Archiv des Themenkreises ›FAS‹


Gaston Gallimard et la « traumdenfung »

Paris, 6. April 2011, 13:52 | von Niwoabyl

deutsch

(Zur deutschen Version dieses Berichts …)

Ce dimanche, nous sommes allés tôt le matin au Louvre. Nous nous rendions à l’exposition Messerschmidt, non point pour y contempler des débris d’avions à réaction, mais les « têtes de caractère » du célèbre sculpteur bavarois. On pourrait dire de cette petite cinquantaine de bustes qu’elle fut luxueusement sculptée dans toutes les règles de l’art, si les visages y étaient idéalisés ; mais ceux-ci s’y présentent comme défigurés par les grimaces les plus aberrantes.

Sur les raisons qui poussèrent Franz Xaver Messerschmidt (1736–1783) à commettre cet acte unique dans les annales de la sculpture courent d’aventureuses théories, et ce n’est qu’après la mort de l’artiste que les bustes reçurent leurs bien arbitraires désignations. Aux rangs de celles-ci « l’homme constipé », « l’homme qui pleure comme un enfant » ou encore « le bassoniste incapable » sont sans doute les plus belles et les plus surprenantes.

Une bonne demi-heure plus tard, nous étions de retour dans le métro, en route pour la Bibliothèque Nationale où, ainsi que nous l’avions appris quelques jours auparavant par la Gazette de Francfort, se tenait une exposition en l’honneur de la maison Gallimard. Y étaient présentés entre autres choses : ouvert dans une vitrine, le manuscrit original des « Bienveillantes » de Jonathan Littell, porteur d’annotation d’une impeccable propreté ; et, accrochée sur l’une des cloisons, la lettre écrite le 11 juillet 1921 à Sigmund Freud par Gaston Gallimard, dans laquelle il le prie de bien vouloir donner son accord à la publication française de la « TRAUMDENFUNG » (« celui de vos ouvrages que vous estimez le plus important, n’est-ce pas »).

Ce titre fautif reçut trente ans plus tard sa juste récompense, dans la lettre de William Faulkner à Gaston Gallimard du 14 juin 1951. Le romancier américain y a comme une prescience du style bien particulier de Google Traduction : « Mon excuse [à l’envoi tardif de cette lettre] c’est seulment que j’etais engage completer un roman lequel sera digne, on espois sincerement, de la generosite de votre pardon. » (Rendue en allemand, cette phrase pourrait sonner à peu près ainsi : « Meine Entschuldigung ist bloss dass ich beschaftigt war einen Roman vervollstandigen welcher, man hofft aufrichtig, sich als wurdig erweisen wird der Grosszugigkeit ihres Verzeihens. »)

Ce ton joyeux et bon-enfant est celui de toute l’exposition, qui n’est pas bien grande ; on peut la traverser vite et sans effort, comme déjà Messerschmidt au Louvre. Puis nous sommes partis à la gare Saint-Lazare acheter la Sonntagszeitung, et ensuite au café Rosa Bonheur des Buttes-Chaumont, où nous avions rendez-vous. Et « en fait, c’est tout », comme l’écrivait Daniil Harms.
 


Die Traumdenfung

Paris, 5. April 2011, 09:19 | von Paco

französisch

(Version française de ce récit …)

Am frühen Sonntagnachmittag gingen wir in die Messerschmidt-Ausstellung im Louvre. Nein, dort werden keine Wrackteile von verrotteten Strahlflugzeugen ausgestellt, sondern die »Charakter­köpfe« des Franz Xaver Messerschmidt. Das sind ein paar Dutzend Büsten, hochherrlich nach allen Regeln der Kunst gestaltet, aber eben nicht mit idealisierten Gesichtszügen, sondern mit den absonderlich­sten Grimassierungen versehen.

Warum Messerschmidt (1736–1783) diese kunstgeschichtliche Einzel­tat begangen hat, darüber gibt es die abenteuerlichsten Theorien. Erst nach seinem Tod wurden die Büsten recht willkürlich mit Titeln ver­sehen, und neben »Ein mit Verstopfung Behafteter« sind wohl »Der kindisch Weinende« und »Der unfähige Fagottist« die schönsten und ausgedachtesten.

Nach einer guten halben Stunde waren wir wieder in der Métro und auf dem Weg Richtung Bibliothèque Nationale, zur Gallimard-Ausstellung, von der wir vor ein paar Tagen aus der FAZ erfahren hatten. Dort liegt zum Beispiel das vorbildlich korrigierte Manuskript von Littells »Wohl­gesinnten« aufgeschlagen in einer Vitrine, und es ist ein Brief zu sehen, den Gaston Gallimard am 11. Juli 1921 an Sigmund Freud geschrieben hat und in dem er darum bittet, die »TRAUMDENFUNG« eventuell publizieren zu dürfen (»celui de vos ouvrages que vous estimez le plus important, n’est-ce pas«).

Die sozusagen gerechte Strafe für diese Falschschreibung folgt gut 30 Jahre später in einem Brief von William Faulkner an Gallimard, 14. Juni 1951, der schon damals klingt wie mit Google Translate übersetzt: »Mon excuse [für das lange Ausbleiben des Briefs] c’est seulment que j’etais engage completer un roman lequel sera digne, on espois sincerement, de la generosite de votre pardon.« (Auf Deutsch würde das vielleicht so klingen: »Meine Entschuldigung ist bloss, dass ich beschaftigt war einen Roman vervollstandigen, welcher, man hofft aufrichtig, sich als wurdig erweisen wird der Grosszugigkeit ihres Verzeihens.«)

Und so herzallerliebst liest sich fast die gesamte Ausstellung weg, sie ist auch nicht allzu umfangreich, also gut und unangestrengt mitzuneh­men wie vorher der Messerschmidt im Louvre. Danach kauften wir noch irgendwo die FAS und trafen ein paar Leute im schönen »Rosa Bon­heur« im Parc des Buttes Chaumont. Und »das ist eigentlich alles«, wie es bei Daniil Charms heißt.

Soweit also mal wieder eine informelle sonntägliche Berichterstattung des k.u.k. Magazins Der Umblätterer (d. i. Kunst und Kultur).
 


Die Segantiniwolke —
Mit Werner Spies, Niklas Maak, Rafael Horzon und Hermann Hesse in der Fondation Beyeler

Basel, 10. März 2011, 12:44 | von Marcuccio

Ein Praktikum in Riehen bei Basel, das wär’s. Dort den Telefonisten machen, nur um den ganzen Tag so schön ›Fondation Beyeler‹ zu sagen, wie es jetzt im Tram Nr. 6 zu hören ist. Nächste Haltestelle: Fohdasjo Bejeler.

Was ein Ansturm! Rentner, Japaner, alleinerziehende Mütter, sie alle wollen »seine Berge« sehen, um mal ein bekanntes Segantini-Wort aufzugreifen (»voglio vedere le mie montagne«).

Segantini, der große Alpenmaler. War Segantini früher »peinlich« (NZZ am Sonntag), ist er heute Divisionismus-Avantgarde, wenn nicht gar »der van Gogh der Hochalpen« (Werner Spies in der FAS). Auch deswegen versteht sich die Ausstellung als eine Art kunsthistorische Reha-Maßnahme. Rehabilitierung, weil Segantini um 1900 schon mal europaweit gefeiert, danach aber einige Jahrzehnte in der Heimat- und Kitschecke verschwunden war. Soweit das Storytelling der Fondation Beyeler.

Die Vorher-Nachher-Show

Und das Feuilleton feiert mit, die besten Sätze zur *Segantini-Wert­schätzung alt* gab’s von Niklas Maak:

»Ganz böse Kommentatoren behaupteten, Segantini sei Kunst für Russen, die sich in St. Moritz das Bein gebrochen haben und deswegen nicht auf die Piste können – in Sankt Moritz gibt es ein Segantini-Museum, und vor diesem kleinen Museum sieht man tatsächlich öfter einmal die Ferraris und Maseratis und anderen Höllengefährte der russischen und anderen Wintersportgäste parken.«

Von Boris-Becker-Hochzeiten in diesem Museum ganz zu schweigen. Aber eben: Schluss mit bloßer Segantini-Deko! Her mit den Kunst­verständigen. Noch einmal Maak:

»Segantinis Kunst ist, wenn man genau hinschaut, wie eine Fahrt im Bugatti: Die Landschaften beginnen zu flimmern, die Formen lösen sich pointillistisch auf und werden gleichzeitig surreal klar – es ist, als ob klare Bergluft durch die Seitenscheiben dieser Bilder ströme.«

Und apropos Seitenscheibe. Rafael Horzon macht an einer Stelle seines »WEISSEN BUCHS« ja diese Autotour: »Unser Ziel: Basel.« (S. 132f.) »Gerührt«, hehe, summt er unterwegs die letzten beiden Drittel dieses Lieds von der Wolke – die weiße Wolke ist die »Segantiniwolke« aus Hermann Hesses »Peter Camenzind«:

Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So weiß und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.

Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie in dunkler Nacht.

Geht und erglänzt so silbern,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.

Voraus geht die Szene, in der sich Camenzind an Elisabeths Besuch in der Basler Kunsthalle erinnert (heute würde es die Fondation Beyeler sein):

»Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen, lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte, ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen.«

Sie schaut sich also dieses Segantini-Bild mit der besonderen Wolke an. Und Camenzind schaut ihr dabei zu:

»Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen hingegeben. (…) Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne, von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.«

Auch wir versuchten uns in Saal 9 eine Weile im Segantiniwolken­verstehen (siehe auch NZZ von 2004), bevor wir dann irgendwann, genau wie Camenzind, »schnell und leise« das Segantiniwolken­kuckucksheim verließen.
 


Hilde Domin

Konstanz, 26. Februar 2011, 08:35 | von Marcuccio

Komisch, aber irgendwie erst mit ihrem Tod wusste ich so richtig, dass es Hilde Domin gab. Und schuld ist Volker Weidermann: Kein Deutsch­lehrer, kein Germanistikstudium mit Leseliste hat mir Hilde Domin je nahegebracht. Das hat erst dieser Feuilletonaufmacher geschafft, vor genau fünf Jahren:

Mein letzter Besuch bei Hilde Domin. In: FAS, 26. Februar 2006. (FAZ-Archiv)

Ein Porträt eigentlich, wohl als Kapitel für die »Lichtjahre« geplant, und dann eben ein unfreiwilliger Nekrolog geworden. Eine letzte Begeg­nung, elegisch und weidermannsüffig erzählt:

»Hilde Domin ist fast hundert Jahre alt und sehr klein und schmal und fein«.

Das wird mit einem Foto noch überillustriert – es zeigt eine weiß­haarige, hochbetagte Frau –, und man kommt aus dem Sog des beschriebenen Kaffeekränzchens gar nicht wieder raus. Es gibt Obstkuchen und eine kleine Verstimmung zum Auftakt: »Zu-spät-Kommen paßt ihr nicht, das merkt man gleich.«

Und dann die ganze Lebensgeschichte, bis hin zu den für mich damals noch nicht offenen Geheimnissen ihrer Biografie. Dass sie Domin heißt, seit sie 1951 im Exil in Santo Domingo zu dichten begonnen hat etc. Nach dem FAS-Artikel mochte ich sogar diesen Film von Anna Ditges, von dem ich weiß, dass ihn manche wegen seiner, nun ja: Kindergartenfragen nicht so sehr schätzen.

Und dann die Hilde-Domin-Biografie von Marion Tauschwitz. Sehr schön zu lesen, wie Hildes »Tanzstundenfreund Hans Mayer« anscheinend ein Ass beim Foxtrott war.

Und dann Trujillo, ausgerechnet Trujillo, dieser komplett rassen­wahnige Diktator der Dominikanischen Republik, nimmt einige Juden, und so also auch Hilde und ihren Mann Erwin Walter Palm, als Exilanten auf. Weil er sein Volk aufweißen wollte! Man liest auch vom sogenannten Petersilien-Test, den Trujillo an der Grenze zum französischsprachigen Haiti, nun ja, veranstaltete:

»Um die schwarzhäutigen Wirtschaftsflüchtlinge aus Haiti von der helleren dominikanischen Bevölkerung zu selektieren, hatte der Diktator einen perfiden ›Sprachtest‹ anordnen lassen. Das gerollte ›R‹ im spanischen Wort für Petersilie, ›perejil‹, konnte von der französischsprachigen, dunkelhäutigen Bevölkerung nur als ›L‹ gesprochen werden. Wer also das Wort nicht spanisch artikulierte, wurde umgehend mit der Machete ermordet.« (S. 140)

Kurzum: Man nimmt weit mehr mit als die Biografie einer Exilantin, man reist durch ein ganzes skurriles Jahrhundert und mehrere Kontinente. Faszinierend bleibt die Geburt der Dichterin Hilde Domin aus der Brief-Korrespondenz mit ihrem Mann. Egal wo sie waren, machte er ja auf sympathisch solipsistische Weise sein Ding (Ausgrabungen oder Alt­philologie), während sie in erste Linie seine Sekretärin war, ihn dann aber plötzlich sozusagen mit der Poesie, die er nie draufhatte, überholte.

Und dann liest man sicher auch noch mal in ihren »Gesammelten autobiografischen Schriften« weiter. Und natürlich in ihren Gedichten, die irgendein Kritiker mal als »einfach, aber nicht einfältig« bezeichnet hat:

Ich habe niemand ins Licht gezwängt
nur Worte
Worte drehen nicht den Kopf
sie stehen auf
sofort
und gehn

 


Die FAS vom 13. 2. 2011:
»Nie wieder nach Leipzig«

Leipzig, 14. Februar 2011, 17:20 | von Paco

Es war Sonntag und wir gingen also doch noch in die Ausstellung, die das MDBK dem Fischmaler Michael Triegel gewidmet hat. Nach ca. einer halben Stunde hatten wir alle Zitate und Anspielungen auf allen Gemälden entschlüsselt und standen zum Abschluss im Raum mit dem großen Porträt von Benedikt XVI.

Ein Museumsbesucher Anfang 40, den wir zunächst für den Maler himself hielten, hatte sich zu uns gesellt und in ein Gespräch ver­wickelt. Es war aber eventuell doch nicht der Maler Triegel, mit dem wir da sprachen, denn er äußerte sich eher negativ über die hier ausge­stellten Bilder. Er hatte auch ein abschließendes Urteil parat, aber es gelang ihm nicht, dies in Worte zu packen.

Zehn Minuten später, als wir gerade das Museum verließen, klopfte er mir auf die Schulter und lieferte sein Urteil nach. »Die Bilder berühren mich nicht«, sagte er, das also war ihm vorhin nicht eingefallen, war in der Zwischenzeit nun aber offenbar formulierbar geworden. Wir be­dankten uns für den Nachtrag und gingen dann quer über den Markt zum Schaufenster der Buchhandlung Hugendubel. Wir dachten, dass dort vielleicht das neue Buch des grandiosen Kuh- und Scheiße­forschers Florian Werner stünde, »Dunkle Materie« (Nagel & Kimche), das gerade in allen Zeitungen lobend besprochen wird.

Das Buch ist aber noch sehr neu und war anscheinend noch nicht angekommen in der Buchhandlung. Deshalb hat es auch noch niemand ins Schaufenster gestellt, da müssen wir noch mal wiederkommen. Wir kauften uns irgendwo eine FAS und gingen dann ins Café Grundmann, wo es die FAS ja trotz breiter Zeitungsauswahl komischerweise nicht gibt.

Unter den besprochenen Premieren des Wochenendes war auch eine szenische Aufführung des Brecht/Dessau-Oratoriums »Deutsches Miserere« an der Leipziger Oper. Eleonore Büning hatte einiges auszusetzen, um es einmal milde auszu­drücken, der Text endete mit den Worten: »Unfassbar. Entsetzlich. Nie wieder nach Leipzig.« Das kam ganz überraschend, denn an einem 13. Februar denkt man ja eher »Nie wieder Dresden« oder so etwas.

Wir lasen den Artikel jedenfalls noch mal und noch mal laut vor. Selbst die schönsten Verrisse von Kerr oder Ihering verblassen vor einer solchen Wortgewalt. Besonders der Anfang ist sehr gelungen und sollte für uns auch den weiteren Verlauf des Tages bestimmen:

»Direkt neben der Nikolaikirche in Leipzig gibt es einen sehr guten Italiener mit sardischer Küche, die wirklich vieles wiedergutmachen kann und erst lange nach 23 Uhr schließt. Um es gleich zu sagen: Hat nicht geholfen. Diesmal nicht. Der im nur zwei Fußminuten entfernte Opernhaus verursachte Totalschaden war lokal nicht zu begrenzen.«

Achtung, die hier zitierten Stellen dürfen nicht davon ablenken, dass Büning bezüglich dieses musikalischen Abends auch vieles lobend erwähnt, zum Beispiel den Dirigenten, das Orchester, den Opern- und den Kinderchor sowie den gut trainierten Schäferhund, dem auch die Überschrift des Artikels gewidmet ist (»Guter Hund«). Und eben das italienische Restaurant auf dem Nikolaikirchhof, und dort reservierten wir dann gleich einen Tisch für später und freuten uns auf Seezunge und Tiramisù.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2010

Leipzig, 11. Januar 2011, 04:25 | von Paco

Und jährlich grüßt das Maulwurfstier. Heute zum *sechsten* Mal seit 2005, hier ist der Goldene Maulwurf 2010:

Der Goldene Maulwurf

Diesmal gab es noch bis kurz vor Schluss unüberbrückbare Differenzen. Unsere Top Ten ist ja nicht gerankt, sagen wir immer, trotzdem wird bis zum Schluss um die Platzierungen gefightet. Und hier war jetzt die Frage: Christopher Schmidt oder Mathieu von Rohr. Zwei vollkommen verschiedene Texte, und ein Kompromiss schien irgendwann nicht mehr möglich, zu sehr waren wir mit unseren jeweiligen Argumenten verschmolzen.

Es gab nur einen Ausweg: Die Entscheidung, die dann auch von allen akzeptiert wurde, fiel beim Tischfußball (ein Wegweiser auch für künftige Entscheidungen anderer Jurys!), selbstverständlich unter Ausschluss von Mittelreihenschüssen. Und das Christopher-Schmidt-Team siegte mit 10:7 gegen eine kämpferische Mathieu-von-Rohr-Seleção.

Schmidt hat den Goldpokal auch völlig zu Recht verdient, die Kaffee­hausfähigkeit seines von uns hier gefeierten Artikels ist wirklich be­achtlich. Noch Monate nach der Veröffentlichung haben wir Freunde, Bekannte und Fremde in shock and awe davon reden hören.

Und hier sind sie alle, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2010:

1. Christopher Schmidt (SZ)
2. Mathieu von Rohr (Spiegel)
3. Stefan Niggemeier (FAS)
4. Simone Meier (Tages-Anzeiger)
5. Jakob Augstein (WAMS)
6. Iris Radisch (Zeit)
7. Nils Minkmar (FAZ)
8. Michael Angele (Freitag)
9. Renate Meinhof (SZ)
10. Philipp Oehmke (Spiegel)

Auch der 2010er war wieder ein superster Jahrgang des deutschen Feuilletons. In den 10 Mini-Laudationes stehen nur einige Gründe dafür. Diese lassen sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007, 2008 und 2009 auch später noch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken.

Hä? Kein bester Text zur Sarrazin-Debatte? Den hätte es natürlich schon gegeben (evtl. Edo Reents‘ Buchmessenverfolgung?). Und kein Peter-Richter-Text diesmal? Auch das wäre möglich gewesen, big time sogar, wie immer (z. B. »Die Schlacht der großen Vier«, FAZ vom 22. 6. 2010, da hat ein Event genau den einen Autor gefunden, der es adäquat abbilden kann).

Auch nicht dabei ist ein absolutes Highlight aus der Abteilung ›Kunst­markt‹, David Granns wahnhafte Reportage über den Fingerprint-Kunstauthentikator Peter Paul Biro im »New Yorker«. Aber diese Story ist über 120.000 Zeichen lang und steht damit außer Konkurrenz, ist eher Sachbuch als Feuilletonartikel. Und auch die Berichterstattung der deutschen Zeitungen über den Fälscherskandal um die so genann­te »Sammlung Jägers« war ja nicht schlecht und las sich insgesamt wie eine hochspannende, abenteuerlich-moralische Fortsetzungsge­schichte, siehe die Nr. 9 unserer Hitliste.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Feuilletonismus 2010

Leipzig, 10. Januar 2011, 00:15 | von Paco

The Golden MoleIn wenigen Stunden, am Dienstagmorgen, 11. Januar 2011, kürt Der Umblätterer zum sechsten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergan­genen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2010).

Die (interne) Longlist war diesmal 49 Artikel lang. Das entspricht also pro Woche knapp einem Artikel, der unseren sicher fragwürdigen Kriterien irgendwie entsprochen hat, hehe. Danke, German Feuilleton!

Öfters hört man ja mal jemanden sagen: »DIE ZEIT ist wieder besser geworden.« Oder: »Die SZ ist wieder besser geworden.« Usw. usw. Solche Aussagen sind natürlich einer selektiven Wahrnehmung ge­schuldet (Probeabo?), denn die erwähnten Zeitungen waren ja nie schlecht, und noch immer gilt, was wir hier letztes Jahr behauptet haben (und was schönerweise auch das Grimme-Institut in die Begründung für unsere Nominierung übernommen hat): Wir haben es immer noch und immer wieder mit dem besten Feuilleton aller Zeiten zu tun.

Unser Kriterium ist ja, siehe hier, die Kaffeehausfähigkeit eines Zeitungsartikels. Es geht aber immer auch um den Zusammenhang Zeitung, um die etwaige Schönheit einer einzelnen formvollendeten Feuilletonseite. Es war ein großer Moment des Feuilletonjahres 2010, als Rainald Goetz am 8. April bei Harald Schmidt saß und eine Seite des FAZ-Feuilletons hochhielt, links ein Hettche-Artikel, rechts ein Bild, und dazu die Worte sprach: »Ich finde, das schaut einfach super aus irgendwie.« (YouTube, bei Min. 1:25)

Es gab im letzten Jahr überraschende Coups wie den Plagiatstext von, ähm, Durs Grünbein in der FAZ (nur echt mit den doppelten Anfüh­rungszeichen) und den Recap des Bachmann-Wettlesens von Airen in der FAS. Überhaupt gab es viel Meta-Polterei zum Literatur- und Rezensionsbetrieb (z. B. Jörg Sundermeier in der »Jungle World«, Sibylle Lewitscharoff in der »Welt«, Arno Widmann in der FR, Martin Hielscher und Helmut Böttiger in der SZ). Und es gab ein sagenhaftes Nicht-Interview, das Johanna Adorján mit Reich-Ranicki geführt und das offenbar immer noch so viele Fans hat, dass einige von ihnen uns Mails schickten und verlangten vorschlugen, es in die Top Ten aufzunehmen.

Das war jetzt ein kurzer Rückblick nur auf die Literaturberichterstat­tung des letzten Jahres. Das Feuilleton, dieser »nicht enden wollende Gegenwartsroman mit all seinen literarischen Glanzpunkten und inhalt­lichen Schrecklichkeiten«, war natürlich viel reicher. In ein paar Stunden dann, wie gesagt, mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005
*   2006   *
*       2007       *
*   2008   *
2009

Bis Dienstag im Morgengrauen,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Die FAS vom 12. Dezember 2010:
Nougattorte, Wirtschaftsteil, Runge

Hamburg, 12. Dezember 2010, 23:45 | von Dique

Was davor geschah

Auf dem Weg zur Konditorei Lindtner in Eppendorf, die FAS in der Manteltasche. Ich mache die letzten Schritte auf die Eingangstür zu, vorbei an einem beleibten und unscheinbaren Paar Ende 40, Typ Wochenendurlauber.

Als die Frau bemerkt, dass ich dasselbe Ziel habe wie sie und ihr Mann, rennt sie plötzlich kurzentschlossen los und an mir vorbei, wackelnd wie ein kleiner Elefant, das Gesicht zwischen Anstrengung und Empörung. In der Netztasche ihres Outdoor-Rucksacks plätschert in einer Halbliter-Cola-Light-Plastikflasche das nachgefüllte Leitungswasser.

Fassungslos über soviel Ehrgeiz betrete ich die Konditorei und sehe, wie sich die beiden Urlauber aus ihren Outdoorjacken schälen und befriedigt niederlassen. Der Kampf der beiden um die letzten freien Plätze war aber voreilig, das Lindtner ist im Moment nur zur Hälfte gefüllt.

Ich bestelle eine Tasse Kaffee und, Hauptgrund für mein Hiersein: ein Stück von der Nougattorte. Am Tisch neben meinem sitzt ein Mann mit abgelegtem Hut, der seine FAS schon aufgeblättert vor sich hält. Er schöpft gerade den letzten Schaum aus seinem Latte-Macchiato-Glas, als zwei ältere Herren auf ihn zugestürzt kommen und behaupten, dass der Tisch gar nicht frei gewesen sei.

Jedenfalls schnappt sich der eine erbost ein Gläschen vom Rand des Tisches, in der nicht mehr als noch ein Schluck Orangensaft schwappt. Der Hutmann lacht die beiden auf sympathische Weise aus und vermeldet, dass er da jetzt schon 30 Minuten an diesem Tisch sitze und Zeitung lese. Die Bedienung kommt herbeigeeilt und beschwichtigt, und bald verschwinden die beiden älteren Herren nach draußen, die Mäntel hatten sie eh schon übergezogen.

Was in der FAS geschah

Ok, wie immer lese ich zuerst den Wirtschaftsteil. Der sogenannte »Sonntagsökonom« gefällt mir heute mal sehr gut, es geht um Prognosemodelle, und in der Literaturliste wird das »International Journal of Forecasting« erwähnt, was für ein schöner Titel!

Auf der nächsten Seite steht ein Interview mit Norbert Rethmann, der gleich zu Beginn zu Georg Meck sagt: »Ich stelle fest: Dies ist mein erstes großes Interview. Übrigens nicht, weil ich Sie unbedingt kennenlernen wollte.« Meck nennt ihn im Gegenzug »Europas Müllkönig«, auch nicht schlecht, und es geht also leicht provokativ zur Sache, in diesem Fall vor allem um Müll und Schrott, mit deren Entsorgung bzw. Recycling Rethmann aus einem kleinen Familienunternehmen einen weltweit agierenden Konzern geschaffen hat.

Nach dem Umblättern wird es erwartungsgemäß krisig, Lisa Nienhaus spekuliert auf einer Doppelseite über die Rückkehr der D-Mark, Petros Markaris (Berufsbezeichnung: »griechischer Krimiautor«) erzählt im Gespräch mit Winand von Petersdorff, wie leer die Straßen Athens inzwischen leider seien: »Athen ist so tot wie eine Kleinstadt in Skandinavien.« Und Lena Schipper schreibt einen beeindruckend schneidigen Artikel über die Hochschulreform in England, die ursprünglich von Lord Browne angeregt wurde, dem ehemaligen BP-Chef (und nunmehrigen Peter Hartz des englischen Universitätswesens).

So vergeht eine kleine Weile, und es bleibt eigentlich jetzt keine Zeit mehr fürs Feuilleton, ich schaffe vor lauter Zeitdruck nur Jan Freitags sensationelles Interview mit Gung aus der »Lindenstraße«.

Was in der Kunsthalle geschah

Aber nun muss ich Paco treffen, er war zu einem Stück Nougattorte im Lindtner nicht zu überreden gewesen und wartet nun am Bühneneingang des Schauspielhauses, wo er sich noch angeregt und lachend mit der Einlassfrau unterhält, als ich ankomme. Das Gung-Interview hat er ebenfalls längst gelesen, und schon sind wir auf dem Weg zur Kunsthalle, um die allseits gepriesene Runge-Ausstellung zu sehen.

Regelrecht erschrocken gehen wir durch die Räume! Die Ausstellung ist zwar didaktisch ein Hit, siehe Swantje Karich in der FAZ, aber in so einem Gesamtüberblick macht die Lokalgröße Runge einfach keinen Spaß, seine mittelmäßige Begabung überschreitet selten die Qualität gehobener Akademiestudien.

Am Schlimmsten sind aber eigentlich die »Hülsenbeckschen Kinder«, leblos wie tote Puppen stehen sie da vor dem Gartenzaun, zum Fürchten! Also schnell weiter ins kunsthalleneigene Café Liebermann, und plötzlich ist alles wieder gut: Nougattorte!
 


Notiz über Henning Ritter

Konstanz, 22. November 2010, 15:41 | von Marcuccio

Die »Notiz über Kitsch« war einer unserer Lieblinge im Feuilletonjahr 2007. Unter anderem gefiel uns, wie anlassfrei es dieser Text in die FAS geschafft hatte. Passend zum Thema und zu den neulich im Berlin Verlag erschienenen »Notizheften« steuerte Eckhard Fuhr nun eine »Welt«-Notiz über Henning Ritter bei:

»Ritter und ich fingen etwa zur selben Zeit bei der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ an, er im Feuilleton, wo er die Seite ›Geistes­wissenschaften‹ erfand, ich in der politischen Nachrichtenredaktion, wo ich das journalistische Handwerk lernte. Wir trafen uns fast jeden Tag in geselliger Runde dort am großen Kühlschrank, um nach getaner Arbeit ein Fläschchen Binding Römerpils zu trinken.«

Man beachte auch den hübschen Nachsatz:

»Ritter war einer der wenigen Feuilletonisten, die regelmäßig aus ihren Redakteursstübchen in den Nachrichten-Maschinenraum der Zeitung hinabstiegen.«

Die Raummetaphorik ist jedenfalls mal wieder evident, semiotisch mindestens so gefällig wie wenn Matussek seine »Spiegel«-Sekretärin »runter in die Dokumentation« schickt (vgl. das legendäre rebell.tv-Video). Innerredaktionelle Ressorthierarchien im Spiegel ihrer vertikalen Gebäudebelegung. Wäre mal eine schöne Seminararbeit für alle Organisationspsychologen.

Ritter und das Römerpils

Laut Fuhr konnte Ritter das Römerpils, »welches zwar Nieren- und Blasentätigkeit ungemein stimuliert, nicht unbedingt aber die intellektuelle Spannkraft«, auch deswegen so gut ab, weil er seine Notizen hatte. Weil Ritter sich praktisch überall und pausenlos Notizen machte, hatte er seine Notizenscheune immer gut gefüllt. Frei nach Montesquieu, auf den sich Ritter am Ende seiner »Notizhefte« beruft, sind Notizen

»Einfälle, die ich nicht weiter vertieft habe und die ich aufbewahre, um bei Gelegenheit über sie nachzudenken.«

Mehr Mut zu Montesquieu, sagt nun Fuhr:

»Wenn man es so betrachtet, macht man als Journalist sein Leben lang nichts anderes als Notizen. Nur bewahren wir unsere Einfälle nicht auf, um später in Ruhe über sie nachzudenken, sondern wir werfen sie sofort dem Publikum zum Fraß vor.«

 


Achtung, Prominente dieser Welt:
Fragen Sie Reich-Ranicki jetzt!

Konstanz, 16. November 2010, 09:27 | von Marcuccio

Vorgestern in der FAS stellte Handke-Biograf Malte Herwig persönlich eine Handke-Frage an MRR. Das ist einerseits natürlich paratextuelles Branding, andererseits vorschriftsmäßig unterhaltsam (die feinen Unterschiede eben mal wieder). So wie wenn Christoph Poschenrieder Schopenhauer-Verballhornungen sammelt.

Es gab in den letzten Wochen übrigens einen richtigen Promi-Stau beim Literaturpapst. Trendsetter scheint auch hier mal wieder »der alte Schirrmacher« (Matussek) gewesen zu sein (26.08.2007, 01.06.2008). Seit der Sommerpause traten dann diese Personen als Fragesteller auf:

Iris Berben (19.09.2010)
Claudia Roth (26.09.2010)
Bernd Neumann (03.10.2010)
Jürgen Flimm (31.10.2010)
Malte Herwig (14.11.2010)

›Reich-Ranicki-Fragesteller‹: ab sofort also ein stark distinktiver Gruppierungsbegriff wie ›Leute, die mit Goethe speisten‹, ›Kellner, die Thomas Mann bedienten‹, ›Politiker, die Ernst Jünger aufsuchten‹.