieder ans Licht und höre irgendjemanden über Petersburger Leitungswasser disku­tieren (siehe das Sprichwort von vorhin) und rede dann mit einem der Editoren der Werke Dmitrij Prigows über die genaue Anzahl der von ihm verfassten Gedichte, es waren ja zwischen 35.000 und 36.000, aber eine genaue Zahl würde hier natürlich weiterhelfen.

Kurz nach 23 Uhr höre ich jemanden in einer slowenisch-russisch-französischen Diskussionsrunde zum ersten Mal das Wort ›Foucault‹ aussprechen. Ich habe in den letzten Tagen damit begonnen, eine Liste zu führen, auf der ich für den jeweiligen Tag dessen Ersterwäh­nungsuhrzeit verzeichne. Hier die Übersicht mit den Erstnennungsuhr­zeiten des Namens ›Foucault‹ bis Freitag (Liste wird fortgesetzt):

Mo: 17:15 Uhr
Di: 21:36 Uhr
Mi: 15:50 Uhr
Do: (keine Erwähnung)
Fr: 23:03 Uhr

Etc. etc. etc. Ein paar Orte und Leute später finde ich mich in einer Wohnung am Zagorodny Prospekt wieder, wo ein paar Leute (ich nicht) zum Beispiel den Film »The Raspberry Reich« schauen und die ganze Zeit heftig lachen, während im selben Zimmer jemand am Klavier Beethoven spielt. Bei der Flucht in einen anderen Bereich der Wohnung bemerke ich im Flur zwei Medizinbälle sowie ein noch unausgepacktes Hydrogel.

Gegen acht Uhr morgens gehe ich kurz nach Hause in die Galerie, um ein paar alte Zeitungen zu holen, die mir eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts gestern überlassen hat, und mache mich dann sofort wieder auf den Weg zur Metro, denn ich habe beschlossen, der Einladung eines Opernsängers und seiner Frau auf ihre Datscha am Suvanto-See südlich der Mannerheim-Linie zu folgen.

Ich fahre bis Devyatkino, wo ich in die Elektritschka Richtung Norden umsteige. Ich setze mich zwischen lauter dösende Russen und schlage die Zeitung auf und entdecke sehr ungläubig Schirrmachers ein paar Tage vorher erschienenen FAS-Großtext »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«, den ich dann sehr angelegentlich lese.
 


»Der Louvre in 20 Minuten«

St. Petersburg, 22. August 2011, 14:18 | von Paco

Aus der Redaktion · Gerade eben ist als Nr. 105 der »Schöner Lesen«-Reihe des SuKuLTuR-Verlags dieser Band erschienen:

Der Louvre in 20 Minuten (Cover)
Der Louvre in 20 Minuten

Frank Fischer · Berlin · SuKuLTuR · 2011
20 Seiten · 1,– € · ISBN 978-3-941592-26-1
Veröffentlicht unter der CC by-nc-sa 3.0 DE

Bestellen: Verlag | Buchhandel.de

 
»Was in Frank Fischers neuestem Band über den Louvre gesagt wird, hat mich sehr nachdenklich gestimmt.«
— Christian Kracht

Inhalt

Denon-Flügel … Seite 3
Sully-Flügel … Seite 13
Richelieu-Flügel … Seite 15

Als sozusagen Vorwort eignet sich sehr gut der grandiose FAZ-Artikel von Julia Voss über die bevorstehende Leonardo-Ausstellung in der National Gallery in London: »4 Minuten, 17 Sekunden«.

Ach so, »Der Louvre in 20 Minuten« ist wie üblich auch in einigen Süßwarenautomaten in Berlin und auf Sylt zu haben sowie direkt und ohne Bestellung in Buchhandlungen in Leipzig (Lehmanns in der Grimmaischen Straße 10) und Berlin, siehe diese Übersicht.
 


Unterwegs mit der FAZ des 12. Juli 2011:
Das anerkennende Nicken des Milizionärs

St. Petersburg, 15. Juli 2011, 11:18 | von Paco

Es war also Dienstag, und am späten Vormittag traf ich mich an der Moskovskaja mit dem Galeriebesitzer. Er war gerade mit dem К-13 vom Flughafen gekommen und hatte mir wie versprochen die aktuelle FAZ mitgebracht. Ich berichtete dann noch, dass ich mich mehrfach an den Legobausteinen gestoßen hatte, die Jan Vormann in der Galerie verbaut hatte, und dass wir unbedingt einen WLAN-Router besorgen sollten, denn alle verfügbaren Netzwerkkabel waren als Wäscheleinen quer durch drei Zimmer gespannt.

Zusammen mit der FAZ fuhr ich dann tief hinab zur Metro. Den Aufmacher, einen Artikel von Frank Lübberding über Herbert Wehners Aktentasche (S. 35), las ich gleich in den fünf Minuten, die man mit der Rolltreppe bis nach unten braucht. Das Feuilleton war übrigens wieder mal randvoll mit Spitzentexten, es war wie immer ein guter Feuilleton-Dienstag gewesen, und atemlos las ich weiter.

Für den nächsten Tag wurde übrigens ein Beitrag zu 25 Jahren Historikerstreit angekündigt. Es gab dann ja am Mittwoch in den »Geisteswissenschaften« diesen Diss von Egon Flaig gegen Habermas, was ich am Dienstag aber noch nicht wusste. Ich dachte daher jedenfalls erst mal sofort wieder an das SPIEGEL-Interview mit dem »Bloodlands«-Autor Timothy Snyder (dt. »Blutgebiete«, übers. v. Charl. Roche), in dem er sagt:

»Ich ging damals in Ohio auf die Highschool, und der Historikerstreit war der Grund für mich, Deutsch zu lernen.« (aktuelle Ausgabe, S. 47)

Das ist mal ein schöner Grund! Heute wird ja nur noch wegen Rammstein und Tokio Hotel Deutsch gelernt. Und wegen der Einstürzenden Neubauten, die ausnahmslos jeder Russe kennt, und das obwohl kein einziger Russe den Bandnamen aussprechen kann.

Außerdem las ich noch die Besprechung von Robert Wilsons Vanitas-Abend über »Leben und Tod der Marina Abramovic« in Manchester (S. 37). Geschrieben hatte sie Gina Thomas, die momentan absolut verdient unsere unangefochtene Lieblingsfeuilletonistin ist.

Um die Mittagszeit saß ich dann eine Weile in der Nationalbibliothek am Ostrowski-Platz und las in ein paar Ausgaben der »Russkaja Starina« wilde Geschichten über das 18. Jahrhundert. Als ich davon genug hatte, kam ich erst mal nicht mehr hinaus aus der Nationalbibliothek, denn die Frau am »Дежурный«-Schalter wollte mir keinen Ausführ­stempel für mein mitgebrachtes Buch geben, eine uralte Grammatik aus den 60er-Jahren. »Bücher dürfen hier nicht mit hineingebracht werden, unter gar keinen Umständen!« Und nach einer Pause: »Es sind doch nun wirklich genug da!« Und dieses eine eingeschleuste (»oder nicht eingeschleuste!«) Buch sei jetzt ein groooßes Problem.

Sie schaute sich die Grammatik gründlicher an, als ich es jemals getan habe und tun werde, und war trotzdem noch nicht überzeugt. Es steht zwar mittelbar ein deutscher Name drin, aber nicht meiner (vielmehr diese Widmung: »Дорогому Вольфгангу Фогту / с неизменным уважением / М. Городникова. / 17. XII. 66«). Sie fragte mich, wer dieser Wolfgang Vogt sei und wer diese M. Gorodnikowa. Einige ausgedachte Geschichten und Beteuerungen später drückte sie endlich einen Stempel auf meinen Passierschein, gepaart mit den Worten: »Das ist jetzt das letzte Mal!« Unten ging ich dann mit dem Passier­schein am Milizionär vorbei, der anerkennend nickte wegen des Stempels, den ich gegen alle Wahrscheinlichkeiten erlangt hatte.

Erschöpft stand ich draußen auf dem Ostrowski-Platz und ging nach kurzer Besinnungspause Richtung Fontanka und überquerte sie in östlicher Richtung. Im Gehen las ich in der FAZ den Artikel von Wolfgang Burgdorf über eine mögliche Lösung zu Griechenlands Finanzproblemen (S. 37). Burgdorf ist ja der Wiederentdecker des großen Johann Nikolaus Becker (siehe Der Umblätterer vom 18. Novem­ber 2010), und auch in Sachen Griechenland geht sein Blick zurück ins Alte Reich, zu den kaiserlichen Debitkommissionen, die in überschul­dete Territorien entsendet wurden.

Während ich so las, rammte ich mitten auf der Rasjesschaja einen bärtigen Mann, der das T-Shirt eines Klezmer-Festivals trug. Genau, es war Psoi Korolenko (Foto hier). Er hatte ebenfalls im Gehen gelesen, nämlich seinen Blackberry. Ich gratulierte ihm, denn heute war nach orthodoxem Kalender Peter-und-Paul-Tag, und Pavel ist ja sein eigentlicher Vorname.

–Und, Konzert nachher?
–Ja eben, genau.
–Bis dann.
–Bis dann.

Erst mal ging ich aber zu einer Feier in den Дюны, wir saßen dort am aufgeschütteten Sandstrand, es gab sehr viel Kuchen usw., und der Herausgeber der führenden Petersburger Literaturzeitschrift erklärte mir sehr ausführlich, wie er alle Straßen in der Umgebung umbenennen würde. Ich hatte nämlich gewagt, die »Uliza Marata«, also die Jean-Paul-Marat-Straße, zum schönsten Straßennamen der Welt zu erklären, und dem widersprach er nun heftig. Dann erzählte noch jemand, dass da in der oberen Etage des Cafés angeblich der gesamte Übersetzungsverkehr zwischen Gazprom und dem Westen erledigt werde, aber eventuell habe ich ein paar Verben falsch verstanden, denn die Aufzählung der Straßennamen und Umbenennungsvorschläge hielt weiter an.

Mit ein paar Бочкарёв machten wir uns dann auf den Weg zum Ligowski-Prospekt, wo in einer WG das Konzert von Psoi Korolenko stattfinden würde. Ich saß zusammen mit 50 Leuten in einem vielleicht 30-qm-Zimmer, und Psoi slammte in sein Casio-Keyboard und sang und herrschte. Zwischendurch las er von seinem Blackberry die nächsten Titel ab und reagierte gekonnt auf Provokateure aus dem Publikum. Gegen Ende hin gab es natürlich auch seinen Smashhit über den Newski-Prospekt (»Все люди б…и, а мир большой бардак«, hehe).

Nach dem Konzert gab es Nudeln und eingelegten Fisch für alle. Ich unterhielt mich unter anderem mit einer Anthropologin von der Columbia, die heute auch versucht hatte, Bücher mit in die National­bibliothek hineinzunehmen. Etwas später traf ich eine weitere Anthropologin (es würde für diesen Tag die letzte bleiben), und wir sprachen eine Weile auf Deutsch über ihre weitläufigen Forschungs­projekte. Ich achtete wie immer in Russland darauf, das Wort »nachher« nicht zu verwenden, denn es klingt ja für Russen wie »на х…й!«, und ich möchte nicht, dass jemand das falsch versteht.

Plötzlich kündigte jemand an, dass die anwesenden Lyriker (es waren ca. fünf bis zehn) gleich ihre neuesten Gedichte vortragen würden. Es war bereits weit nach Mitternacht, die meisten der Gäste verabschiede­ten sich daraufhin. Ich wollte auch schnell weg, aber es stellte sich bald heraus, dass es gar keine Gedichtvorträge geben würde, ich musste die Ankündigung also für ein taktisches Manöver halten.

In den Morgenstunden gingen wir noch ein bisschen zur Fontanka und sprachen über irgendwelche Dinge und Sachen, und ich überlegte, wo ich jetzt am schnellsten die Mittwochs-FAZ herbekommen würde.
 


Leonardo malt wieder!

London, 11. Juli 2011, 02:03 | von Dique

Im »Kunstmarkt« der gestrigen FAZ hat Gina Thomas über die jüngsten Londoner Auktionen berichtet, ein sehr schöner Berichterstattungstext mit dem Tenor: »Es gibt einfach zu wenig superbe Alte Meister«. So war also gleich schon die Überschrift formuliert, und so ist es eben auch, das Angebot von hochwertigen Altmeistergemälden wird knapper und knapper. Und vom Preisniveau her sind diese im Vergleich zu zeitgenössischer Kunst auch absolut nicht konkurrenzfähig.

Aber gut, nach der Inspektion der wenigen Topstücke lenke ich meinen Blick in die zweite und dritte Reihe, und da gab es einige Perlen wie zum Beispiel diese Portraitskizze des Charles Binny von Thomas Lawrence.

Binny schaut aus der nur leicht angeschmeckten Leinwand heraus, das Gesicht schon fertig, der Oberkörper in einem Hauch angedeutet. Nicht dass ich wüsste, wer Charles Binny war – ok, es gibt da noch irgendwo ein Lawrence-Gemälde, das ihn mit seinen Töchtern zeigt –, aber darum geht es ja nicht, sondern um diesen Einblick in die Entstehungs­weise aufgrund nicht erfolgter Fertigstellung des Gemäldes.

Im Gegensatz zu den Klassikern der nicht zu Ende gemalten Prachtgemälde (z. B. Menzels »Friedrich« in der Alten Nationalgalerie, Michelangelos »Manchester Madonna« in der National Gallery oder Parmigianinos »Madonna mit dem langen Hals« in den Uffizien) interessiert so ein Akademiestück dann aber doch kaum jemanden und bringt nicht viel ein, es ging für billige 12.000 GBP weg.

Trotz der ganzen Klagelieder wurde bei Sotheby’s aber auch das zweitteuerste Altmeistergemälde ever verkauft, eine Guardi-Vedute, für 23,8 Mio. GBP. Das teuerste Altmeistergemälde bleibt, wie Gina Thomas in der FAZ schreibt, Rubens »Kindermord von Bethlehem«, aber vielleicht nicht mehr lange, denn, und das war das große Thema in der Halbwelt der diesjährigen Old Masters Week in London: Es gibt einen neuen Leonardo!

Immer wenn ich jemandem davon erzähle, führt das standardmäßig zu der Nachfrage, ob Leonardo denn wieder malen würde. Aber egal, es geht um einen »Salvator Mundi«, der früher noch als Kopie nach Giovanni Antonio Boltraffio verschrien war. Doch nun erklärt gleich eine Handvoll Experten dieses Gemälde für einen echten Leonardo. In der »Welt« hat Stefan Koldehoff alles momentan erreichbare Wissen darüber sehr schön zusammengefasst.

Das Stück gehört einer Gruppe von Händlern aus den USA und wird eventuell nicht unter 150 Mio. Dollar weggehen. Ob es dann wirklich echt ist oder nur ein weiteres Exempel für den modernen Zuschreibungswahn, ist dabei vorerst auch eigentlich egal. Es wäre nämlich einfach schön, wenn mal wieder ein Alter Meister den zweifelhaften Rekord des teuersten Kunstwerks halten würde und nicht ein deprimierendes Drip-Painting von Jackson Pollock oder der goldene Schrecken des großen Dekorateurs Gustav Klimt.
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (2/2011)

Rorschach, 15. Juni 2011, 12:17 | von Paco

Wolken.Heim

1. Der Umblätterer @ Deutschlandfunk, vorletzten Sonntag: Inter­view mit Burkhard Müller-Ullrich (auch via Flash und als MP3; die ganze Sendung ist hier). Thematischer Dreischritt: Chinaersatzverkehr, Medienaffirmation, Abenteuer Zeitungskauf.

2. »Manchmal gehört zu einem guten Feuilletonisten auch ein Stück Verantwortungslosigkeit.« (Thomas Steinfeld zu Alexander Kluge)

3. Die Serie zum 100-Seiten-Kanon ist angelaufen. Am Ende soll ein Kanon mit 100 Büchern à 100 Seiten stehen: a.) Einführung ins Projekt. b.) Übersicht über momentan 305 berühmte Hundertseiter (vielen Dank besonders an Thomas Reschke). c.) Interview mit einem 100-Seiten-Fanatiker.

4. Aha, das ganze Appenzell steht voller Trampoline.

5. »Wie, ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?« (Maria Gazzetti in der FAZ)

6. Der Tyndall-Effekt und die deutsche Romantik.

7. Und in diesem Zusammenhang: »MASSAKERMINIATUREN, Teil 5« (= 2011 Edition).

8. Fragile Falafel. 99 Lautgedichte von Günter Grass. Demnächst.

9. »Bis ihn ein fragwürdiger Auftrag selbst zum Gejagten macht.«

 
Was bisher geschah:
 
Vorwort Nr. 1/2011

 


Gaston Gallimard et la « traumdenfung »

Paris, 6. April 2011, 13:52 | von Niwoabyl

deutsch

(Zur deutschen Version dieses Berichts …)

Ce dimanche, nous sommes allés tôt le matin au Louvre. Nous nous rendions à l’exposition Messerschmidt, non point pour y contempler des débris d’avions à réaction, mais les « têtes de caractère » du célèbre sculpteur bavarois. On pourrait dire de cette petite cinquantaine de bustes qu’elle fut luxueusement sculptée dans toutes les règles de l’art, si les visages y étaient idéalisés ; mais ceux-ci s’y présentent comme défigurés par les grimaces les plus aberrantes.

Sur les raisons qui poussèrent Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783) à commettre cet acte unique dans les annales de la sculpture courent d’aventureuses théories, et ce n’est qu’après la mort de l’artiste que les bustes reçurent leurs bien arbitraires désignations. Aux rangs de celles-ci « l’homme constipé », « l’homme qui pleure comme un enfant » ou encore « le bassoniste incapable » sont sans doute les plus belles et les plus surprenantes.

Une bonne demi-heure plus tard, nous étions de retour dans le métro, en route pour la Bibliothèque Nationale où, ainsi que nous l’avions appris quelques jours auparavant par la Gazette de Francfort, se tenait une exposition en l’honneur de la maison Gallimard. Y étaient présentés entre autres choses : ouvert dans une vitrine, le manuscrit original des « Bienveillantes » de Jonathan Littell, porteur d’annotation d’une impeccable propreté ; et, accrochée sur l’une des cloisons, la lettre écrite le 11 juillet 1921 à Sigmund Freud par Gaston Gallimard, dans laquelle il le prie de bien vouloir donner son accord à la publication française de la « TRAUMDENFUNG » (« celui de vos ouvrages que vous estimez le plus important, n’est-ce pas »).

Ce titre fautif reçut trente ans plus tard sa juste récompense, dans la lettre de William Faulkner à Gaston Gallimard du 14 juin 1951. Le romancier américain y a comme une prescience du style bien particulier de Google Traduction : « Mon excuse [à l’envoi tardif de cette lettre] c’est seulment que j’etais engage completer un roman lequel sera digne, on espois sincerement, de la generosite de votre pardon. » (Rendue en allemand, cette phrase pourrait sonner à peu près ainsi : « Meine Entschuldigung ist bloss dass ich beschaftigt war einen Roman vervollstandigen welcher, man hofft aufrichtig, sich als wurdig erweisen wird der Grosszugigkeit ihres Verzeihens. »)

Ce ton joyeux et bon-enfant est celui de toute l’exposition, qui n’est pas bien grande ; on peut la traverser vite et sans effort, comme déjà Messerschmidt au Louvre. Puis nous sommes partis à la gare Saint-Lazare acheter la Sonntagszeitung, et ensuite au café Rosa Bonheur des Buttes-Chaumont, où nous avions rendez-vous. Et « en fait, c’est tout », comme l’écrivait Daniil Harms.
 


Die Traumdenfung

Paris, 5. April 2011, 09:19 | von Paco

französisch

(Version française de ce récit …)

Am frühen Sonntagnachmittag gingen wir in die Messerschmidt-Ausstellung im Louvre. Nein, dort werden keine Wrackteile von verrotteten Strahlflugzeugen ausgestellt, sondern die »Charakter­köpfe« des Franz Xaver Messerschmidt. Das sind ein paar Dutzend Büsten, hochherrlich nach allen Regeln der Kunst gestaltet, aber eben nicht mit idealisierten Gesichtszügen, sondern mit den absonderlich­sten Grimassierungen versehen.

Warum Messerschmidt (1736–1783) diese kunstgeschichtliche Einzel­tat begangen hat, darüber gibt es die abenteuerlichsten Theorien. Erst nach seinem Tod wurden die Büsten recht willkürlich mit Titeln ver­sehen, und neben »Ein mit Verstopfung Behafteter« sind wohl »Der kindisch Weinende« und »Der unfähige Fagottist« die schönsten und ausgedachtesten.

Nach einer guten halben Stunde waren wir wieder in der Métro und auf dem Weg Richtung Bibliothèque Nationale, zur Gallimard-Ausstellung, von der wir vor ein paar Tagen aus der FAZ erfahren hatten. Dort liegt zum Beispiel das vorbildlich korrigierte Manuskript von Littells »Wohl­gesinnten« aufgeschlagen in einer Vitrine, und es ist ein Brief zu sehen, den Gaston Gallimard am 11. Juli 1921 an Sigmund Freud geschrieben hat und in dem er darum bittet, die »TRAUMDENFUNG« eventuell publizieren zu dürfen (»celui de vos ouvrages que vous estimez le plus important, n’est-ce pas«).

Die sozusagen gerechte Strafe für diese Falschschreibung folgt gut 30 Jahre später in einem Brief von William Faulkner an Gallimard, 14. Juni 1951, der schon damals klingt wie mit Google Translate übersetzt: »Mon excuse [für das lange Ausbleiben des Briefs] c’est seulment que j’etais engage completer un roman lequel sera digne, on espois sincerement, de la generosite de votre pardon.« (Auf Deutsch würde das vielleicht so klingen: »Meine Entschuldigung ist bloss, dass ich beschaftigt war einen Roman vervollstandigen, welcher, man hofft aufrichtig, sich als wurdig erweisen wird der Grosszugigkeit ihres Verzeihens.«)

Und so herzallerliebst liest sich fast die gesamte Ausstellung weg, sie ist auch nicht allzu umfangreich, also gut und unangestrengt mitzuneh­men wie vorher der Messerschmidt im Louvre. Danach kauften wir noch irgendwo die FAS und trafen ein paar Leute im schönen »Rosa Bon­heur« im Parc des Buttes Chaumont. Und »das ist eigentlich alles«, wie es bei Daniil Charms heißt.

Soweit also mal wieder eine informelle sonntägliche Berichterstattung des k.u.k. Magazins Der Umblätterer (d. i. Kunst und Kultur).
 


Die Segantiniwolke —
Mit Werner Spies, Niklas Maak, Rafael Horzon und Hermann Hesse in der Fondation Beyeler

Basel, 10. März 2011, 12:44 | von Marcuccio

Ein Praktikum in Riehen bei Basel, das wär’s. Dort den Telefonisten machen, nur um den ganzen Tag so schön ›Fondation Beyeler‹ zu sagen, wie es jetzt im Tram Nr. 6 zu hören ist. Nächste Haltestelle: Fohdasjo Bejeler.

Was ein Ansturm! Rentner, Japaner, alleinerziehende Mütter, sie alle wollen »seine Berge« sehen, um mal ein bekanntes Segantini-Wort aufzugreifen (»voglio vedere le mie montagne«).

Segantini, der große Alpenmaler. War Segantini früher »peinlich« (NZZ am Sonntag), ist er heute Divisionismus-Avantgarde, wenn nicht gar »der van Gogh der Hochalpen« (Werner Spies in der FAS). Auch deswegen versteht sich die Ausstellung als eine Art kunsthistorische Reha-Maßnahme. Rehabilitierung, weil Segantini um 1900 schon mal europaweit gefeiert, danach aber einige Jahrzehnte in der Heimat- und Kitschecke verschwunden war. Soweit das Storytelling der Fondation Beyeler.

Die Vorher-Nachher-Show

Und das Feuilleton feiert mit, die besten Sätze zur *Segantini-Wert­schätzung alt* gab’s von Niklas Maak:

»Ganz böse Kommentatoren behaupteten, Segantini sei Kunst für Russen, die sich in St. Moritz das Bein gebrochen haben und deswegen nicht auf die Piste können – in Sankt Moritz gibt es ein Segantini-Museum, und vor diesem kleinen Museum sieht man tatsächlich öfter einmal die Ferraris und Maseratis und anderen Höllengefährte der russischen und anderen Wintersportgäste parken.«

Von Boris-Becker-Hochzeiten in diesem Museum ganz zu schweigen. Aber eben: Schluss mit bloßer Segantini-Deko! Her mit den Kunst­verständigen. Noch einmal Maak:

»Segantinis Kunst ist, wenn man genau hinschaut, wie eine Fahrt im Bugatti: Die Landschaften beginnen zu flimmern, die Formen lösen sich pointillistisch auf und werden gleichzeitig surreal klar – es ist, als ob klare Bergluft durch die Seitenscheiben dieser Bilder ströme.«

Und apropos Seitenscheibe. Rafael Horzon macht an einer Stelle seines »WEISSEN BUCHS« ja diese Autotour: »Unser Ziel: Basel.« (S. 132f.) »Gerührt«, hehe, summt er unterwegs die letzten beiden Drittel dieses Lieds von der Wolke – die weiße Wolke ist die »Segantiniwolke« aus Hermann Hesses »Peter Camenzind«:

Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So weiß und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.

Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie in dunkler Nacht.

Geht und erglänzt so silbern,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.

Voraus geht die Szene, in der sich Camenzind an Elisabeths Besuch in der Basler Kunsthalle erinnert (heute würde es die Fondation Beyeler sein):

»Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen, lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte, ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen.«

Sie schaut sich also dieses Segantini-Bild mit der besonderen Wolke an. Und Camenzind schaut ihr dabei zu:

»Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen hingegeben. (…) Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne, von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.«

Auch wir versuchten uns in Saal 9 eine Weile im Segantiniwolken­verstehen (siehe auch NZZ von 2004), bevor wir dann irgendwann, genau wie Camenzind, »schnell und leise« das Segantiniwolken­kuckucksheim verließen.
 


Die Wurzelbürste in der deutschen Literatur

Berlin, 25. Februar 2011, 08:05 | von Josik

Ich beschäftige mich ja gerade mit der Wurzelbürste in der deutschen Literatur, da kam mir ein Text sehr zupass, den ich letzten Samstag in der FAZ gelesen habe. Und zwar durfte Berthold Kohler, einer der FAZ-Herausgeber, als einziger Journalist überhaupt Guttenberg auf seiner Reise nach Afghanistan begleiten.

Warum Kohlers literarisch hochambitionierter Text- und Bild-Essay allerdings im Politikteil statt im Feuilleton erschienen ist, wo er eigent­lich hingehört hätte, lässt sich nur damit erklären, dass sich dort gerade Thilo Sarrazin und Patrick Bahners ausgiebigst beharkten.

Aber zurück zu Kohler: Seinen Essay lässt er in einem dem Topseller des 19. Jahrhunderts nachempfundenen Tonfall beginnen, den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« seines Vornamensvetters Auerbach:

»Ein Bauer pflügt mit einem Ochsengespann sein Feld, Meter um Meter, Furche um Furche. Ein Mopedfahrer knattert mit flatterndem Gewand vorbei. Von Osten her tippelt eine Gruppe verschleierter Frauen heran. In der Luft liegt ein Hauch von Frühling. Wo, bitte, ist hier der Krieg? (…) Der Krieg hat nur pausiert im Winter, um Luft zu holen für das Frühjahr und den Sommer. Auf den staubigen Hügeln zeigt sich schon ein erster Schimmer von Grün.«

Doch dann kommt die fulminante Volte: »15 Mann in einer schwer befestigten Stellung, die an Ernst Jüngers Beschreibungen der Gräben und Unterstände im Ersten Weltkrieg erinnert, (verteidigen) Deutsch­land am Hindukusch (…), wo Guttenberg am Donnerstag noch die Hühnerzucht eines weiblichen Oberfeldwebels besichtigte«!

Hier gelingt Kohler sozusagen die Legierung des frühen 20. Jahrhun­derts mit dem frühen 21. Jahrhundert, also mit dem berühmten Deutschland-muss-am-Hindukusch-verteidigt-werden-Spruch des Alt-68ers und Guttenberg-Vorvorgängers Peter Struck, der wie der unbekannte Afghane bekennender Mopedfahrer ist und wie Gutten­berg in Jura promoviert hat, allerdings über ein viel stylisheres Thema: »Jugenddelinquenz und Alkohol. Ein Beitrag zur Persönlichkeit des Alkoholtäters. Vergleichende kriminologische Untersuchung an 436 jugendlichen und heranwachsenden Hamburger Straftätern der Jahre 1968 und 1969«.

Schon bei Ernst Jünger geistert ja der Alkohol durch die Seiten, dass es dem Fass den Boden ausschlägt: »Reichlich verteilt wurde ein blass­roter Schnaps, der in Kochgeschirrdeckeln empfangen wurde und stark nach Spiritus schmeckte, doch bei der kalten und feuchten Witterung nicht zu verachten war.« (Seite 15) »Wir aßen kräftig und ließen die Flasche mit ›Achtundneunzigprozentigem‹ rundgehen.« (Seite 188) Usw.

Ziemlich überraschend stellt Kohler dann aber einen weiteren inter­textuellen Bezug her: »Ein großes rotes Licht, das über der Festung regelmäßig in der Finsternis aufflammt, verwischt weiter die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Taliban-Country und Tolkien

Da Kohler der einzige Medienvertreter überhaupt war, der Guttenberg begleiten durfte, scheint er auch keinen Fotografen dabeigehabt zu haben (die Bilder sind alle »© Berthold Kohler, F.A.Z.«). So ist Kohler selbst offenbar auch nirgends mit abgebildet, aber immerhin kann man auf einem der Bilder erkennen, dass der dritte von rechts, der im Tropentarn mit dem Rücken zum Betrachter steht, den ersten von links fotografiert, der wiederum den Fotografen fotografiert, so dass die ganze Versuchsanordnung wirkt, als habe der Fotograf, also vermutlich Berthold Kohler, mal eine von Thomas Kapielski im Buch »Sozial­manierismus« beschriebene Versuchsanordnung imitieren wollen:

»ich fotografierte (…) einen Menschen, der fotografiert. (…) Mehr noch: ich stehe in einem Ring der apostolischen Sukzession von Fotografen die Fotografen fotografieren, denn ich fotografierte den hier abgebildeten Fotografen, während dieser seinerseits einen Fotografen fotografierte, der wiederum (…) mich fotografierte! Die Mindestzahl an Teilnehmern bei einer solchen Kreisesbildung ist Drei, nach oben aber offen bis unendlich, sofern unendlich viele Fotografen vorhanden wären, was unwahrscheinlich, aber denkbar ist. (…) So fotografiert in der sukzessiven Reihe also jeder Fotograf einen Fotografen, der beim Fotografieren eines Fotografen nicht bemerkt, dass er seinerseits von einem Fotografen fotografiert wird«. (Seite 169f.)

Nach Jünger, Tolkien und Kapielski kommt die beste literarische Anspielung freilich erst zum Schluss des Essays, als Guttenberg schon wieder nach Deutschland zurückgeflogen ist: »Er hat, als er ins Kanzleramt eilt, noch die Montur an, die er im Feldlager trug. Der Schlamm Afghanistans, der an den Stiefeln hängt, ist zäh, aber einer deutschen Wurzelbürste nicht gewachsen

Der mit Wurzelbürstenborsten hantierende Guttenberg’sche Stiefel­putzer, der hier vor dem geistigen Auge aufscheint, erinnert an jenen berühmten Ich-Erzähler, der (auf Seite 41) sagt:

»ich weiß noch, dass mir damals in der Kasematte von Breendonk ein ekelhafter Schmierseifengeruch in die Nase stieg, dass dieser Geruch sich, an einer irren Stelle in meinem Kopf, mit dem mir immer zuwider gewesenen und vom Vater mit Vorliebe gebrauchten Wort ›Wurzelbürste‹ verband«.

Wenn in Zukunft von der Wurzelbürste in der deutschsprachigen Literatur die Rede ist, müssen neben dem Grimm’schen Wörterbuch und W. G. Sebald auch Berthold Kohler und Karl-Theodor zu Guttenberg erwähnt werden.