Archiv des Themenkreises ›F-Zeitung‹


Verrat an Ernst Jünger?

Leipzig, 3. Dezember 2010, 00:32 | von Paco

Ein Herbstinterview mit Tobias Wimbauer. Über die Jünger-Forschung und Twitter, über Aliens in Sachsen-Anhalt, über Bio­kost und die Popliteratur, und über Anrufe von Rolf Hochhuth

Vor einem Jahr haben wir versucht, das Phänomen Wimbauer zu beschreiben. »Wie aus dem aufsteigenden Ernst-Jünger-Forscher ein twitternder Biokoch wurde«, behaupteten wir, »das ist eine der schärfsten Volten der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte.« Und vor drei Wochen, am 13. November, haben wir ihn nun mal besucht, auf dem Waldhof Tiefendorf in Hagen-Berchum.

Trotz neuestem Update des Kartenmaterials versagt das Navi schon früh. Wir haben aber die obligatorische Wegbeschreibung dabei, die Wimbauer jedem schickt, von dem er auch tatsächlich besucht werden will. Sie hat exakt so viele Zeilen wie ein Sonett und schwankt stilistisch zwischen Gebrauchstext und Barocklyrik.

Irgendwann sind wir da. Wir werden begrüßt und mit den 90.000 hier gehorteten Büchern bekannt gemacht. Auch Silvia Stolz-Wimbauer ist da, und sofort beginnt ein Gespräch, das vom »Frühstück«, der ersten Mahlzeit des Tages um 13 Uhr, bis zum Nachtessen dauern wird. Auf der Anrichte liegen die WAZ, die SZ und obenauf die FAZ. Und da fangen wir doch gleich mal damit an.

Jünger-Forschung in Demeter-Schürze

Der Umblätterer: Tobias, nach der exklusiven Vorabrezension der FAZ zu deinem »Burgunderszenen«-Aufsatz und nach deinem Artikel in derselben Zeitung zum Celan-Brief an Jünger dachten wir alle, du würdest der neue investigative Hausautor der »Zeitung für Deutschland«, inklusive jährlichen Interviews zur Lage der Nation. Inzwischen scheinst du vor allem damit beschäftigt zu sein, deinen täglichen Biospeiseplan zu vertwittern. Ist das schriftstellerische Glückseligkeit?

Wimbauer: Alles was in der FAZ von mir kam, hatte ich denen angeboten und es wurde ausnahmslos gedruckt. Aber ich wurde nie ernsthaft nach mehr gefragt. Oder höchstens so verklausuliert, dass ich das nicht gemerkt habe. Aber es war dann auch die Zeit der Feuilletonistik vorbei, das Antiquariat nahm mich mehr und mehr in Beschlag und für Rezensionen und dergleichen blieb kaum Luft.

Der Vergleich mit meinem Abendessentwittern hinkt, denn kochen und essen tu’ ich sowieso. Davon ein Foto mit einem Zweizeiler hochzuladen ist eine Sache von ein paar Sekunden. So fix war meine Artikelproduktion nicht. Schriftstellerische Glückseligkeit stelle ich mir anders vor. Aber wenn Glückseligkeit ist, dass das Leben stimmig sei. Dann ja. Es war zuvor nie so richtig wie in den letzten Jahren. Aber das hat weder mit Essenspics oder der FAZ zu tun.

Der Umblätterer: Einen Scoop gab es ja noch. 2008 folgte, wiederum in der FAZ, die Aufdeckung der »Gärten und Straßen«-Varianten. Jünger hatte eine Version seines Tagebuchs für die Zensur präpariert. Was kommt von dir als Nächstes in Sachen Jünger-Forschung?

Wimbauer: Solche Treffer lassen sich ja nicht unbedingt planen. So etwas wie die »Burgunderszene« entsteht aus einem Aha-Moment heraus, für anderes ist die Zeit einfach richtig. Den Celan-Brief hatte ich schon seit ’97 oder ’98 in der Schublade und hatte ihn ja auch schon in Artikeln zitiert. Dass das dann in der FAZ diskussionsträchtig wurde und auch noch ein – gleichwohl recht schwaches – Buch als Gegenreaktion zeitigte, war freilich nicht abzusehen.

Ähnlich dann bei den »Gärten und Straßen«-Varianten. Ich wüsste noch das ein und andere, das sich gut verpacken und verkaufen ließe, aber im Moment ist mir nicht danach, und zum Teil braucht es noch Zeit, bis es gut durchgegoren und servierfertig ist. Jüngerianisch kommen von mir in nächster Zeit also allenfalls bibliophile Ephemera im Blog, Notizen zu Einbandvarianten und andere Quisquilien. Aber wenn mich etwas anspringt, kann es schon sein, dass ich mal wieder eine Nacht durcharbeite und anderntags einen Artikel fertig habe.

Bilderstrecke

Der Umblätterer: Wie du auf Jünger kamst, hast du ja schon mehrfach geschildert: Ein von Horst Janssen gemaltes Jünger-Porträt hat dich in der Freiburger Buchhandlung zum Wetzstein für sich eingenommen, dann hast du irgendwann das »Tigerlilien«-Stück in der 1938er Fassung des »Abenteuerlichen Herzens« gelesen und peng! Von Haus aus bist du ja aber eher anthroposophisch geprägt, dein Vater ist der einschlägige Autor Herbert Wimbauer. Wie ging das zusammen?

Wimbauer: Ja, ich komme aus einer durchanthroposophisierten Familie. Allerdings mütterlicherseits. Drei Generationen Waldorflehrer, Demeter-Berater, Biodyn-Bauern, Eurythmusen, Beuys-Kumpels. Väterlicherseits ist es nur mein Vater selbst, der einen ziemlichen Stapel anthroposophischer Bücher verfasst und unzählige Vorträge gehalten hat, der allerdings als Autor verstummt ist.

Jünger passt da ganz vortrefflich. Allein sein Blick auf das Wohlgeordnete in der Welt (Jünger nannte das ungefähr: die Einheit im Mannigfaltigen erkennen), das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte, sei es körperlich (eben nicht der Körper als Maschine, vom Geist getrennt), die Anschauung der Natur und Mitwelt, da sind sich Jünger und die Anthroposophen sehr nahe. Das unter den Anthros bekannteste Jünger-Buch ist übrigens »Lob der Vokale«. Der lautmagische Zugriff passt.

Der Umblätterer: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet insgesamt 23 Publikationen deines Vaters. Die erste ist im einschlägigen Verlag Die Kommenden erschienen, die restlichen im Selbstverlag. Hast du die alle gelesen?

Wimbauer: Nein. Ich habe einzelne gelesen, aber nicht alle. Das hängt damit zusammen, dass ich früher dachte, dass ich sie ohnehin nicht verstehen würde, oder dass mich die Themen zwischenzeitlich nicht interessierten. Und mittlerweile bräuchte ich mehr Distanz, um sie lesen zu können. Außerdem habe ich heute einen eher praktischen Zugang zur Anthroposophie, während er bei meinem Vater rein theoretisch war, ohne praktische Konsequenz für sein Leben. Es sind übrigens mehr Bücher erschienen, als die DNB verzeichnet. Er hat von einigen offensichtlich keine Pflichtexemplare eingereicht.

Wimbauer hat übrigens tatsächlich eine grüne Demeter-Schürze angelegt. Inzwischen serviert er einen Schoko-Marzipan-Kuchen. Und in Abständen hagelt es immer mal wieder indoktrinierende Biofood-Reden. In der Küche hängen Lithografien und Radierungen von Kubin. Auch eine Lithografie von Arno Breker: »Da oben, die hässliche da!«

»Der Waldgegner«

Der Umblätterer: Thomas-Mann-Experten sehen meist auch aus wie Thomas-Mann-Experten. Walter-Benjamin-Forscher sind irgendwann Walter Benjamin. Von einem Ernst-Jünger-Forscher würde man eigentlich erwarten, dass er außer dem »Stahlgewitter«-Autor höchstens noch Gómez Dávila liest und Computer und vor allem Ad-hoc-Medien wie Twitter meidet. Wo ist der Zusammenhang zwischen deinen Verdiensten im EJ-Umfeld und dieser pausenlosen Twitterei? Auf deiner Ersthomepage waldgaenger.de (ein Kommentator nannte sie ja mal »blindgaenger.de«) hast du dich über Jahre vor allem deiner akribisch geführten Bibliografie gewidmet. Diese Textarbeit ist jetzt in alle möglichen Social-Media-Kanäle diffundiert. Eigentlich ja das Gegenteil des Jünger’schen »Waldgangs«.

Wimbauer: Jünger hatte am Internet Freude. Sein letzter Sekretär, Georg Knapp, hat ihm bei sich zu Hause das Netz gezeigt, und Jünger googelte (oder altavistate, oder was man ’96/’97 so machte, da gab es Google ja noch nicht) sich selbst und war kindlich vergnügt an all dem, was er von und über sich sah. Twitter ist das Echolot der Gegenwart, der verehrte Walter Kempowski hätte seine wahre Freude daran gehabt, die ungefilterte Gleichzeitigkeit vom twitternden Afghanistansoldaten bis hin zur Familienfeier in Kleinsonstwasnochhausen. Übrigens, »blindgaenger.de« ist mir neu, wer sagte das denn?

Der Umblätterer: Das haben wir vor geschätzten zehn Jahren mal in deinem Gästebuch gelesen und als in weiten Teilen berechtigt angesehen, hehe.

Wimbauer: Ich hatte mal eine ernsthaft empörte Mail von einem Kunden: Sich »Waldgegner« zu nennen, sei doch unerhört!

Ernst Jünger beim Heckeschneiden

Der Umblätterer: Du zitierst in deinen Texten und Äußerungen häufiger aus deinem Tagebuch. Inzwischen hast du diese täglichen Aufzeichnungen eingestellt. Wann hast du eigentlich damit angefangen und wann und warum damit aufgehört?

Wimbauer: Ich habe mit 18 oder 19 die Tagebücher der Jahre davor gelesen und verbrannt, und das war gut so. Ich habe dann ab dem Monat, in dem ich zur Bundeswehr kam, konstant Tagebuch geführt. Das verebbte erst so 2007, als ich nur noch sporadisch Zeit dafür hatte, weil mich das Antiquariat so in Beschlag nahm. Danach kommen nur noch statistische Notizen.

Der Umblätterer: »Statistische Notizen«? Was soll das sein?

Wimbauer: Stimmt, das klingt jetzt wie ein Werk aus dem OULIPO-Umfeld, ist aber ganz unliterarisch gemeint: Umsatz, Bestandszahlen, Sportzeiten und Gewicht.

Der Umblätterer: Haben Twitter und Facebook, haben deine verschiedenen Blogs das Tagebuch komplett ersetzt? Stilistisch ist das ja ein himmelweiter Unterschied.

Wimbauer: Twitter und Facebook sind kein Tagebuchersatz. Das sind zwei Kommunikationsplattformen für uns, auf denen wir mit Freunden, Lesern und Kunden in Kontakt bleiben. Und wieso reibt ihr euch so an meiner Twitterei, ich hab doch weitaus schlimmere Sachen gemacht.

Der Umblätterer: Richtig! Auf YouTube hüpfst du zu Wagnerklängen mit dem Spaten durch den Rosengarten oder mit dem Kochlöffel in die Küche. Ist das einfach ein »I don’t care« deinerseits, eine Aufforderung zum Fremdschämen?

Wimbauer: Haha. Beides. Vielleicht ein »Fuck you« in Richtung einer bestimmten Erwartungshaltung. Fremdschämen, ja mei, das Rosenhüpfvideo ist schon dämlich, haha. Beides ist eigentlich eine Spätfolge des »Jünger beim Heckeschneiden«-Videos.

Der Umblätterer: Du hattest da euern ehemaligen Nachbarn beim Heckeschneiden gefilmt, und der sah dann am Bildschirm genau wie Jünger aus.

Wimbauer: Das Ganze habe ich dann mit Fragezeichen versehen ins Netz gestellt: »Ernst Jünger beim Heckeschneiden?« Und rasch kamen Mails von zum Teil prominenten Jünger-Spezialisten, dass das ja gar nicht Jünger sein könne, weil es in Wilflingen an der Oberförsterei ja gar keine Rotbuchenhecke gebe. Als ich dann aufklärte, dass das ein Jux war, löste das Heiterkeit aus. So verbissen gehe man an so etwas ran. Als ob es von irgendeiner Relevanz wäre, ein Video zu kennen, in dem Jünger 20 Sekunden lang eine Hecke schneidet.

Aliens in Sachsen-Anhalt

Der Umblätterer: In der SZ hat Marc Felix Serrao neulich berichtet, dass im Zuge der Sarrazin-Debatte ein kleines Heft des neurechten Instituts für Staatspolitik zum Amazon-Bestseller geworden ist. Du hast ja ein paar Monate als Vorstandsmitglied am Institut verbracht, auf einem alten Rittergut in Schnellroda. In der ersten Nacht auf dem Rittergut hast du von Aliens geträumt, die aus Kühlschrankeiern schlüpfen, wie du in deinem Band »Lagebericht« berichtest.

Wimbauer: Dieser Traum ging noch weiter. Die Aliens hatten nämlich prächtige Vaginas im Gesicht.

Der Umblätterer: Was wäre eigentlich, wenn du heute immer noch beim Institut für Staatspolitik wärst?

Wimbauer: Wenn ich heute noch beim IfS wäre? Ich hätte mich auf der Querfurter Platte schon totgesoffen. Vielleicht, keine Ahnung. Es hätte mir jedenfalls nicht gut getan.

Der Umblätterer: Warum bist du eigentlich ursprünglich da hingegangen?

Wimbauer: Da muss ich ein bisschen ausholen. Wir hatten das IfS gerade gegründet, mit dem Arbeitstitel »Reemtsma-Institut von rechts«, die von mir benachwortete Ausgabe von Mohlers Jünger-Buch »Die Schleife« war eben bei Antaios erschienen, soweit also die äußere Lage.

In Freiburg war ich völlig im Eimer. Die Universität machte mich halb irre, es ist nicht so angenehm, in Riesenvorlesungen zu sitzen und seinen Soziophobien nachzuhängen. Da gab’s von mir mehr Vermeidungsstrategien als Stundenplan. Ich konnte damals nicht damit umgehen und habe in der Regel destruktiv reagiert, und es war ein Nullpunkt erreicht gewesen. Ich musste mir auch eine neue Wohnung suchen, und das ist in Freiburg eine teure Sache.

Das Studium zu schmeißen, war rasch entschieden (und damit ging es mir richtig gut). Ich hatte mich dann in Berlin bei der »Jungen Freiheit« als Redakteur beworben und gleichzeitig mit Götz Kubitschek über eine Perspektive in Verlag und Institut gesprochen. Er redete mir die JF aus, und so zog ich nach Schnellroda.

Der Umblätterer: Wieso bist du dann recht schnell wieder da weg?

Wimbauer: Aus unterschiedlichen Gründen. Es war zunächst mal schwierig, aus einer, sagen wir mal: Freundschaft auf Augenhöhe in ein Arbeitsverhältnis zu treten. Und als sich dann irgendwann die Frage stellte, ob Silvia ihre Arbeit in Hagen aufgeben und nach Schnellroda ziehen soll, wo, freundlich formuliert: der Arbeitsmarkt überschaubar ist, oder ob ich nach Westfalen zu ihr ziehe, war das rasch entschieden.

Der Umblätterer: Was hast du damals erwartet beim Umzug nach Sachsen-Anhalt?

Wimbauer: Erst mal weg von Freiburg. Ich hab das vor anderthalb Jahren im Blog mal formuliert: »Auf der Suche nach ein/zwei Daten in alten Tagebüchern festgelesen, die Bände 1998 bis 2001 quergeblättert. Das Gesuchte nicht gefunden, viel aber wiedererkannt und mit einem Frösteln fremd gefunden. Diese merkwürdigen Freiburger Zustände, die vielen Fragezeichen, das Blindtasten, die Unruhe. So sehr mein Herz an Freiburg hing, so froh war ich, als ich die Kisten packte und mit einem gemieteten klapperigen LKW mit all den Büchern und Habseln aufbrach.« Die Frage nach der Erwartung muss ich also mit einer Richtung beantworten: nicht zu etwas hin, sondern von etwas weg.

»Sein altes Vorurteil gegen Schiller«

Der Umblätterer: Gunther Nickel hat ja seine Besprechung der Neuausgabe des »Personenregisters« verbunden mit dem Vorwurf »erheblicher Wissensdefizite« und dem Ratschlag: »Vielleicht (…) hätte er sein Studium doch besser beenden sollen.«

Wimbauer: Ja, haha.

Der Umblätterer: Du hast dann in Wuppertal einen zweiten Anlauf genommen und eine Weile weiterstudiert, was denn genau?

Wimbauer: Neuere deutsche Literaturwissenschaften, Sprachwissenschaften des Deutschen und Soziologie.

Der Umblätterer: Allerdings wieder nicht bis zum Abschluss. Statt jetzt aber mit einer Suggestivfrage zu kommen: Was fandest du am nicht beendeten Studium richtig gut?

Wimbauer: Das Studium war mir kein Bedürfnis. Ich dachte nur: Wenn ich schon Silvia auf der Tasche liege, kann ich wenigstens einen Doktor machen. Was ich da richtig gut fand? es gab in den Seminaren von Rüdiger Zymner richtig gute Diskussionen, etwa zu Paul Celan. Ich habe bei Klaus Lichtblau und Martin Endreß einige Texte kennen gelernt, die mir nach wie vor welterklärend wichtig sind. Und ich habe mein altes Vorurteil gegen Schiller überwunden, der war mir von der Schule versaut worden, und da las ich alle Dramen wieder – und fand die ziemlich gut.

Der Umblätterer: »Dort überwand er sein altes Vorurteil gegen Schiller«, gute Güte, ein Satz wie aus einer ZDF-Doku.

Wimbauer: Richtig, darunter mach ich’s ja nicht. Übrigens, zur zitierten Besprechung von literaturkritik.de muss ich noch was Lustiges anmerken. Anfangs wurden die Bücher, an denen ich irgendwie mitgewirkt habe, auf literaturkritik.de lückenlos besprochen, zum Teil sehr positiv. Als ich später nicht mehr für die »Junge Freiheit« und ähnliche Organe arbeitete, habe ich dann selbst auf literaturkritik.de publiziert, aber nachdem ich mich in einem Interview von meiner politischen Vergangenheit distanziert hatte und klarstellte, dass ich heute kein Rechter mehr bin, gab es plötzlich auf literaturkritik.de einen Rezensionsstopp.

Der Umblätterer: Kann es nicht sein, dass die das abgelehnt haben, weil du inzwischen selbst Autor bei denen warst?

Wimbauer: Na ja, der »Lagebericht« und die Neuausgaben meiner Jünger-Bücher wurden gegenüber den Rezensenten mit genau dem lustigen Argument abgelehnt, dass ich ja mal Autor der »Jungen Freiheit« war.

Der Umblätterer: Die Gründe für deine frühere Laufbahn hast du ja letztes Jahr im sogenannten »Samenstau-Interview« beschrieben: »Es wäre albern, wenn ich leugnete, dass ich eine Rechtskurve hingelegt habe damals, aber es wäre ebenso albern, das heute noch richtig zu finden. Mit Anfang zwanzig ist die Mischung aus Größenwahn, Samenstau und grandios überzogenem Konto ein politischer Beschleuniger, und mit Anfang zwanzig ist wohl jeder irgendwie radikal, oder nicht?« – Das Ganze findet sich auch umfassend abgebildet in dem Wikipedia-Eintrag über dich. Übrigens ist der Künstler Erik Niedling ein Bewunderer dieses Artikels, wie er uns neulich sagte. Und zwar deshalb, weil man merke, dass du ihn nicht selber geschrieben hast.

Wimbauer: Am Interessantesten ist aber die Diskussionsseite, deren Länge die des eigentlichen Artikels um ein Vielfaches übertrifft.

Wimbauer und die Popliteratur

Der Umblätterer: Dort wird vom Benutzer »Hoch auf einem Baum«, einem Wikipedia-Urgestein, schon sehr früh verwundert festgestellt, dass du eine »gewisse Ader« für Popkultur hast, für Max Goldt und Houellebecq-Gedichte zum Beispiel. Das allgemeine Staunen setzte sich dann fort, als 2008 deine Erzählung »Lagebericht« erschien. Eigentlich hätte man ja etwas Jüngereskes erwartet oder zumindest ein Oswald-Spengler-Zitat als Motto. Stattdessen ist die Story, die locker im Antiquariatsmilieu angesiedelt ist, die reine Kolportage, ohne große sprachliche und stilistische Ambitionen. Dein Protagonist, der Ex-Schöngeist Manuel, gibt sich auf, kündigt alle Verlagsverträge usw., kokst sich die Birne weg und hat, um Angela Merkel zu zitieren, »nicht sehr hilfreiche« Gewalt- und Erotikfantasien.

Wimbauer: Das Buch hat kaum jemanden interessiert. Wir haben 19 Stück mehr verkauft als Gordon Brown von seinem letzten Buch, aber das waren ja auch nur 32 Exemplare. Die Veröffentlichung hatte trotzdem ein paar Folgen. Zwei Menschen, die ich zu meinen engsten Freunden zählte (ich bin mit dem »Freundesbegriff« sparsam umgegangen, seitdem erst recht), sind ziemlich übel über mich hergefallen, warfen mir »Verrat an Jünger« vor und zeterten: »So etwas darf nicht veröffentlicht werden!« und dergleichen mehr.

Das war sehr lehrreich. Beide waren mehr oder minder Förderer und wenigstens einseitig Vertraute, in ständigem Austausch. Im Rückblick sortiert sich das. Es gab dann noch Absurditäten mit schriftlichem Entduzen und anderen Sperenzchen. Das Lustige ist, dass beide all die Texte im Buch schon lange kennen konnten, aber nicht kannten, sie hatten die Privatdrucke und Manuskripte jeweils von mir bekommen. Der eine Bekannte zum Beispiel habe meine literarischen Texte stets weggeworfen, um, wie er wörtlich schrieb, damit »unseren Briefwechsel nicht zu belasten«.

Ich komme aber unterm Strich gut weg: Ich habe zwei Geschäftspartner verloren, die beiden aber einen Freund. Ich habe nicht ergründen können, worin der »Verrat an Jünger« bestand. Dass ich Eigenes publiziere? Schlimmer wäre doch gewesen, ich hätte Erzählungen geschrieben, die im Jünger-Sound raunen würden, so ein Marmorklippenwohlklang wie bei den Parodisten: »Zwischen den Zähnen eine Faser vom Blumenkohl. Brassica oleracea botrytis. Gedanke: So tragen wir alle die Vergangenheit in uns.« Das wäre doch absurd gewesen und peinlich.

Der Umblätterer: Der Rezensent der »Jungen Freiheit« hat dich als Popliteraten beschimpft, und ein Hang zu einem gewissen Anspielungstrash ist ja nicht zu verleugnen, von Böhse-Onkelz-Anklängen über eine Rimbaud-Allusion bis hin zum Schopenhauer-Zitat findet sich ja so einiges an. Und am Ende war alles nur eine Art »Truman Show«. Wenn man es positiv formulierte, wäre das eine Karikierung von Profilierungsversuchen durch Namedropping, und wir hoffen mal, dass das so gewollt war, hehe. Auf jeden Fall ist »Lagebericht« das Gegenteil von Jünger’schem Epigonentum, von dem bei dir offenbar alle und jeder, wir ja auch, ausgegangen sind.

Wimbauer: Nun ja, ich bin keine Litfaßsäule und also geht das mit dem Verrat an Jünger ins Leere. Zumal ich ja nie ein kritikloser Jünger-Propagandist war, obwohl das offensichtlich bei einigen so rübergekommen ist. Eins haben die beiden bei mir jedenfalls versaubeutelt: Mein Begriff von Freundschaft ist völlig desolat geworden. Das verüble ich ihnen ebenso sehr wie all die Energie, die ich in den Austausch gesteckt hatte. Vielleicht eins noch. Über das Europareisebuch von Mark Twain schreibt Helmut Wiemken, Twain schreibe über »Europa, um Europa zu überwinden«. Vielleicht ist das mit meinen Jünger-Studien ja ähnlich. Inzwischen kann ich ihn – nach einem ziemlichen Overkill vor einigen Jahren – aber wieder lesen. Und finde ihn ganz großartig.

Inzwischen ist es Zeit fürs Abendessen geworden: vegetarische Lasagne mit Béchamelsauce. Wimbauer vergisst beim Reden fast die übliche Biofood-Dokumentation und kann nur noch ein Reststück fotografieren. »Jede Hauptmahlzeit wird getwitpict«, sagt er. Wenn einmal ein Bild aus der Foodporn-Kollektion ausbleibe, werde sofort protestiert: »Wo bleibt das Essenspic!«

Der Umblätterer: Als wir vor kurzem begonnen haben, das Drehbuch für einen Dokumentarfilm »Ernst Jünger in Leipzig« zu schreiben, haben wir dich gefragt, ob du eventuell als Experte auftreten würdest. »In den nächsten Jahren komme ich aber wohl kaum nach Leipzig, sodass wir die Idee auf ziemlich später verschieben müssen«, hast du zurückgemailt. Verreist du generell nicht mehr, ist der Waldhof Tiefendorf das Endziel der diogenesischen Suche nach Autarkie?

Wimbauer: Wir verreisen höchst ungern. Es ist meist auch organisatorisch schwierig. Ein paar unserer Katzen müssen mehrmals täglich Medizin bekommen, dazu bedarf’s schon einiger Übung. Dann kostet mich jede Fahrt sonstwohin das Dreifache an Zeit mit Nacharbeit im Antiquariat und es geht eben ganz viel wertvolle Zeit mit Fahrerei flöten, die man mit Arbeit verbringen könnte, oder auch nur einem Spaziergang, mit Rosenschneiden oder, ganz abwegig, mit der Lektüre eines Buches. Hinzu kommt, dass man in Hotels oder Pensionen nie bequem liegt, die Kissen komisch sind, und auf die Qualität der Lebensmittel hat man nur mit Umständen Einfluss. Anders gesagt: Urlaub ist eine Stunde im Garten. Wir fahren einmal im Jahr zum Jünger-Symposium, das reicht. Kleine Ausflüge machen wir: Wir besuchen gern die Konzerte von bestimmten Künstlern, wenn sie in der Gegend sind. Aber nichts, wo wir nicht in derselben Nacht wieder daheim wären.

»Das Mädchen 125«

Der Umblätterer: Um deinen Antworten hier mal ein bisschen die epische Breite zu nehmen: ein paar Moritz-von-Uslar-Lockerungsübungen. Du hast ja auch irgendwo mal erwähnt, dass Uslar dein Lieblingsfeuilletonist ist.

Wimbauer: Ja, hab ich! Weiter!

Der Umblätterer: Zwei Lieblingsfilme?

Wimbauer: »Das Irrlicht« von Louis Malle. »Ein Herz und eine Krone« von William Wyler.

Der Umblätterer: Eine Lieblingsserie?

Wimbauer: »Die Sopranos«. Dabei hab ich wesentliche Erkenntnisse fürs Antiquariatswesen gewonnen.

Der Umblätterer: #CatContent! Wie lauten die Namen eurer sieben Katzen?

Wimbauer: Herr P., Oma Alfred, Robert, Casimir, Harald, Der Deuser, Bruno.

Der Umblätterer: Sind die nach irgendwas geordnet?

Wimbauer: Ja, wie die Bücher: nach Farbe und Größe.

Der Umblätterer: Der beste fiktionale Text von Jünger?

Wimbauer: »Ortners Erzählung«.

Der Umblätterer: Und Silvia, deine Lieblingsbücher von Jünger?

Silvia Stolz-Wimbauer: »In Stahlgewittern«, »Feuer und Blut«, »Auf den Marmorklippen«.

Der Umblätterer: Hilfe! Echt?

Silvia Stolz-Wimbauer: Ja!

Der Umblätterer: Und was geht gar nicht?

Silvia Stolz-Wimbauer: »Eumeswil« finde ich ganz furchtbar.

Der Umblätterer: Tobias, der für dich wichtigste Ernst-Jünger-Forscher?

Wimbauer: Bei Helmut Lethen hatte ich die meisten Aha-Momente.

Der Umblätterer: Dein Lieblingsschreibfehler im ZVAB?

Wimbauer: »Das Mädchen 125«. Auch immer wieder gut ist die Autorangabe »Lenin Riefenstahl«.

Der Umblätterer: Wo wurden die Fotos mit euch und Sibylle Berg aufgenommen?

Wimbauer: Wir kannten uns vom Twittern. Dann waren wir mal in Bochum bei einer Lesung von ihr und saßen danach noch zusammen.

Der Umblätterer: Und worüber habt ihr euch mit ihr unterhalten?

Wimbauer: Über Katzen und vegetarisches Kochen.

Der Umblätterer: FAZ oder SZ?

Wimbauer: Beide.

Der Umblätterer: Das gilt nicht.

Wimbauer: Doch.

Der Umblätterer: Wieso zählst du, wie oft in den Restaurantkritiken von Jürgen Dollase der Begriff »Textur« vorkommt?

Wimbauer: Der »Textur«-Zähler ist eine Hommage an den Autor. Dollase muss das übrigens mitbekommen haben. Einige Zeit war er sehr, sehr sparsam mit der »Textur«. Das hat sich dann aber bald wieder gegeben.

Der Umblätterer: Kennst du einen Ernst-Jünger-Witz?

Wimbauer: Natürlich. Was ist der Unterschied zwischen Jesus und Wilflingen?

Der Umblätterer: Keine Ahnung.

Wimbauer: Wilflingen hatte nur einen Jünger!

Der Umblätterer: Unser erster Jünger-Witz und schon so ein Kracher.

Wimbauer: Noch einen?

Der Umblätterer: Äh, lieber nicht. Erzähl doch stattdessen bitte noch schnell die Anekdote, wie Liselotte Jünger mal sauer auf dich war und zur Strafe Rolf Hochhuth deine Telefonnummer gegeben hat.

»Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier!«

Wimbauer: Ja, Liselotte Jünger war offensichtlich mal böse auf mich. Das kam schon mal vor, nach der Sophie-Ravoux-Geschichte zum Beispiel. Die Scharte hatte ich dann aber mit dem Celan-Brief wieder ausgewetzt. Jedenfalls mutmaße ich das, denn eines schönen Tages, es muss 2000 oder 2001 gewesen sein, klingelte plötzlich das Telefon und Rolf Hochhuth war dran. Ich halte nicht sehr viel von seiner Lyrik und den Dramen, aber es ist doch nicht irgendwer.

Er habe meine Nummer von Liselotte Jünger bekommen, weil er mit drei Jünger-Zitaten nicht weitergekommen sei und ich die sicherlich wisse. Und er finde mein Jünger-Register so toll und habe ein Paket mit Büchern als Dankeschön gepackt, das er mir bald schicken wolle. Das erste Zitat konnte ich ihm aus dem Stegreif sagen, beim zweiten war’s eine Briefstelle von Wolfgang Jünger, die Ernst Jünger in den »Strahlungen« zitiert, und zum dritten sagte ich ihm: »Das klingt nicht nach Jünger, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg.«

So weit, so gut. Zwei Tage später klingelte das Telefon: »Wimbauer.« – »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier, haben Sie das dritte Jünger-Zitat gefunden?« – »Ich finde ja nicht, dass das nach Jünger klingt, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg.« Nach ein paar Tagen wiederholte sich das (»Und, haben Sie das Zitat gefunden?«) und dann bin ich nicht mehr rangegangen, wenn die Nummer von Grenzach-Wyhlen angezeigt wurde.

Ein halbes Jahr später klingelte wieder das Telefon, die Nummer hatte ich nicht mehr präsent und ging also ran: »Wimbauer.« – »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier, ich bin auf der Suche nach einem Jünger-Zitat!« Und er erzählte mir abermals, wie toll er mein Jünger-Register finden würde und dass er ein Paket mit Büchern für mich dastehen habe. Das Zitat war das von vor einem halben Jahr. Also sagte ich mein Sprüchlein: »Ich finde ja nicht, dass das nach Jünger klingt, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg«.

Dann kam seine angekündigte Post. Ein Reclamheft mit Hochhuth-Porträt in Goethe-mit-Lorbeerkranz-Manier vorne drauf und einer freundlichen Widmung. Ich zog dann aus Freiburg weg und habe nie wieder von ihm gehört. »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier!« ist bei uns aber zum geflügelten Wort geworden. Das zweite Zitat fand ich dann als Motto bei einem seiner Theaterstücke gedruckt. Den gefälschten Freisler-Brief hat er wohl noch bis heute als echtes Dokument in seinen Äußerungen zu Jünger. Nun ja.

Der Umblätterer: Frau Stolz-Wimbauer, Herr Wimbauer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Könnten wir bitte noch etwas von dem Tiramisù haben?

Es geht in den vielen Stunden auch um noch ein paar andere Themen, meist angetrieben durch einen hervorgezückten Band aus den Antiquariatsregalen. Zwischendurch posiert Wimbauer mit gezogener Pistole (einer Röhm RG 9) und dem Band »Tristesse Royale«, der Biowein fließt in Strömen.

Es scheint hier also tatsächlich alles irgendwie zusammenzupassen. Jünger und Twitter. Antiquariat und Popliteratur. Biokost und Stahlgewitter.

Tristesse Royale!
 


Notiz über Henning Ritter

Konstanz, 22. November 2010, 15:41 | von Marcuccio

Die »Notiz über Kitsch« war einer unserer Lieblinge im Feuilletonjahr 2007. Unter anderem gefiel uns, wie anlassfrei es dieser Text in die FAS geschafft hatte. Passend zum Thema und zu den neulich im Berlin Verlag erschienenen »Notizheften« steuerte Eckhard Fuhr nun eine »Welt«-Notiz über Henning Ritter bei:

»Ritter und ich fingen etwa zur selben Zeit bei der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ an, er im Feuilleton, wo er die Seite ›Geistes­wissenschaften‹ erfand, ich in der politischen Nachrichtenredaktion, wo ich das journalistische Handwerk lernte. Wir trafen uns fast jeden Tag in geselliger Runde dort am großen Kühlschrank, um nach getaner Arbeit ein Fläschchen Binding Römerpils zu trinken.«

Man beachte auch den hübschen Nachsatz:

»Ritter war einer der wenigen Feuilletonisten, die regelmäßig aus ihren Redakteursstübchen in den Nachrichten-Maschinenraum der Zeitung hinabstiegen.«

Die Raummetaphorik ist jedenfalls mal wieder evident, semiotisch mindestens so gefällig wie wenn Matussek seine »Spiegel«-Sekretärin »runter in die Dokumentation« schickt (vgl. das legendäre rebell.tv-Video). Innerredaktionelle Ressorthierarchien im Spiegel ihrer vertikalen Gebäudebelegung. Wäre mal eine schöne Seminararbeit für alle Organisationspsychologen.

Ritter und das Römerpils

Laut Fuhr konnte Ritter das Römerpils, »welches zwar Nieren- und Blasentätigkeit ungemein stimuliert, nicht unbedingt aber die intellektuelle Spannkraft«, auch deswegen so gut ab, weil er seine Notizen hatte. Weil Ritter sich praktisch überall und pausenlos Notizen machte, hatte er seine Notizenscheune immer gut gefüllt. Frei nach Montesquieu, auf den sich Ritter am Ende seiner »Notizhefte« beruft, sind Notizen

»Einfälle, die ich nicht weiter vertieft habe und die ich aufbewahre, um bei Gelegenheit über sie nachzudenken.«

Mehr Mut zu Montesquieu, sagt nun Fuhr:

»Wenn man es so betrachtet, macht man als Journalist sein Leben lang nichts anderes als Notizen. Nur bewahren wir unsere Einfälle nicht auf, um später in Ruhe über sie nachzudenken, sondern wir werfen sie sofort dem Publikum zum Fraß vor.«

 


»Heute schon das Feuilleton gescannt?«
Mit Andreas Bernard durch die »jetzt«-Jahre

Konstanz, 12. November 2010, 10:46 | von Marcuccio

Wer für die »Tempojahre« (Maxim Biller) zu jung und für »Neon« viel­leicht schon bald zu alt war, der hatte in jedem Fall »jetzt« (1993–2002) – die Santo-Subito-Jugendbeilage der SZ. »jetzt:« war jung, frisch, faszinierend – der sprichwörtliche Doppelpunkt für jeden, der in der zweiten Hälfte der 1990er feuilletonistisch lesen lernen wollte, sich dabei aber möglichst nicht so totalitär belehrt fühlen mochte. »jetzt« gehörte in die Zeit wie »Faserland«, MTV oder die AOL-Werbung mit Boris Becker (»Bin ich jetzt schon drin?«).

Das Lebensgefühl der »jetzt«-Jahre gibt es jetzt zum Nachlesen, in einem schönen Roman von Andreas Bernard, in dem das »jetzt«-Magazin »Vorn« und der Protagonist Tobias Lehnert heißt.

Das Buch wurde von den Feuilletons dieses Frühjahrs erstaunlich lieblos durchgewinkt, Sandra Kerschbaumer in der FAZ fand es sogar »ermüdend, wie Müttern auf dem Sandkistenrand oder Kleingärtnern beim Fegen ihrer Wege zuzuhören«.

Das »jetzt«-Feeling

Vielleicht ist meine »jetzt«-Erinnerung auch deswegen so mythisch überladen, weil ich der notorisch verhinderte »jetzt«-Leser war: »jetzt« war für mich zuallererst das, was ich als studentischer FAZ-Abonnent montags gern auch noch mit dabei gehabt hätte. Das zusätzlich Fiese war, dass »jetzt« selbst im Urlaub nicht funktionierte. Da kaufte man sich in Italien schon mal eine SZ vom Vortag und freute sich mit der Cover-Ankündigung auf ein knutschendes Pärchen im Meer bzw. ein »jetzt«-Magazin zum Thema: »Und wie war dein Sommer?«, und dann stand da prompt und kleingedruckt:

»Liegt nicht der Auslandsauflage bei«

Wie ich diesen Satz hasste. In der alten »Zweigstelle 1« der Uni-Bibliothek Leipzig war der Begriff Beilage indes richtig räumlich gemeint. »jetzt« lag dort tatsächlich immer im Separee, hinter dem eigentlichen Zeitungslesesaal. In einem gammeligen Schuhkarton, der irgendwann meine Schatzkiste wurde. Ganze »jetzt«-Jahrgänge hab ich in dem miefigen Kabuff rückwirkend gehoben, umgeblättert, verschlungen. Mehr zum Feeling muss ich nicht sagen, Bernard selbst hat »jetzt« im taz-Gespräch gegenüber dem Vorgänger »Tempo« und dem Service-Nachfolger »Neon« klug abgegrenzt.

Vom Leser zum Schreiber

»Vorn« feiert aber nicht nur das »jetzt«-Lese- und Lebensgefühl. Es ist vor allem auch ein wunderbarer Journalisten-Bildungsroman. Erzählt wird, wie aus einem Magazin-Fan ein Magazin-Schreiber wird. Was passiert, wenn einer den Sprung von der Rezeption zur Produktion von Lebensgefühl wagt. Wie sich der erste eigene gedruckte Text in der Zeitung anfühlt. Und wie man tickt, wenn man leibhaftige Redakteure im Büro besucht:

»Er versuchte (…) diejenigen zu identifizieren, deren Geschichten ihn am meisten begeisterten, sich zu überlegen, welches Gesicht zu welchem Namen passen könnte.« (S. 16)

Auch ein Typ wie Tom Kummer geistert mal kurz als Phantom durch Bernards Buch, auf S. 17: Er »sah sehr lässig aus; er hatte schwarze lockige Haare und wirkte fast ein bisschen südländisch«. Tobias trifft ihn auf der Einweihungsfeier der neuen Redaktionsräume. Später heißt es:

»Den dunklen, lockigen Typen von damals sah er in all den Jahren kein einziges Mal mehr, und als er Robert später einmal darauf ansprach, welcher Autor oder Fotograf das gewesen sein könnte, wusste der nicht einmal, von wem Tobias sprach.« (S. 17/18)

Redaktionssport Scannen

Der eigentliche Plot ist das private Leben von Tobias Lehnert, namentlich seine alte Beziehung, die sich zunehmend konträr zu seinem Redakteursleben voller Listen-Journalismus, Tischritualen im »Schumann’s« und den Girlie-Kategorien verhält (»Julias sind immer gut!«).

Lustig auch das metasprachliche Rudelfantasieren, dahinter steckt die Idee, sich anhand weniger Indizien Geschichten und Identitäten zu Personen, zum Beispiel auf Partys, auszudenken:

»Im Vorn sprachen sie davon, jemanden zu ›scannen‹, wobei sich diese Methode nicht nur auf das sekundenschnelle Durchleuchten und Bewerten von Menschen bezog, sondern etwa auch auf Texte in Zeitungen und Magazinen. ›Hast du heute schon das Feuilleton gescannt?‹« (S. 190/191)

Irgendwann passt die alte Freundin nicht mehr in den coolen Vorn-Kosmos, in der Geschmacksfragen so falsch sein können wie Milchkaffeeschalen, die Tobias zu Hause stehen hat. Schon bald beginnt Tobis Affäre mit einer jener Praktikantinnen, die noch eine »Handschrift mit Babyspeck« haben. Und die Krisis des Helden nimmt ihren Verlauf.

Das Geheimnis der Grafikerinnen

Bourdieu hat feine Unterschiede für das literarische Feld beschrieben, Bernard malt das Ganze für den jungen Beilagenjournalismus der 1990er aus und schildert eine Welt, in der es den »Speedtalk« und das Scannen der Textredakteure einerseits gibt, andererseits aber auch das Geheimnis der Grafikerinnen:

»Tobias bemerkte wieder einmal, dass es kaum eine andere Art von Mädchen gab, mit denen er sich im Reden so schwer tat wie mit Grafikerinnen. Sie waren immer sehr freundlich und sahen gut aus, doch Tobias hatte das Gefühl, dass ihre Zurückgenommenheit eine längere Unterhaltung fast unmöglich machte. (…) Alle Vorn-Grafikerinnen, die Tobias je kennengelernt hatte, ähnelten sich in einer merkwürdigen Trägheit, einer besonders sparsamen Dosierung der Gesten und Worte. Vielleicht waren professionelle Näherinnen vor 150 Jahren ähnlich gestimmt.« (S. 233/234)

Der langsame Niedergang beginnt mit Praktikantengenerationen, die »Praktikas« statt »Praktika« absolvieren (S. 101) und dem Merchandising, also der »schwarzen Umhängetasche mit gelbem Vorn-Schriftzug, die man seit kurzem über die Magazinadresse bestellen konnte.« (S. 229)

Mein letztes »jetzt«-Magazin, das allerletzte überhaupt, lag wieder mal keiner Auslandsauflage bei. Austin höchstpersönlich brachte es mir aus Deutschland vorbei, während es in München Sitzstreiks der Leser gab.
 


US-Serien:
Besuch im Serienland 2009/10

Paris, 11. Oktober 2010, 19:48 | von Paco

Etwas spät, um hier noch die Seriensaison 2009/10 zu reviewen, analog zu den Vorjahren (2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09). Die neue Saison hat bereits begonnen, Ende September. (Und die neue »Mad Men«-Staffel ist schon fast wieder vorbei.) Aber macht ja nichts. Es folgt hier wie gewohnt eine behauptete Top-10 mit ein paar der ausschlaggebenden Serien der letzten Saison.

2010 geht ein großartiges Serienjahrzehnt zu Ende, das narrative TV-Saga-Revolutionen brachte wie »The Sopranos«, »Six Feet Under«, »24«, »The Wire«, »Lost«, »Big Love«, »Dexter«, »Rome« usw. Davon müssen sich alle erst mal erholen, wie man schon an der Dürftigkeit der Upfronts gesehen hat, die das sablog im Mai schon mal abgeklopft hat.

Es laufen aber natürlich immer noch innovative Formate, die ihren erzählerischen Zenit noch nicht erreicht haben, vor allem die ersten beiden eigenproduzierten AMC-Shows »Mad Men« und »Breaking Bad«. Da ist es übrigens beruhigend, dass AMC nicht nur solche Hits produziert, denn die vor ein paar Wochen gestartete Neuserie »Rubicon« ist letztlich eine langweilige Conspiracy-Saga, die mit ihren Vorbildern nicht mal ansatzweise mithalten kann und vor allem voller lächerlichster Terrorismus-Klischees steckt. (Eigentlich nur erträglich in Kombination mit den superben verreißerischen Vulture TV Recaps.)

Auf HBO hat übrigens gerade »Boardwalk Empire« begonnen, ein mit allem Brimborium inszenierter Mafiaschinken, der die »Sopranos«-Tradition des Senders aufnimmt. Den Piloten hat Scorsese gedreht, und Steve Buscemi, Michael Pitt und Michael Stuhlbarg geben einem das Gefühl, dass man eine Dauerkarte fürs Kino geschenkt bekommen hat. Die Serie beginnt mit dem Inkrafttreten der Prohibition und ist um ein paar bekannte Figuren herumerzählt: »Who’s Al? The chubby kid?«, fragt Alkoholbaron Nucky Thompson (Buscemi), als ihm beiläufig der noch junge Al Capone gezeigt wird (Folge 2).

Und übrigens könnte das Feuilleton gern mal wieder ein paar hauptberufliche Narratoren zusammensperren und über TV-Serien diskutieren lassen, so wie das Richard Kämmerlings im Juni für die FAZ gemacht hat. (»Das Fernsehen schaut uns an«)

In der Top-10, die in den nächsten Tagen hier ausführlich hingeschrieben wird, geht es vor allem um die Plots und die Erzählstile, nicht um irgendwelche Quoten oder Schauspielernamen, die nur in Ausnahmefällen genannt werden. Das Ranking von 10 runter bis 1 ist wie immer als wertneutrale Durchnummerierung gemeint, hehe.
 


Die Welt als Schopenhauer und Überschrift

Konstanz, 25. August 2010, 18:44 | von Marcuccio

Gabriel ist mir im Traum erschienen, der hier schon öfters erwähnte Überschriftenerfinder. Und zwar in Form von Christoph Poschenrieder, der Überschriften gefischt hat. Überschriften aus dem großen Meer der Anspielungen, mit denen Journalisten und namentlich Feuilletonisten gern Buchtitel, Filmtitel, Songtitel usw. umsegeln. Klassisch hierzu natürlich schon der ewige MRR:

  • »Jenseits der Literatur« = Überschrift seines Verrisses zu Martin Walsers »Jenseits der Liebe« (1976)
  • »Die Angst des Dichters beim Erzählen« = Überschrift zu Peter Handke (1972)

Es gibt gewisse ungeschriebene Gesetze der Branche: Wenn z. B. Franka Potente neulich einen Erzählband vorlegt, dann kann die Überschrift natürlich nur wie lauten? Genau:

  • »Lola schreibt« (Tagesanzeiger, 5. August, und WELT, 7. August)

Witzig ist es dann eben auch mal, Langzeitprofile anzulegen. Christoph Poschenrieder hat genau das getan und eine Liste gesammelter Verballhornungen vorgelegt, die auf Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« anspielen:

  • »Die Welt als Willy und Vorstellung« (Tagesspiegel, Artikel über die SPD)
  • »Die Welt als William und Vorstellung« (ZEIT, Artikel über Shakespeare am Berliner Ensemble)
  • »Die Welt als Wille und Wechselstrom« (FAZ)
  • »Die Welt als Pille und Vorstellung« (SZ-Magazin)
  • »Die Welt als Wille und Vorurteil« (Der Standard)

Diese und weitere Findungen sind nachzulesen im aktuellen Diogenes-Magazin (Nr. 4, Sommer 2010, S. 22).

Wieso sammelt Poschenrieder Schopenhauer-Überschriften? Weil er einen Schopenhauer-Roman vorgelegt hat: »Die Welt ist im Kopf«. Das Buch liest sich schnurstracks weg. Ein bisschen so als hätte Daniel Kehlmann über Schopenhauer & Lord Byron statt über Humboldt & Gauß geschrieben.


Umblätterer @ NDR Kultur

Saint-Jean-de-Luz, 9. August 2010, 23:46 | von Paco

Ach ja, letzte Woche (4. August, 19:30 Uhr) gab es in der Reihe »Lesen im Netz« bei NDR Kultur ein kleines UMBL-Feature (–anhören–). Auftritt Dique mit unseren Freunden:

Einen Tag nach Dique war übrigens Don Alphonso dran, der u. a. über das neue FAZ-Blog »Deus ex Machina« sprach, für das außerdem die hervorragenden Autoren Sophia Amalie Antoinette Infinitesimalia, Nicander A. Indescretius von Saage und Violandra Temeritia von Avila schreiben, so muss es sein. Auch dieses Feature bitte –anhören–.


»ALDI gibt bekannt …«

Konstanz, 4. August 2010, 01:35 | von Marcuccio

Nein, kein übliches Urnengrab im »Spiegel«-Register (»Gestorben«), sondern den Hamburgern in der aktuellen Ausgabe eine eigene Hausmitteilung wert. Und dazu gleich 11 Seiten Kulturgeschichte des »Ur-Discounters« zum Nachlesen, fast schon eine heimliche Titel­geschichte (die es in mageren Nachrichtenwochen wohl auch geworden wäre). Was für eine publizistische Bestattung von Theodor Paul (genannt Theo) Albrecht geht da zu Ende.

Wie erwartet fand sie sowohl auf den Wirtschafts- wie den Feuille­tonseiten statt, und sie muss so was wie der Alptraum aller Bild­redaktionen gewesen sein, denn es standen den meisten Medien ja nur zwei »Theo«-Bilder überhaupt zur Verfügung: wahlweise die beiden Brüder Albrecht sowie das 1970er-Jahre-Brustbild von Theo, von kurz nach der Entführung.

Heimlicher Höhepunkt natürlich die ganzseitige Todesanzeige im FAZ-Feuilleton vom Donnerstag. Die meines Wissens erste und einzige ALDI-Anzeige, die nicht mit den klassischen Worten »ALDI informiert«, sondern »ALDI gibt bekannt« begann – der Bedeutung des Ereignisses angemessen. Die Annonce war im übrigen nicht weniger informativ als die journalistische Berichterstattung insgesamt.

Die nämlich litt, wie immer bei ALDI-Themen, unter der kargen Nach­richtenlage. Gebot der Stunde war es also, wieder mal allerlei ALDI-Mythen aufleben zu lassen: vom symptomatischen Aufbrauchen des alten Briefpapiers (»x-te er Jahre nach der Postleitzahlen-Umstellung 1993 die alte Essener Nummer 4300 einfach aus«, so Hannes Hintermeier in der FAZ) bis zum Brüder-Antagonismus und dem ALDI-Limes, Sinnbild für die wahre deutsche Teilung in einen ärmeren, protestantisch-nüchternen Norden und einen reicheren, sinnenfreudi­geren Süden, ablesbar sowohl am Sortiment als auch an der Filial­gestaltung. Nur mentalitätsgeschichtlich hätten Sachsen und Teile von Thüringen unbedingt ALDI-Süd zugeschlagen werden müssen.

Neu für mich, das ALDI-Südstaatenkind, war übrigens Günter Fruhtrunk als ALDI-Tütendesigner (Nord).

Und noch was für den Korrekturkasten im nächsten »Spiegel« (damit er nicht wieder ausfallen muss wie zuletzt): Die ALDI-Europakarte auf S. 67 stimmt nicht ganz, ALDI-Suisse ist Expansionsgebiet von ALDI-Süd, nicht -Nord. Und weil wir grad dabei sind, noch eine Korinthe zur Titelgeschichte der vorvorletzten Ausgabe (Nr. 29, S. 61): »Über allen Gipfeln ist Ruh …« a.k.a. »Ein Gleiches« ist nicht wirklich ein »Alters­gedicht Goethes«, wie Susanne Beyer schreibt, der Dichter war da 31 Jahre und hatte noch 51 weitere zu leben, also na ja.


Winckelmanns Spaziergang von Halle nach Hamburg

Hamburg, 14. Juli 2010, 10:07 | von Dique

Grundsätzlich bin ich immer fasziniert von langen Laufstrecken, aber wer ist das nicht, deshalb geht die Menschheit auch dem Ich-bin-dann-mal-weg-Kerkeling (ein Rainald Goetz’sches »Ja! Jaaa!« danach) auf den Leim, aber ich rede hier natürlich eher von Seume, Fermor oder Brâncuşi, der sich 1904 von Bukarest nach Paris aufmachte, um die moderne Skulptur zu revolutionieren, und man könnte noch 400 weitere Beispiele aufzählen. Eines davon Winckelmann:

»…, als er sich zu Fuß nach Hamburg aufmachte, wo gerade die Bibliothek eines Verwandten des Theologen Samuel Reimarus, des Schwagers von Lessing, versteigert wurde. Winckelmann kaufte sich, was er erschwingen konnte, und trug die Bände im Rucksack nach Hause.«

Dazu muss man wissen, dass er gerade an der Uni Halle studierte und sich von dort aus aufmachte, also mehr als 300 Kilometer zu Fuß zum Book Shopping Trip von Halle nach Hamburg. Das erzähle ich dann also dem Zeitungsverkäufer, der wie immer auf irgendwelchem Essen kaut, wenn ich die FAZ und die SZ dort kaufe. Außerdem riecht es hier im ganzen Laden immer irgendwie nach Butter.

Der Kauer kommt immer von hinten, wahrscheinlich aus einem kleinen Raum am Ende des Ladens hervor. Er muss dort stapelweise belegte und unterbutterte Brötchen liegen haben, die er den ganzen Tag lang isst, bis es an der Tür schellt und jemand in den Laden kommt und er dann kauend an den Tresen treten muss.

Und nun beginne ich mit diesem kauenden Zeitungsverkäufer ein recht komisches Gespräch, es geht soweit, dass ich Winckelmann erwähne und Reimarus und die nach ihm benannte Straße gleich hier um die Ecke. Und er, der Kauer, nennt dann einfach so die Anzahl der Reimarus-Erwähnungen im Personenregister der neuen Lessing-Biografie von Hugh Barr Nisbet, »58 Mal«, ich hab’s nicht nachgeprüft.


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (3/2010)

Leipzig, 10. Juli 2010, 09:09 | von Paco

Stämme

1. Motto: »Die Zeitungen von gestern sind viel besser als man gemeinhin glaubt.« (Andreas Platthaus, mp3)

2. Das halbe Feuilletonjahr ist um. Noch 6 Monate bis zur Feuilleton-Meisterschaft, dem Goldenen Maulwurf 2010. Schon jetzt platzt die Longlist aus allen sogenannten Nähten, schon jetzt könnten wir eine Jahres-Top-Ten mit supersten Texten präsentieren. Danke, deutsches Feuilleton. Mehr an dieser Stelle am 11. Januar 2011.

3. Ansonsten war das Feuilleton-Großereignis des Jahres: die im ZDF übertragene Verleihung der Börne-Medaille an Reich-Ranicki in der Paulskirche am 6. Juni. Herles moderiert an, dann treten alle nur denkbaren Überlaudatoren auf: Thomas Gottschalk, Harald Schmidt mit einem Bert-Brecht-Song, Frank Schirrmacher, Henryk M. Broder. Ein unfassbares Powwow allerhöchster Hochkultur, ich selber hab es mir in Abständen drei Mal komplett angeschaut und würde es jederzeit wieder tun.

4. Die Entdeckung des Jahres und unser neues Lieblingsblog: nach21.wordpress.com.

5. Tagung: »Durs Grünbeins Fahrradunfall am 7. Dezember 2008«. Call for Papers folgt.

6. Remember: Der große Eklat, für den einmal der unnachahmliche Jean d’Ormesson gesorgt hat. Der adlige wie rechtsgerichtete Intellektuelle, Autor bildungsprotziger Romane, Möchtegern-Chateaubriand und Le Figaro-Hauptkolumnist erklärte vorlaut den strammen Stalinisten Aragon zu Frankreichs größtem Romancier des 20. Jahrhunderts. Ich war noch klein, kann mich aber noch genau an all die Erwiderungen und endlosen Rechtfertigungen erinnern.

7. Demnächst: Die Best of US-Serien der Saison 2009/2010, analog zu den Vorjahren: 2005/06, 2006/07, 2007/08, 2008/09.

8. Krise des Schlüsselromans.

 
Was bisher geschah:
 
Vorwort Nr. 1/2010Nr. 2/2010

 


Bundespräsidiales Feuilleton

Konstanz, 30. Juni 2010, 07:07 | von Marcuccio

Unter rein feuilletonistischen Gesichtspunkten bleibt ja bis auf weiteres nur ein Bundespräsident wählbar.

Einer, der Hodler und Goya zum Amtsantritt genauso souverän besprochen hat wie er Max-Reinhardt-Inszenierungen rezensiert oder Detlev von Liliencron zum 60. gratuliert hat. Der seine »Architektur-Notizen aus Belgien und Holland« ebenso ins Amt mit einbringt wie seine Abhandlungen über »Gotik in Paris« oder das Baptisterium von Florenz.

Einer, der bundespräsidiale Stippvisiten schon 1909 in Naumburg geübt hat: »Dreieinhalb Stunden Zeit. Es muß reichen. Ich will ja nur die alten Statuen im Dom ansehen.«

Ein Bundespräsident, der zudem auch mit der politischen Farbenlehre vertraut scheint:

»Reichlich viel Violett – das sind die geistlichen Gebiete –, allerhand reichsunmittelbare Grafschaft und Ritterschaft, einige vorderösterreichische Landvogteien, dazwischen eingesprenkelt das harte Rotbraun der Reichsstädte.«

Voilà, Theodor Heuss, wie er sich gerade mit dem Putzger-Atlas in Kunstreiselaune bringt. Heuss – der Abiturient, der keine Ahnung hatte, was er studieren wollte, aber dann halt mal mit »National­ökonomie, Staatslehre, Philosophie, Historie, Kunstgeschichte und Literatur« begann – im Prinzip konnte dieser Heuss nur ein guter Feuilleton-Allrounder werden.

»Einen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelte er aber nicht«, schreibt Reiner Burger von der FAZ in seiner Studie »Theodor Heuss als Journalist«. Vielmehr liegt die Schreib-Leistung dieses Bundespräsi­denten im soliden Bildungsfeuilleton, Burger spricht denn auch vom »Volkshochschulkurs in gedruckter Form«, hehe.

Spannend auch Heuss als Role Model des landsmannschaftlich gefärbten Feuilletonismus, wie er uns in Form von Peter Richter (Sachsen) oder Claudius Seidl (München) bis heute begegnet. So sympathisch befangen zum Beispiel Nils Minkmar immer über das Saarland (be)richtet, so ungeniert lässt Heuss keine Gelegenheit aus, seine schwäbischen Dichter zu promoten.

Heuss hat über »Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn a. N.« promoviert, zeigt sich in seinen Reisereportagen aber durchaus geschmacksoffen: »Der Wein von Ischia ist recht ordentlich; wir kannten uns schon und haben in den paar Tagen des Besuchs gute Kameradschaft gehalten.«

Sämtliche Originalzitate aus der Sammlung »Von Ort zu Ort« (hrsg. von Hermann Leins, Tübingen 1959, mehrere Auflagen, zuletzt 1986 bei der DVA), antiquarisch erhältlich.