Archiv des Themenkreises ›Filmakademie‹


Joels & Ethans wunderbare Welt
25 Jahre Coen-Kino — Eine Retrospektive

Hamburg, 2. Februar 2010, 07:55 | von San Andreas

Loren Visser, Evelle Snoats, Bernie Bernbaum, Jack Lipnick, Waring Hudsucker, Jerry Lundegaard, Uli Kunkel, Wash Hogwallop, Freddie Riedenschneider, Rex Rexroth, Goldthwaite Dorr, Anton Chigurh, Chad Feldheimer, Dick Dutton

Was soll man von Filmen halten, in denen die Figuren Namen tragen wie diese? Nur das Beste, wie sich herausstellt. Was wäre das Kino der letzten 25 Jahre ohne die Gebrüder Coen: Sie etablierten mit ihrem Debüt »Blood Simple.« (nur echt mit dem ».«) die amerikanische Independent-Szene, schufen mit »Fargo« einen modernen Klassiker, kreierten mit Jeff »The Dude« Lebowski eine kultisch verehrte Ikone, verhalfen dem Bluegrass-Folk mit »O Brother, Where Art Thou?« zu einer überraschenden Renaissance, stemmten mit »No Country for Old Men« eine der besten Literaturverfilmungen überhaupt. Ihr neuester Film »A Serious Man« zählt als ihr wohl persönlichster, wärmster und nachdenklichster Film bereits jetzt zum Besten, was sie je gemacht haben.

Man sagt, die Coen-Brüder seien ›der Regisseur mit zwei Köpfen‹. Es soll unerheblich sein, ob man während eines Drehs eine Frage an Joel oder Ethan richtet; man würde dieselbe Antwort erhalten. Noch nie wurde an einem Coen-Set beobachtet, dass die Brüder in Streit geraten würden. Nicht ein einziges Mal. Sämtliche Aufgaben teilen sie sich: Sie schreiben zusammen, sie produzieren zusammen, sie führen zusammen Regie, sie schneiden zusammen. Eine schon fast unheimliche Allianz.

Sie funktioniert indes seit 14 Filmen, seit einem Vierteljahrhundert. Ihre imposante Karriere ist eine der respektabelsten Hollywoods und vor allem eine, die am konsistentesten Qualität zu liefern vermochte (es gibt ein schwarzes Schaf in der Familie der Coen-Filme und vielleicht noch ein oder zwei hellgraue). Stellte sich kommerzieller Erfolg ein, ließen sich die Coens dadurch nie von der Tagesordnung abbringen. Schreiben, Filmen, Schreiben, Filmen. Das letzte Mal verfassten sie drei Drehbücher am Stück (»No Country for Old Men«, »Burn After Reading«, »A Serious Man«), um dann drei Produktionen in Reihe zu schalten.

Ihre Filme mögen teilweise an Kaliber zugenommen haben, blieben vom Charakter her aber stets eigenwillige, unbestechlich konsequente Filme, geprägt vom typischen skurrilen, subversiven Stil der Coens und ihrem unfehlbaren Händchen für Charaktere und Dialoge. Die schöpfe­rische Integrität, die allen Poren ihrer Filme entströmt, die charakte­ristische Handschrift sowie die Tatsache, dass sie oft mit denselben Technikern und Darstellern zusammenarbeiten, macht sie per Definition zu Autorenfilmern; und sie sind unter denen wohl die einzigen, die sich durchaus in dem aufhalten, was wir Mainstream nennen, sich A-List-Stars leisten können und messbare Einspielergebnisse erzielen.

Wer wäre denn da noch? Gus Van Sant betreibt Eigenbrötlerkino auf hohem Niveau, ist abwechselnd sperriger und artiger als die Coens. Jim Jarmusch genießt großen Respekt; seine Filme sind introvertierter und unzugänglicher als die der Coens. David Lynch gehört zum guten Ton, er macht abgründiges, sinistres Rätselkino, gerne ohne Lösung. Wes Anderson teilt mit den Coens den Sinn fürs Skurrile, pflegt überdies einen ähnlichen Ausstattungswahnsinn, aber er ist kein Erzähler.

Die Coens besetzen eine eigene kleine Nische, ihre Filme verquicken Anspruch und Amüsement auf wunderbare Weise, sie sind originell und kunstvoll, schämen sich aber nicht ihres Unterhaltungswertes. Sie verlieren sich selten in Launen, bürsten zwar sanft gegen den Strich, bleiben aber stets an der Erzählung orientiert und sind dadurch in der Regel immer gut verdaulich.

Grenzt sich die Coen-Nische thematisch ab? Abgesehen davon, dass ein Großteil des Coen-Œuvres das Verbrechen als narrativen Motor heranzieht (beliebt sind Mord, Betrug und Entführung, und oft geht dabei etwas schief), findet sich kein richtiger roter Faden. Machen die Coens Genre-Kino? Krimis, Thriller, Komödien? Auch nicht. Joel und Ethan kennen freilich die Winkelzüge des Kinos, sie verstünden es mühelos, einen waschechten Noir oder eine astreine Screwball-Comedy auf die Beine zu stellen (Fingerübungen dieser Art finden sich in ihrer Filmografie). Aber viel lieber lassen sie Konventionen links liegen; sie kidnappen Genres und verbiegen die Schablonen nach ihrem Gusto. Dabei machen sie keinen Hehl aus ihrer Liebe zu klas­sischen Formen des Kinos und der Literatur, lassen ihre Filme aber nie zur schwerfälligen Hommage geraten. Sie injizieren das, was man mittlerweile den ›Coen Touch‹ nennt.

Gerne lassen sie ihre Geschichten in der nicht allzu weit zurückliegen­den Vergangenheit spielen (»Fargo«: 1987, »The Big Lebowski«: 1991, »No Country for Old Men«: 1980), bringen aber auch längst vergange­ne Epochen auf die Leinwand: die Prohibitionszeit der 30er Jahre (»Miller’s Crossing«), die Zeit der Depression in den Südstaaten (»O Brother, Where Art Thou?«), das Leben jüdischer Gemeinden zu Beginn der Flower-Power-Ära (»A Serious Man«). Die Geschichten sind allerdings immer fiktiv, nie historisch; die jeweilige Epoche liefert lediglich den kulturellen Hintergrund, die Region das Lokalkolorit, welches in den Händen der Coens oft ein faszinierendes Eigenleben entwickelt.

Zu den Markenzeichen der Coen’schen Filmlandschaft zählen dicke Menschen, schnell redende Menschen, schreiende Menschen, in Dialekten sprechende Menschen, ferner Menschen, die auf bizarre Weise ums Leben kommen. Die Coens lassen die Kamera gerne eine Straße entlangfahren oder auf ein Gesicht zu, einige ihrer Filme beginnen mit Landschaftsaufnahmen und einem launigen Voiceover, sie lieben mit Musik unterlegte Montagesequenzen und zitierbare Oneliner. Unverkennbar ist eine frappante Vorliebe für runde, sich drehende Objekte: sie können die Form von Ventilatoren, Hula-Hoop-Reifen, Radkappen, fliegenden Untertassen, Pomadedosen oder Bowlingkugeln annehmen. Nur Spielerei, eine fixe Idee, oder steckt da eine Art Code dahinter?

Vorsicht! Man hüte sich, im Werk der Coens zu viel Bedeutung zu suchen. Querverweise und Metaphern sind da, warten aber nicht auf ihre Entschlüsselung. In Interviews winden sich Joel und Ethan regel­mäßig bei der Frage, was ihr jeweiliger Film denn bedeuten würde und warum dieses oder jenes Element so und nicht anders konstruiert wäre. Häufige Antworten sind dann »We were just thinking it felt right.« oder »It just goes where it goes.« Ihr Kino ist zu großen Teilen eines, das sich selbst genügt, ohne philosophischen Überbau aus­kommt. Es ist typischerweise nicht darauf aus, die Welt zu erklären, es trägt keine Botschaft, ist nicht politisch, ist nicht allegorisch.

Schlimm ist das nicht, im Gegenteil: Die Abwesenheit von verquasten Metaebenen gibt den Blick frei auf das natürliche Wesen nicht nur des Coen-Kinos, sondern des Kinos schlechthin, auf das schiere Funktionie­ren seiner Sprache. Die Coens tragen keine Aussagen, keine Kunst in den Film hinein, und trotzdem ist die Erfahrung so erfüllend wie bei drei Greenaways zusammen. So unterschiedlich oder abstrus die Themen der Coen-Filme auch sind, sie fühlen sich echt an, unaufdringlich und ehrlich, zwar überlegt, aber nicht überlegen.

Als Macher und Künstler geben sich Joel und Ethan wohltuend be­scheiden und unprätentiös, und sie sind es auch; ihre Filme kommen so gekonnt wie gelassen daher. Sie buhlen nicht um Anerkennung, scheinen einzig und allein dem Kino verpflichtet, und sonst niemandem – nicht dem Studio, nicht dem Kritiker, nicht dem Publikum.

Nicht dem Publikum? Könnte man etwa sagen, die Coens liebten das Kino mehr als ihre Zuschauer? Weit hergeholt ist die Idee nicht, wie­wohl die Rechnung für den Zuschauer dennoch aufgehen kann – wenn nämlich der das Kino genauso liebt wie die Coens, und ihnen, den Machern, ihrer Weltsicht und ihrem Humor noch eher verbunden ist als dem Film und seinen Figuren. Fehlt einem dieses Einverständnis, mag man eine gewisse klinische Kühle wahrnehmen, die tatsächlich vielen Coen-Werken innewohnt – ein unbestimmtes Gefühl der Distanz, ein impliziter Sentiment, der nicht da ist und den man nicht nachahmen kann, auch wenn der Film noch so ausgereift ist.

Dann und wann aber geschieht es, dass ein Coen-Film seine Charak­tere wirklich gern hat, dass er diese besondere Wärme ausstrahlt, die den Film öffnet und ihm die Fähigkeit verleiht, nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt zu werden. Präzise dann ist es der Fall, dass ein Werk der Coens die letzte Stufe von der Exzellenz zur Perfektion zu erklimmen vermag. Dem eher intellektuellen Genuss gesellt sich ein emotionaler hinzu, und der macht die Sache rund. Die Kritiker sprechen dann von ›Meisterwerk‹ und ›Geniestreich‹, und einer formulierte es sogar so, ohne die geringste Furcht vor Widerspruch: »In a perfect world, all movies would be made by the Coen brothers.«

*

Was in den nächsten Tagen folgt, ist ein Film-für-Film-Durchmarsch des kompletten Coen-Kanons, von 1984 bis 2009: 25 Jahre, 14 Filme, jeden Tag einen. Ein Hinweis für Coen-Neulinge: Die Texte können Spuren von Spoilern enthalten:

Blood Simple. (1984)
Raising Arizona (1987)
Miller’s Crossing (1990)
Barton Fink (1991)
The Hudsucker Proxy (1994)
Fargo (1996)
The Big Lebowski (1998)
O Brother, Where Art Thou? (2000)
The Man Who Wasn’t There (2001)
Intolerable Cruelty (2003)
The Ladykillers (2004)
No Country for Old Men (2007)
Burn After Reading (2008)
A Serious Man (2009)
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (1/2010)

Paris, 1. Februar 2010, 07:01 | von Paco

In Island

  ∙ für Julien Louis Geoffroy ∙  

1. The Maulwurf has landed! Ausgabe 5, für das Feuilletonjahr 2009, ergänzt von einem Umbl-Interview bei DRadio Kultur: »Das Feuilleton lauert überall.« – 12. Januar 2010, mp3

2. Vor ein paar Jahren, im Café Cantona: Die Erfindung des Umblätterers.

3. Das neue Outfit der Literaturzeitschrift EDIT, aua! Dieses Apothekerblau, und die Frontpage sieht aus, als ob die eigentliche Frontpage mutwillig ausgerissen wurde. Was ist da passiert? WER IST DAFÜR VERANTWORTLICH!

4. Auch wenn Christian Kracht inzwischen von Guido Westerwelle bevorwortet wird, wogegen sich leider niemand wehren kann, und jetzt hab ich das Ende des Satzes vergessen. Jedenfalls, der gerade erschienene Band »Christian Kracht« ist voller primärer Sekundär­literatur und eine uneingeschränkte Empfehlung wert. Eckhard Schumacher in Bestform! Und die erste apokryphe Schrift zum Band ist bereits hier im Umblätterer erschienen: »Der Eisenbahner Christian Kracht«.

5. »Zum 80. Geburtstag von Rainald Goetz.«

6. Immer noch die germanistische Königsdisziplin: die Aufzählung aller Teilbände der »Römischen Octavia«.

7. Seit dem 25. November 2008 kündigen wir hier so regelmäßig wie großspurig die große Coen-Brothers-Retrospektive an, eine Werkmonografie über alle bisherigen 14 Coen-Filme. Seit über einem Jahr war sie »so gut wie« fertig, und jetzt musste noch »A Serious Man« laufen, und jetzt ist es dann angeblich soweit. Der reguläre Betrieb setzt aus, hier gibt es dann zwei Wochen lang In-depth-Film-Feuilleton von San Andreas.

8. »Lost«, die sechste Staffel, das Finale, ab dem 2. Februar auf ABC. Wir sind beim narrativen Showdown dabei, Folge für Folge, wie immer (our very own Episodenführer). Nach dem ganzen zusammenge­stückelten SciFi-Brei in den Staffeln 4 und vor allem 5 kann es eigentlich nur schlecht enden, hehe. Bisheriger dramatischer Tiefpunkt ist natürlich der Satz von Locke bzw. dessen Resurrection-Double: »I think this is the best mango I’ve ever eaten.« (Folge 5.07) Die Recaps starten hier dann irgendwann nach der Coen-Brothers-Werkschau.

9. Hehe.


Was haben die Basterds uns gebracht?

Hamburg, 9. November 2009, 08:00 | von San Andreas

»Inglourious Basterds« gab uns auf jeden Fall die Gelegenheit, wieder einmal David Bowies »Cat People« zu hören. Und das ist schön. Etwas unvermittelt bricht der Glamrock zwar ein in die späten Kriegsjahre, aber auf derlei sorglosen Eklektizismus muss man bei Tarantino ja gefasst sein. Seine Filme wähnt man an der Speerspitze moderner Filmkultur, stets erwartet man Neues, Großes. Doch was von den »Basterds« bleibt – zumindest für eine kleine Ewigkeit – tatsächlich hängen im kollektiven Filmgedächtnis?

Seit elf Wochen läuft der Film jetzt, über zwei Millionen Bürger wollten ihn sehen, allerorten war er der talk of the town. Wieland aus Dresden brachte es mit einem Hinweis auf die außerordentliche Beliebtheit der Basterds in Deutschland zum letter of the month in der (englischen) »Empire«. Und irgendjemand meinte, der Film wäre der beste des Jahres, neben »Frost/Nixon«. Really.

Nun sind die zahlreichen Vorschusslorbeeren gegessen, der Hype ist abgeflaut, die Sensation verblasst. Was übrig bleibt, ist der Film. Und bei Lichte besehen offenbart er doch die eine oder andere Schwäche.

Zum Beispiel die flatterhafte Ästhetik, ist die jetzt gut oder schlecht? Wir erleben ein Stelldichein der Genres, ein wildes Haschmich der Versatzstücke: Der Italo-Western geht auf im Zweiten Weltkrieg, »The Wild Bunch« trifft Grimms Märchen, Leone und Lubitsch geben sich die Klinke in die Hand, das Dreckige Dutzend erscheint im Smoking und macht auf witzig.

Anderen Regisseuren hätte man vorgehalten, sie wüssten zum Geier nicht, welchen Film sie denn nun drehen wollten, Tarantino hingegen wird postwendend ein genialer Stilmix bescheinigt. Na klar, er ist ein Profi, er hat so viel auf der Pfanne, er wird doch wissen, was er tut? Seeßlen schreibt stante pede ein ganzes Buch über den Film, erklärt das Durcheinander zur neuen Ordnung und pamphletisiert über einen neuen Antifaschismus. Gut, Kunst ist auch, was man draus macht. Schaut man sich aber die stilistische und narrative Geschlossenheit früherer Werke an, muss man sich schon wundern. Ziellos wirkt das, unausgegoren, beliebig.

Ein Glück, dass die Episoden in sich oft funktionieren, und siehe da: Ein paar davon gerinnen tatsächlich zu Kleinoden großer Filmkunst. Da gibt es unverschämt lange, meisterlich choreographierte Dialogpassagen, Kammerspiele, die ihre Kraft aus sich selbst heraus entwickeln, die in ihrer klaren Intuition einfach funktionieren, ohne Brimborium und Beiwerk. Sie sind unbestritten die Stärke des Films.

Und dann gibt es da noch das Brimborium und das Beiwerk. Als müsse Tarantino seinem Avantgarde-Ruf Genüge tun, verteilt er neckische Gimmicks im Film, die dessen ohnehin heterogenes Gerüst weiter fragmentieren; sie tauchen zu sporadisch auf, als dass sie ästhetisch Sinn ergeben würden. Da durchbrechen unversehens fremde Erzähler den Fluss, da blitzen Rollennamen in Exploitation-Gelb über Standbildern, da geben hibbelige Montagen überflüssige Hintergrundinformationen.

Den Einschub über das brennbare Filmmaterial zum Beispiel leistet sich Tarantino doch offenbar nur, um einen kleinen Hitchcock-Schnipsel unterbringen zu können. Ansonsten hatte der Dialog bereits klargestellt: Das Zeug brennt. Und wenn eine Rückblende das Publikum noch mit der Nase drauf stößt, dass es sich bei dieser jungen Frau eben um genau jenes Mädchen vom Anfang des Films handelt, spricht Tarantino dem Zuschauer wieder die Intelligenz ab, die er ihm während der ausufernden, ausgefeilten Dialogszenen unterstellt.

Selbige reißen selbstverständlich viel raus. Unvergessen bleiben wird der dräuende Wahnsinn der Auftaktszene im französischen Landhaus, der geniale Dialog, die schlichte Präzision. Selten war Tarantino ernsthafter, nie war seine Inszenierung profunder, feinfühliger, einnehmender. Der Zuschauer merkt sofort: Hier geht es um was. Das ist nicht der verspielte Tarantino, das sind keine coolen Ganoven, die »Seinfeld«-Dialoge zum Besten geben.

Hier versammelt sich die Essenz dessen, was »Inglourious Basterds« hätte sein können: eine feine Beobachtung des menschlichen Naturells, eine frische Analyse verkrusteter Rollenmuster. Die Eloquenz des Scheusals, die perfide Rhetorik des Bösen, die ewige Gefahr elitären Kalküls. Die Hybris seziert in Verbalpracht Marke Tarantino.

Aber ach, wie schnöde dann schon die nächste Episode, ihre stilistische Unvereinbarkeit kaschiert mit Schwarzblende und Zwischentitel. Die Basterds, dieses A-Team des Widerstands, werden vorgestellt, und der Film verfällt in tarantineskes Hommage-Potpourri, komplett mit markigen Dirty-Dozen-Sprüchen, Spaghetti-Musik und einer original Peckinpah-Zeitlupe.

Da sind auch drastische Bilder nicht weit. In Großaufnahme wird da skalpiert, ein Baseballschläger todbringend zweckentfremdet, Stirnpartien mit dem Dolch verziert. Dass eine komplette Szene ihre Spannung daraus bezieht, dass alsbald ein Schädel zerdroschen werden wird, ist nicht nur grundsätzlich fragwürdig, es ist auch nicht eben subtil. Unwillkürlich beschleicht einen das Gefühl, hier nicht der grausamen Realität des Krieges ausgesetzt zu sein, sondern den Ausgeburten des kranken Hirns des Regisseurs.

Warum der Mann seine Filme permanent mit ordinären Splatter-Effekten glaubt würzen zu müssen, ist anybody’s guess. Unablässig jubelt er dem Publikum Widerwärtigkeiten unter – stilvoll umgesetzt zwar, obszön nichtsdestoweniger. Statt effektivem Entsetzen bemüht Tarantino affektive Abscheu, und das ist immer die schlechtere Wahl. Das mag manch einem zwar gefallen, aber gefallen tut der Film an diesen Stellen in erster Linie sich selbst.

Und nebenbei – der riesige Aufwand, mit dem die Figur des Sgt. Donny »Bear Jew« Donowitz (Eli Roth, Großmeister des Torture Porn) eingeführt wird, rechtfertigt sein Nebenröllchen im Rest des Films in keiner Weise. Überhaupt besteht die komplette Mannschaft der Basterds aus uninteressanten Schergen-Schablonen; man fragt sich, wieso der Film nach ihnen benannt ist. Selbst ihr Anführer, Brad Pitt als Lt. Aldo Raine, gerät zur Kentucky-Karikatur, die Untertitel vermissen lässt und irgendwann auf die Nerven geht.

Tarantinos Augenmerk liegt vielmehr – kaum eine Überraschung – auf der Psychologie der Bösewichte. Allerdings interessiert er sich nicht für die seelischen Abgründe des Nazifaschisten im Speziellen; er spielt lieber mit der Idee des gewandten Gentleman-Gangsters, dessen einnehmendem, doch bösartigen Wesen. In dieser Rolle geht Christoph Waltz allerdings vollständig auf; seinen Hans Landa in einwandfreiem Französisch süffisant parlieren zu erleben ist allein das Eintrittsgeld wert.

Überhaupt ist Tarantinos Entscheidung, sämtliche Charaktere in ihren jeweiligen Mutter- und Fremdsprachen reden zu lassen, unbedingt zu begrüßen; sie sollte Schule machen. Dieser Kniff verleiht dem Film eine weltläufigen Charakter und gerade das Quäntchen Authentizität, das den meisten Tarantinos zuvor naturgemäß abging.

Bei allem Gerede über Tarantinos Beitrag zum Zweiten Weltkrieg muss man aber bedenken: Nicht die Weltgeschichte gab Tarantino dieses Sujet, sondern die Filmgeschichte. Den Titel von einer drittklassigen Ballerklamotte entliehen, ist es aber nicht einmal der Fundus der Kriegsfilme, bei dem er sich am meisten bedient; daher stammen nur die Uniformen und die groben Zusammenhänge. Der Rest fügt sich keinen Konventionen: Von Western bis Screwball kann alles passieren.

Es gelten nicht die Regeln des Krieges, sondern die Launen des Tarantino. Ihn interessieren keine Kampfhandlungen, die Front lässt er aus (sie kommt nur als Film im Film vor, eine feine Idee). Auch beklemmende Aspekte blendet er aus, die Opfer, die Lager, die Gräber. Trotzdem kommen natürlich Leute ums Leben. Doch sie werden nicht getötet; sie werden ermordet (wir erinnern uns an Lee Marvin in »The Big Red One«, der das Umgekehrte predigte). List und Tücke braucht es dazu, vieles ist Schauspiel, vieles ist Schein, es wird verkleidet, es wird enttarnt. Der Krieg als Spiel.

Wenn man denn will, kann man den Szenen schon einiges entnehmen, sagen wir Gedanken zu Rassismus und seiner Legitimation, zu Widerstand und Idealismus, zu Heldentum und Propaganda. Dennoch muss man konstatieren, dass es sich hier nicht um einen Kriegsfilm mit Tarantino-Touch handelt, sondern um einen Tarantino-Film im Kriegsgewand. So sucht sich auch des Regisseurs unbändige Liebe zum Kino gerade diesen Film aus, um unverblümter als sonst zutage zu treten; praktisch alle Beteiligten unterhalten sich über Filmkunst, eine Schauspielerin (hölzern: Diane Krüger) bildet die Schnittstelle zwischen Besatzern und Befreiern, und am Ende opfert Tarantino gar ein komplettes Lichtspieltheater für den guten Zweck.

Tarantinos Stilmittel ergeben im dennoch quasi-historischen Umfeld ungeahnte, durchaus erfrischende Effekte, vor allem da die geläufigen Rollenmuster bereits ungefragt einen Bedeutungsvorrat in den Film mitbringen. So birgt die Konstellation aus einer Jüdin, einem Nazi-Offizier und zwei Portionen Apfelstrudel mit Sahne automatisch ein hohes dramatisches Potenzial.

Das beutet Tarantino weidlich aus. Die Unwucht im besetzten Land entfacht Wut und Verzweiflung auf der einen, ein Gefühl der Überlegenheit auf der anderen Seite. Und so entladen sich scheinbare Alltagssituationen – es wird geplänkelt und gespielt, gegessen und getrunken, man geht ins Kino – nach einem Suspense-Anlauf regelmäßig in Salven von Gewalt. Ein effektives, wenn auch zu oft bemühtes Rezept.

Als das Blatt sich wendet, erweist sich die eisenharte Ideologie des Berufszynikers Landa auch nur als ein Ideenkorsett, das man abstreifen kann, wenn die Situation es gebietet. Das ist nur zu menschlich, schließlich ist jedem Individuum von Natur aus ein gewisser Eigennutz mitgegeben. Landa erhält trotzdem seine Strafe, genauso wie die komplette Führerriege. Das Attentat gelingt, das Gemetzel des großen Showdowns reißt Hitler und Kollegen mit in den Tod, Stauffenberg hätte seine Freude gehabt.

Viel bewundert wurde Tarantinos Chuzpe, dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte keinen Respekt zu zollen. Nun ist es nicht so, als würden wir Zeuge der epochalen Loslösung vom Diktat der Historie. Jede alternate history bringt bessere Einsichten als dieser utopische Schlenker (Stephen Fry beispielsweise macht in »Making History« Hitlers Geburt ungeschehen, mit erstaunlichen Konsequenzen). Das Besondere liegt in der Art und Weise, wie Tarantino den Führer abtreten lässt. Den Film über auch kaum mehr als eine geifernde Fratze, gönnt er ihm keinen großen, seiner historischen Bedeutung gebührenden Abgang. Hitler geht am Ende einfach mit drauf, fertig.

Und dafür haben wir Tarantino gern. Er hat immer noch eine Überraschung im Ärmel, und seine sichere inszenatorische Hand hebelt so manche kleinliche Krittelei aus. »Inglourious Basterds« wäre sein bester Film seit »Pulp Fiction«, stand zu lesen. Mag sein. Mit Sicherheit der interessanteste. Sein Name steht für inspiriertes Spartenkino, für perfekt gemachten Trash, für explizite, aber ästhetisierte Gewalt. Er erhob das Filmzitat zur Kunstform, betrieb Genrelifting in großem Stil und gab dem Kino so manchen revitalisierenden Impuls.

Freilich trägt er die Narrenfreiheit, die er genießt, bisweilen vor sich her, und so trübt die »Basterds« eine gewisse Selbstgefälligkeit. Tarantino pflegt seinen Ruf als Filmbesessener, bauchpinselt die Kritik mit Referenzen auf teutonische Filmkunst, wobei die Hälfte der Zuschauer mit Jannings, Pabst und Piz Palü wohl kaum noch etwas anzufangen weiß. Das ist trotzdem ganz neckisch; ärgerlicher ist die sprunghafte Ästhetik des Films, er changiert entschlusslos zwischen Drama und Schenkelklopfer, und die willenlos verteilten Avantgarde-Streusel stören eher als dass sie helfen.

Aber. Das historische Setting lässt Teile des Films eine Resonanz entwickeln, die man bislang selten bei Tarantino fand (ob diese Resonanz nun gewollt ist oder nicht). Sein Sinn für astreinen Dialog und punktgenaue Figurenzeichnung sowie das exzellente Spiel besonders der deutschen Kollegen verhelfen einigen Konfrontationen, die in unkonventioneller, fast theatralischer Breite angelegt sind, zu einer Qualität, die den Selbstzweck anderer Passagen zu überstrahlen vermag. Eine richtige Balance stellt sich aber nicht ein (wie sie z. B. Peckinpahs »Cross of Iron« – ebenfalls um Deutsche, ebenfalls teilweise übersteigert – noch erreicht).

Letztenendes mag der Film nicht mehr sein als die Summe seiner Teile, doch bleibt er einer der lohnenderen und unterhaltsamsten des Sommers. Erleuchtung und Erlösung darf man nicht erwarten, und auch das große Kriegsabenteuer, das der reißerische Trailer augenzwin­kernd versprochen hatte, fand nicht statt – was gut ist. Die Scharte der »Death Proof«-Fingerübung haben die »Basterds« indes ausgewetzt, denn zwischen heiterem Filmrecycling und traditionellen Gewaltausbrüchen rutscht Tarantino hier tatsächlich auch großes Kino raus.


»24h Berlin« – Logdatei

Paris, 21. September 2009, 13:15 | von Paco

»24h Berlin«, gedreht am 5. September 2008, zwischen 6 Uhr früh und 6 Uhr früh (Umbl berichtete). Gesendet genau ein Jahr danach (ARTE, rbb). Das nicht hineingeschnittene Material der 80 Kamera­teams, über 700 Stunden, geht an die Deutsche Kinemathek. Insge­samt ein leicht größenwahnsinniges, am Ende trotzdem irgendwie gelungenes Projekt, das in 80 Jahren sicher KultTM sein wird, so wie heute der Amateurfilm »Menschen am Sonntag«.

Ein allerdings schlimmes Makel dieser 24 Filmstunden sind die seifigen Off-Texte, die manchmal schwer auszuhalten sind. Wer spricht da, wer klotzt da seine ewigen Weisheiten raus? Die Texte sind ein sehr oft missglückter Mix aus Lexikonbrei, ambitionierter Lakonie, T-Shirt-Parole, steriler Pointe und einer Prise »leider kein Einzelfall«. Beispiele folgen in den hier geloggten Passagen:

Guttenberg nach dem Interview über die McCain-Nominierung: »Hat der Starbucks schon offen, ey!« (6:12)

Thomas de Maizière (am Telefon): »Und Afghanistan-Konzept is okay?« (7:39)

Information zur halben Stunde: Jeden Tag sterben in Berlin 84 Menschen (9:30).

Daniel Barenboim mit einer Havanna im Auto auf dem Weg zur Staatsoper, zitiert Churchill über den Sport (10:02).

Ständig taucht Oliver Gehrs in den Zwischentiteln auf, ein Porträt mit Motorradhelm, er wird aber leider nicht als Protagonist gefeaturt.

Werner Sonne bereitet im ARD-Hauptstadtstudio einen Nachruf auf Helmut Schmidt vor, 10:43.

Diese ewige Infodrescherei: In Berlin leben 3,4 Mio. Menschen bei 6 Mio. Ratten (11:00).

Der France-2-Korrespondent versucht Erich/Eric/Erisch (Honecker) richtig auszusprechen (11:14), er will sich dessen Atombunker ansehen, der demnächst versiegelt wird.

Die Kammerjäger stoßen bei der Suche nach einem Geruchsherd auf einen Erhängten im Heizungsraum, kurzer Schreck um 12:06.

Off-Text zum Weghören: »Über Berlin kamen der Döner Kebab und die Currywurst nach Deutschland. Wie jedes Nahrungsmittel werden sie zu Brei zerkaut und wandern durch die Speiseröhre hinab in den Magen.« (12:37)

»Im wuuunderschööönen Monat Maiii, …« – Barenboim am Piano, Villazón singt, 13:35.

Off-Text: »Im Zug finden über 300 Menschen Platz. Jeder von ihnen ist zusammengesetzt aus 65 Prozent Sauerstoff, 18 Prozent Kohlenstoff, 10 Prozent Wasserstoff, 3 Prozent Stickstoff, 1,5 Prozent Kalzium und einem Prozent Phosphor. Über den Sitz der Seele und ihre Zusammensetzung ist nichts bekannt.« (14:23) Äh, aha?

Leslie Bomba im Callcenter, zum x-ten Mal: »Ham‘ Sie schon mal über ’ne Zahnzusatzversicherung nachgedacht?« (15:36)

Beim Schamanen (16:33): »Element Erde im Norden, ich bitte dich um Unterstützung bei dieser Reinigung.« – »Die Ausbildung zum Schamanen kostete ihn 250 Euro im Monat.« (16:44)

Galerie Eigen+Art, 16:56, neue Werke von Uwe Kowski werden ausgestellt.

18:22 beim Holocaust-Denkmal, 18:24 Speed Dating in Charlottenburg, 18:30 landet in Tegel »das erste Flugzeug direkt aus Peking«, 18:59 Abendgebet des heroinsüchtigen Mario Krüger.

Raunender Off-Text, anlässlich der Ruinen des Palastes der Republik: »Geschichte steht nicht still. Sie ist ein blutiges Spiel. Wem sie einst wohlgesonnen war, den lässt sie heute fallen.« (20:08) Tendenziell ein T-Shirt-Text ambitionierter Abiturienten.

Weitere Off-Text-Banalität: »Die Presse berichtet über den amerikanischen Wahlkampf. John McCain oder Barack Obama. Beide hoffen auf den Sieg, aber nur einer wird gewinnen.«

Sehr geil, wie die Callcenterin Leslia Bomba erzählt, dass sie mal 5 Stunden mit ihrem Freund (genau:) telefoniert hat, bis er dann endlich ihr Freund wurde (21:24).

Regionalzeitungsprosa aus dem Off: »21:36 Uhr, in 24 Minuten wird das Pergamonmuseum geschlossen, dann geht das Licht aus über den Schätzen des Altertums.«

Die Galerie Eigen+Art schließt (21:45), alle gehen essen.

Um 21:59 kommt endlich heraus, warum der Tegel-Protagonist lebenslänglich einsitzt: Er hat eine Bekannte erwürgt (die Herauszögerung dieser Info über mehrere Stunden ist eines der wenigen dramaturgischen Elemente).

Die Sufis im Wedding schaukeln sich in Trance, 22:58. Gloria Viagra ist fast fertig verwandelt für seinen Auftritt, 22:59. »Jeder siebte Berliner ist dem gleichen Geschlecht zugeneigt.« (23:35) Der Taxifahrer nimmt einen Bundeswehrkoch mit, 00:10. Aus dem Off wird Goethes »Ein Gleiches« zitiert, um 00:23, warum auch immer, irgendwelches Vanitas-Zeugs halt, darauf ist ja das ganze Projekt getrimmt.

Paul van Dyk spricht über Sushi, 00:42. PvD viel angenehmer, sympathischer, klüger als Ricardo Villalobos.

Um 01:00 ein Spezial von Rosa von Praunheim, bis 01:06. Prank Call bei der Telefonseelsorgerin, 02:11. Ali Haydar und seine Kumpels streichen schon die Segel, um 3 ist er zu Hause. Ziemliche Material-Durststrecke, minutenlange Schreie aus einem Geburtszimmer, langatmige Straßenszenen.

Um 05:42 wird es schon wieder hell. Eigen+Art-Lybke nimmt um 05:49 den Zug zurück nach Leipzig.

In der letzten Stunde werden sonst vor allem die ausführlichen Credits gebracht, dürfte einer der längsten Abspänne der Filmgeschichte sein, also wenigstens noch ein Superlativ.

(Alle hier weggelassenen Sachen stehen in der Kritik von Christiane Peitz, Tagesspiegel vom 2. 9. 2009.)


Tarantino und das deutsche Dorf am Piz Palü

Konstanz, 26. August 2009, 09:58 | von Marcuccio

»Schneefall im Hochsommer«, das ist eigentlich schon das Höchste, was man von einer NZZ-Überschrift im August erwarten kann. Im zugehörigen Artikel ging es um eine Ausstellung, hinter der ich ja zuerst eine Jörg-Fauser-Werkschau vermutete:

»Schnee. Rohstoff der Kunst«

Im VLM Bregenz gab es dann einen großen Bergfilm-Tag, gezeigt wurden: »Die weiße Hölle vom Piz Palü« & »Der weiße Rausch« – dazu die Stills live kommentiert von Mathias Fanck, der über seinen Groß­vater Arnold Fanck aus dem Nähkästchen plauderte (»Warum er rauchte, verstehe ich bis heute nicht«).

Durch Fanck kamen übrigens auch Luis Trenker und Leni Riefenstahl zum Film. Was jetzt vielleicht ein pindarischer Sprung ist, aber auf jeden Fall Quentin Tarantino gefreut haben dürfte, der laut »Spiegel«-Interview von neulich zwar offiziell nur Riefenstahl die Regisseurin verehrt, aber, wer weiß, bestimmt auch Leni das Skihaserl aus den Fanck-Filmen ganz gut findet.

Wie er überhaupt von der deutschen Bergfilmhoheit ganz fasziniert scheint. Hätte er sonst extra »ein deutsches Dorf« an den Fuß des Piz Palü geschmuggelt? Es ist die Szene in den »Inglourious Basterds«, die Claudius Seidl als Engadin-Urlauber filetiert hat, um richtig­zustellen, »dass am Fuß des Piz Palü vielleicht Pontresina liegt, aber bestimmt kein deutsches Dorf«. Deutsches Dorf vielleicht nicht, aber ein Ur-Ort deutschen Bergfilmschaffens eben irgendwie doch. Also wohl ein typischer Tarantino-Gruß an die Kino­geschichte.


Watchmen, Låt den rätte komma in, Revanche

Hamburg, 16. März 2009, 15:19 | von San Andreas

Vor Monaten schon hatte der Umblätterer geargwöhnt, ob die »Watchmen«-Verfilmung ihrer Vorlage das Wasser würde reichen können. Ob Zack Snyder, Schöpfer der Schlachteplatte »300«, der Komplexität der Graphic Novel habhaft werden könne, an der die Herren Gilliam und Greengrass schon gescheitert waren. Ob der Film es fertig bringen würde, sowohl den haushohen Ansprüchen kritischer Fans zu genügen als auch unbedarften Kinogängern zu gefallen. Ob er vielleicht sogar Cineasten zu entzücken vermögen würde.

Die Antwort auf diese Fragen ist schlicht, und sie lautet: Ja. »Watchmen« ist ein ausladendes (163 Min.), kompromissloses (FSK 16) Comic-Epos geworden, das seinen Anspruch zu guten Teilen einlöst und sich dem Zeitgeist nicht über Gebühr anbiedert. Das Material bekommt kein Update verpasst wie etwa den dadurch zugrunde gerichteten »The Day the Earth Stood Still«, sondern verströmt konsequent den Vibe der Achtzigerjahre – komplett mit Kaltem Krieg, furchtbaren Frisuren und »Neunundneunzig Luftballons«.

Die Geschichte verbiegt diese Nostalgie freilich in Richtung einer alternate history, in der abgesägte Superhelden eine Verschwörung weltbewegenden Ausmaßes aufdecken, deren Urheber je nach Standpunkt als pragmatischer Retter oder als zynischer Macht­spieler gesehen werden kann.

Ambivalenzen dieser Art verzwickmühlen das Geschehen, und auch sonst bürstet der Film angenehm gegen den Strich. Er drängt einem ausgemachte Kotzbrocken als Identifikationsfiguren auf, schwelgt in ausgedehnten Flashbacks und traumartigen Dialogen. Gut, da kopiert der Film einfach mal die Vorlage, aber das ist sein Glück. Alan Moores Ergüsse sind zwar sperrig, gar unbequem – aber eben gut.

Auch visuell verlässt sich der Film auf die Vorarbeit des Originals. Die Panels von Dave Gibbons strotzten vor Details, ihre Abfolge vermittelte den Eindruck von Kamerabewegungen, bündelte Handlungsstränge in raffinierten Parallelmontagen. All das packt der Film mit hohem Aufwand in bewegte Bilder – wahnsinnig originell ist das kaum, hat aber trotzdem seinen Reiz.

Snyders Akribie verrät seine Leidenschaft, und auch wenn er vereinzelt dramatische Momente durch allzu harte Effekte versemmelt – seine Figuren entwickeln Charakter, ebenso wie der Film in seiner Gänze. Er wird nicht den ideologischen Einfluss haben wie seinerzeit die papierne Ausgabe (deren Gewicht sich längst in der Kinowelt niedergeschlagen hat), aber was filmische Umsetzungen von Comic-Großtaten angeht, muss man wohl sagen: This is as good as it gets.

*

Ähnliches kann man sagen über »Låt den rätte komma in« (nach Morrisseys »Let the Right One Slip In«, dt. Titel »So finster die Nacht«), den Vampirfilm, der still und heimlich aus der Kälte Schwedens gekommen war und ohne Vorwarnung das Genre umgekrempelt hat. Vierzig Preise hat er eingeheimst, vereinzelt läuft er noch in den Kinos.

Dem Vernehmen nach ist es Zufall, dass der Film gerade in Zeiten einer regelrechten Vampir-Hochkonjunktur erscheint. Aber während die »Underworld«-Saga mit einem unrühmlichen Prequel aufwartet, »30 Days of Night« im dunklen Alaska ein unausgegorenes Gemetzel ausrichtet und »Twilight« Vampir-Klischees in einer Girlie-Soap verwurstet, kommt »Låt den rätte komma in« gänzlich originell daher.

Allerdings trägt der Film diesen Anspruch nicht vor sich her; er beeindruckt weder über clevere Stilisierung oder radikale Neuerungen – vielmehr über Auslassung. Keine Karpatenschlösser, keine uralten Clans und Fehden, kein Knoblauch und keine Holzpflöcke.

Auch die sonst gern genommenen sexuellen Konnotationen des Leben raubenden Kusses fallen weg, denn es sind rein freund­schaftliche Bande, die Eli, unsere 12-jährige, bewusst androgyn gehaltene Vampirfigur, mit dem Nachbarsjungen flicht. Diese kindlich-unschuldige Perspektive verleiht dem Film eine Poesie, die inmitten des profansten aller Settings – einer dunkel-kalten Neubausiedlung – eine eigentümliche Wirkung entfaltet.

Ab und an müssen allerdings lebende Menschen angezapft werden, das bringt das Vampirdasein nun mal mit sich. Aber auch hier hält die Regie das Splatter-Potenzial im Zaum, dosiert sparsam und unaufgeregt. Und wenn sich dann doch in einer schockierenden Eruption von Gewalt offenbart, wie weit Eli für den neuen Freund zu gehen bereit ist, dann passiert das an einem Ort, wo schon immer der beste Horror stattfand: im Kopf des Zuschauers.

*

»Revanche« hieß der österreichische Oscar-Kandidat dieses Jahr, und obwohl sein Aufhänger eine oft gesehene Thriller-Prämisse ist, entpuppt sich der Film als angenehmes Korrektiv zu sattsam bekannten Formelkino. Unaufdringlich rollt die Geschichte an, treibt sich in schmuddeligen Wiener Seitenstraßen herum und pirscht sich heran an Alex, still verzweifelnder Handlanger im Rotlichtmilieu.

Der als Befreiungsschlag gedachte Banküberfall geht nicht gut aus, alle Pläne sind auf einmal nutzlos, und die drängende Frage lautet: Wer ist schuld? Opfer- und Täterrollen sind nicht ganz klar, Affekt und Bedacht ringen um die Vorderhand. Der Film macht Ahnungs­lose zu Mitwissern, lässt sie zwischenmenschlich anbandeln und schaut, was passiert.

Da hat sich die Handlung bereits aus der Stadt in die abgewetzte Idylle eines Bauernhofes zurückgezogen, dort kann der kauzige Großvater auch Hilfe gebrauchen. Und wenn Alex die zehnte Charge Holz mühsam beherrscht verhackstückt, erinnert man sich an den Titel des Films und fragt sich: Will there be blood?


Endlich fertig: Das Kinojahr 2008

Hamburg, 4. Februar 2009, 01:53 | von San Andreas

Kinojahr 2008 Einklinker Bevor sie verjährt: Hier ist unsere Übersicht über die bemerkenswertesten Beiträge des vergangenen Film­jahres. Eine Phänomenologie vom Klassiker bis zum Reinfall. Wie im letzten Jahr keine Bestenliste per se, denn Qualität bleibt weiterhin unmessbar. Filme statt­dessen, die erstens gut und zweitens wichtig waren, die gesehen und geliebt, diskutiert und interpretiert wurden.

Eine Anzahl von Filmen allerdings bewegte sich unter dem Radar: Sie waren vielleicht gut, haben es aus verschiedenen Gründen aber nicht geschafft, wichtig zu werden. Ihnen schenkt unsere Übersicht ebenso Aufmerksamkeit wie jenen Filmen, die wichtig sein sollten und wollten, sich aber als leider nicht gut herausstellten.

Die Liste speist sich ausschließlich aus Filmen, die im Jahr 2008 ins deutsche Kino kamen. Zur ausführlichen Fassung geht es hier bzw. direkt über die einzelnen Titel:

5 Sterne
»There Will Be Blood« (Paul Thomas Anderson)
»No Country for Old Men« (Ethan & Joel Coen)
»The Dark Knight« (Christopher Nolan)

4einhalb Sterne
»Waltz with Bashir« (Ari Folman)
»WALL·E« (Andrew Stanton)
»Into The Wild« (Sean Penn)
»In Bruges« (Martin McDonagh)
»The Kite Runner« (Marc Forster)
»Earth« (Alastair Fothergill, Mark Linfield)
»Cloverfield« (Matt Reeves)
»Paranoid Park« (Gus Van Sant)
»El Orfanato« (Juan Antonio Bayona)
»Control« (Anton Corbijn)

4 Sterne
»Der Baader Meinhof Komplex« (Uli Edel)
»Hellboy II: The Golden Army« (Guillermo del Toro)
»Gomorra« (Matteo Garrone)
»Juno« (Jason Reitman)
»Before the Devil Knows You’re Dead« (Sidney Lumet)
»Blindness« (Fernando Meirelles)
»Indiana Jones and the Kingdom of …« (Steven Spielberg)
»In the Valley of Elah« (Paul Haggis)
»Iron Man« (Jon Favreau)
»Funny Games U.S.« (Michael Haneke)
»Things We Lost in the Fire« (Susanne Bier)
»The Savages« (Tamara Jenkins)
»Half Nelson« (Ryan Fleck)

3einhalb Sterne
»Le Scaphandre et le Papillon« (Julian Schnabel)
»Happy-Go-Lucky« (Mike Leigh)
»Die Welle« (Dennis Gansel)
»Burn After Reading« (Ethan & Joel Coen)
»The Mist« (Frank Darabont)
»Body of Lies« (Ridley Scott)
»The Darjeeling Limited« (Wes Anderson)
»Obsluhoval jsem anglického krále« (Jirí Menzel)
»Once« (John Carney)

Enttäuschung
»The Happening« (Night M. Shyamalan)
»The Day The Earth Stood Still« (Scott Derrickson)
»Youth Without Youth« (Francis Ford Coppola)
»Love in the Time of Cholera« (Mike Newell)
»10,000 BC« (Roland Emmerich)


Milk/Frost/Nixon/W.

Hamburg, 6. Januar 2009, 12:03 | von San Andreas

Wann kommt sie endlich, die vom Umblätterer groß angekündigte Werkmonografie der Coen-Brüder? Sie wird kommen, und zwar bald. Ansonsten:

Die Award Season rückt näher, es häufen sich politisch ambitionierte Filme, die dem »Besonders Wertvoll«-Stempel, selbst wenn sie wollten, nicht ausweichen werden können. Einige davon zieren erfrischend knappe Titel, wie etwa »Milk«, die Geschichte des ersten offen homosexuellen Politikers der Vereinigten Staaten, der – und das ist mal kein Spoiler – kurz nach Amtsantritt von einem Rivalen erschossen wurde.

Gus Van Sant, der bislang zweigleisig fuhr – spröde Arthouse-Perlen auf der einen, gefälliges Star-Kino auf der anderen Seite – hat es bei »Milk« mit einem Mittelweg versucht. Der Vibe des schwulenbewegten San Francisco brandet nur so in den Saal, intime und kolossale Momente geben sich die Klinke in die Hand, zudem entpuppt sich Sean Penn in der Titelrolle als einer dieser seltenen Glücksfälle. An »Milk« wird man nicht vorbeikommen.

Ebenso wenig an »Frost/Nixon«, der Umsetzung des Stücks von Peter Morgan, das 2006/07 in London und New York lief. Es behandelt die Umstände der Nixon-Interviews von 1977 und zeigt ungefähr, dass David Frosts journalistische Arbeit ebenso essenziell für das Verständnis der Verfehlungen Nixons war wie die von Woodward/Bernstein für deren Enthüllung.

Ron Howard stach im Regie-Rennen Kollegen wie Scorsese, Clooney und Mendes aus und macht nach dem Da-Vinci-Durchhänger diesmal einfach keinen einzigen Fehler.

»Frost/Nixon« zeigt, wie seinerzeit »All the President’s Men«, wie die Medien funktionieren, während diese ja zeigen sollen, wie Politik funktioniert. Beide Seiten haben Macht, beide Verantwortung, sie können beide redlich vorgehen oder eben nicht.

In diesem Zusammenhang erinnern wir uns auch an »Nixon«, Oliver Stones genauso strikt betiteltes Politiker-Porträt. Aber es geht noch kürzer, sein jüngster Beitrag heißt schlicht »W.« (lies: Dubya), handelt vom sagenhaften Aufstieg des aktuellen, gerade noch so amtierenden US-Präsidenten.

Die halbe Welt sieht das Ergebnis seit Monaten im Kino, allein in Deutschland fand sich kein Verleih. Wir dürfen das Werk stattdessen im Januar im Pantoffelkino bewundern, ProSieben wird damit eine Reihe von Werbeblöcken unterbrechen.


Neulich, am Broadway

New York, 3. November 2008, 00:02 | von San Andreas

Wenn man sich der TKTS-Bude auf dem Times Square von Uptown her nähert, kann man schon das Board sehen, auf dem die verfügbaren Tickets aufleuchten. Halfprice, da muss man nehmen, was man kriegt. Heute am Samstag wird’s extra schwierig werden, es ist date night, viel Volk unterwegs. Vom Flug bin ich etwas erschlagen, vielleicht haben sie ja etwas Leichteres im Angebot …

To be or not to be. Die Broadway-Verwurstung des Klassikers tritt ein schweres Erbe an, denn wer balanciert schon Drama, Farce, Politik und Screwball so meisterlich wie Lubitsch. Niemand tut das, obwohl Mel Brooks vor 25 Jahren eine durchaus achtbare Hommage zustande brachte.

Schaut man das Original heute an, überrascht es durch seine zeitlose Frische; die Broadway-Produktion hingegen wirkt schon beim ersten Ansehen angestaubt und altbacken. Die Pointen sind rar gesät und sitzen nicht, die Dramaturgie lässt kein Fettnäppchen aus, stolpert hölzern von Klischee zu Klischee, das Ensemble entwickelt kaum den Hauch einer Chemie.

David »Sledge Hammer« Rasche gibt Josef Tura, einen kapriziösen, letztendlich schlechten Schauspieler, aber er spielt ihn schlicht schlecht, als grotesk chargierenden Theatertölpel. Wie fein nuanciert war Jack Benny in der Rolle gewesen; ihm nahm man auch Turas couragierte Charaden im folgenden Nazigetümmel ab.

Ein netter Gag gelingt immerhin, als während Turas fürchterlicher Rezitation des Hamlet-Monologs sich ein Herr mit Uniform und Blumenstrauß im Publikum erhebt und Entschuldigungen flüsternd den Saal verlässt – die Zeile »To be or not to be« war das Signal für ihn gewesen, Turas Frau zum heimlichen Techtelmechtel hinter der Bühne aufzusuchen. Eine schöne Umsetzung des Theater-im-Theater-Themas, aber man hätte die Chance nutzen sollen, ebenfalls seinen Sitzplatz zu räumen, Halfprice hin oder her.

*

Dienstagabend, 40 Minuten vor Vorhang. Heute hab ich es auf »All My Sons« abgesehen; eine Bekannte versicherte mir, das Miller-Stück wäre »riveting«, doch ausgezeichnete Kritiken und Starpower (John Lithgow, Katie Holmes, Dianne Wiest, Patrick Wilson) würden es wahrscheinlich hard-to-get machen. »A Man for All Seasons« wäre auch interessant, die Geschichte um Thomas Morus, passend zu Holbeins prächtigem Gemälde in der Frick Collection. Leider auch sehr gute Kritiken … Aber da entdecke ich, noch an der Ampel stehend, einen ziemlich kurzen Titel am Board, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte …

Equus. Auch dieses Stück von Tony Shaffer ist ein Revival, die Ur-Premiere war am Old Vic in London, 1973. Dann kam es an den Broadway, und seine Qualität zog viele hochkarätige Kräfte an; in über 1000 Performances spielten u. a. Anthony Hopkins, Richard Burton und Anthony Perkins die Rolle von Martin Dysart, dem Psychologen, der die Beweggründe des Stallburschen Alan Strang zu entschlüsseln sucht, sechs Pferde mit einem Hufpick zu blenden.

Sidney Lumet verfilmte das Material mit Burton, doch das in diesem Fall unangenehm explizite Medium schmälerte irgendwie den Geist des Stücks. Vielleicht hat Daniel Radcliffe den Film deswegen nicht angesehen; er liefert seine eigene Interpretation des Adoleszenten, der die Repressionen seiner Erziehung mit einer Art selbstgebauter Pferde-Religion kompensiert.

Das klingt krude, aber das Stück entwickelt eine bestechende innere Logik. Dysart fischt in den juvenilen Abgründen, fördert religiöse Indoktrination, fehlgeleitete Sexualität und befremdliche Rituale zutage, kommt aber letztlich nicht umhin, Strang um seine genuine Leidenschaft zu beneiden. Selbst in permanentem Selbstbetrug gefangen, realisiert er die Unfreiheit des Individuums, im Zaum gehalten von den Zügeln der Gesellschaft.

Schwerwiegende Einsichten, erstaunlich leichtfüßig vermittelt von Richard Griffiths, dessen fantastische Bühnenpräsenz nicht nur von dem mächtigen Übergewicht herrührt, das der Mann um sich herum versammelt hat. Griffiths strahlt eine Wahrhaftigkeit aus, die man im Theater häufig genug vermisst, lässt geschriebenen Text so wirken, als wäre er ihm gerade eingefallen.

Selbst Shaffers ausufernde, symbolbeladene Monologe gehen über Griffiths direkt ins Blut. Seine Szenen mit Radcliffe knistern, sie überwinden die Psychiatrie-Klischees der Geschichte mühelos und entwickeln in szenischen Überblendungen eine wunderbare Plastizität. Die berührendsten Szenen aber trägt Radcliffe allein; wohldosierte Bühneneffekte verdichten seine Soli zu schaurigen, orgiastischen Schlüsselmomenten. Besonders das Ende des ersten Aktes lässt einem den Atem stocken.

Dass der Neunzehnjährige die letzte Viertelstunde des Stücks ohne einen Fetzen Stoff am Leib auf der Bühne verbringt, ist dann auch eher seiner Kompromisslosigkeit und Integrität zuzuschreiben als dem PR-Kalkül seines Agenten. Freilich drängen sich nach der Vorstellung autogrammheischende VerehrerInnen am Bühnen­ausgang; sie werden den jungen Wizard jedoch künftig mit etwas anderen Augen betrachten.

*

Mit Dique, der endlich in der Stadt ist, will ich eine sonntägliche Matinee-Vorstellung besuchen; wir sind kein Risiko eingegangen und haben die Tickets online geordert – das kleine, aber feine Cort Theatre in der 48th Street ist womöglich schnell ausgebucht. Auf dem Programm steht ein Stück, das Dique in London längst hätte sehen können, denn dort läuft es seit zwei Jahren …

The 39 Steps. Am Broadway wird die Adaption mit dem Präfix »Alfred Hitchcock’s« angepriesen, während im West End mit »John Buchan’s« der Autor der Romanvorlage von 1915 angeboten wird, dessen Name dort wohl noch geläufig ist. Das Stück steht aber weder dem Roman noch Hitchcocks hervorragendem Film besonders nahe, denn hier haben wir eine Karikatur des Stoffes, eine unbändige, bunte Comedy, die so over-the-top ist, dass es schon wieder Spaß macht.

Nur vier Akteure teilen sich Dutzende von Rollen, wechseln Identitäten, Kostüme, Dialekte mitten im Gespräch, hasten in fliegenden Szenenwechseln von Schauplatz zu Schauplatz. Da gerät das Stück zur Liebeserklärung an das Theater schlechthin: mit einfachsten Mitteln werden ruckzuck frappierende Illusionen geschaffen. Da werden ein paar Kisten und einige vorbeifahrende Schilder zur schnaufenden Eisenbahn, verschiebbare Türen und hochgehaltene Fensterrahmen schaffen imaginäre Räume, während ausgefuchstes Sound- und Lichtdesign die Täuschung perfekt macht.

Einmal verwandelt sich die komplette Bühne in ein zweidimen­sionales Schablonentheater; die halsbrecherische Flucht des Protagonisten vor feindlichen Doppeldeckern zündet unmittelbar Assoziationen mit »North by Northwest«, und als links auf der Anhöhe ein kleiner Schattenriss-Hitchcock hochklappt, kann sich kaum ein Zuschauer ein lautstarkes Schmunzeln verkneifen.

Dann und wann brechen Momente der Ironie das überzeichnete Schauspiel: Als sich einmal alle vier Darsteller auf der Bühne befinden, erscheint plötzlich eine Hand hinter dem Vorhang und feuert einen Schuss ab. Alle halten verdutzt inne, schauen sich ratlos an, und der tödlich Getroffene beschwert sich, bevor er theatralisch darniedersinkt: »It was supposed to be a cast of four!«

Das ist Wegwerf-Theater im besten Sinne, hier zeugt jede Improvisation von höchster Kunstfertigkeit, jedes liebevolle Detail von kindlicher Begeisterung für das Medium. »The 39 Steps« mag leichte Kost sein, doch kommt das Stück weitaus ehrlicher daher also so manch aufgeblasenes, überproduziertes Broadway-Spektakel. Warum einen echten Wasserfall auf die Bühne wuchten, wenn es auch ein wackelnder Duschvorhang tut. Und wenn dann Bernard Herrmanns Psycho-Geigen kreischen, ist ein weiterer Lacher gebongt.


Und noch ’ne Liste:
The 500 Greatest Movies Of All Time

Hamburg, 24. Oktober 2008, 12:50 | von San Andreas

Die neue »Empire« kommt mit 100 verschiedenen Covern in die Läden. Jeder möchte sein Lieblingsmotiv haben. Tumultartige Zustände. Ein Student mit Schlafsack hat sich »Citizen Kane« gesichert, während sich hinten zwei Mädchen um »Donnie Darko« prügeln. Ein Mittvierziger hält Jimmy Stewart und Cary Grant in den Händen und kann sich ums Verrecken nicht entscheiden.

Ein Teenager stopft das letzte »Dark Knight«-Exemplar in seine Schultasche, als einer mit Sonnenbrille »Dirty Dancing« aus dem Regal reißt – »Für meine Freundin«, wie er dem Mann mit der Aktentasche zuruft, der auch danach gegriffen hatte, sich nun aber mit »Amélie« zufrieden geben muss.

Eine ältere Dame schnappt sich »Fight Club« und zieht damit fragende Blicke auf sich, doch regelrechtes Entsetzen verursacht der Langhaarige mit dem Ikea-Beutel, der sich anschickt, sämtliche noch verbliebenen Exemplare zu packen und zur Kasse zu schleppen. Weit kommt er nicht, ein schmieriger Italiener fängt ihn ab und macht ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Der Mittvierziger eilt mit dem zur Waffe gerollten »Vertigo« zur Hilfe, doch der Langhaarige händigt dem Italiener bereits zähneknirschend den »Godfather« aus.

Das wichtigste Cover der ganzen Aktion, denn laut der »most ambitious movie poll ever attempted« stellt dieses Werk die schiere Krönung der Filmgeschichte dar. Nanu? Hatte den Platz nicht »Citizen Kane« abonniert? Wohl nicht nach Meinung der teilnehmenden 10.000 »Empire«-Leser sowie der 150 Hollywood-Schaffenden und 50 führenden Kritikern, die eingeladen worden waren, ihre persönlichen Top-10s in einen Topf zu schmeißen.

Zur Gewichtung der Stimmen findet sich keine Info, aber das Ergebnis zeigt, dass hier das filmbegeisterte Volk das Sagen hatte, weniger die Spezialisten und Kapazitäten. Die nämlich tendieren dazu, ehrfurchtgebietende, mit akademischer Reputation beladene Meilensteine an die Spitze zu wählen (siehe die aktuelle Liste des American Film Institute).

Wie das kommt, ist klar. Es geht um Image und Selbstdarstellung: Ein ehrwürdiges Gremium wie das AFI möchte öffentlich genau mit diesen Werken identifiziert werden. Individuelle Vorlieben treten hinter dieser Selbstverständigung zurück, das kollektive Bewusstsein diktiert eine gewisse Objektivierung: Famose Genrewerke mit womöglich gefährlich hohem Unterhaltungswert haben gegenüber zeitlosen, filmgeschichtlich verdienstvollen Filmereignissen das Nachsehen.

David Finchers Wahlzettel »Butch Cassidy« »8 1/2« »Chinatown« »All the President’s Men« »Dr. Strangelove« »Citizen Kane« »Days of Heaven« »Alien« »Paper Moon« »Rear Window« »Monty Python & The Holy Grail« »Being There« »Jaws« »Zelig« »American Graffiti«

Dagegen fördern anonyme, offene Abstimmungen in der breiten Masse ganz ohne Hintergedanken einfach mal die Lieblingsfilme der Leute zutage. Und »Citizen Kane«, diese »Kathedrale von Film« (»Empire«), kann man vergöttern wegen seiner handwerklichen Kühnheit, seiner thematischen Wucht, seiner dramaturgischen Perfektion – richtig lieben aber kann man ihn nicht.

So ist es auch nicht wirklich die Qualität, die von solche Umfragen gemessen wird – diese Kategorie ist auf ewig unscharf und subjektiv. Wer mag schon beurteilen, ob »Godfather« oder »Kane« der bessere Film sei; die »Empire«-Liste zeigt lediglich, dass Don Vito Corleone unter (vornehmlich britischen) Filmenthusiasten dieser Tage beliebter ist als Charles Foster Kane (Platz 28). Aus welchen Gründen auch immer.

Comedy »The Apartment« (12) »Dr. Strangelove« (26) »Some like it hot« (27) »Kind Hearts and Coronets« (42) »The Big Lebowski« (43) »This is Spinal Tap« (48) His Girl Friday (58) The King of Comedy (87)

Allein die Resonanz des Publikums kann helfen, die Qualität eines Films irgendwie greifbar zu machen. Man kann sich einen Teil dieses Publikums herausnehmen – die Kritiker – und auf deren objektiveres Urteilsvermögen hoffen. Finden viele Rezensenten einen Film ganz prima, dann schält sich aus dem Rauschen des Diskurses die gleichsam offizielle Auffassung heraus: »Dies ist ein guter Film.«

Wir alle wissen, das klappt nicht immer. Aber es ist ein Trugschluss zu glauben, die Einbeziehung von Hinz und Kunz in die Erhebung würde ihre Aussagekraft weiter schmälern. Das Gegenteil ist der Fall: Nur so werden unliebsame Störfaktoren der Kritiker-Subkultur nivelliert. Noch besser ist es, wenn die Umfrage zeitlich nicht befristet ist, wie die IMDb-Top-250, dann verabschieden sich nämlich auf lange Sicht Modeerscheinungen und Zeitgeistfavouriten auf die hinteren Ränge.

Top 20 »The Godfather« (1) »Raiders of the Lost Ark« (2) »The Empire Strikes back« (3) »The Shawshank Redemption« (4) »Jaws« (5) »GoodFellas« (6) »Apocalypse Now« (7) »Singin’ in the Rain« (8) »Pulp Fiction« (9) »Fight Club« (10) »Raging Bull« (11) »The Apartment« (12) »Chinatown« (13) »Once Upon a Time in the West« (14) »The Dark Knight« (15) »2001: A Space Odyssey« (16) »Taxi Driver« (17) »Casablanca« (18) »The Godfather Part II« (19) »Blade Runner« (20)

Die Spitzenplätze belegen nun auf jeden Fall Werke, die prototypisch für das stehen, was in den Augen der Filmgemeinde ganz großes Kino ist. Diese Filme stellen die Essenz dessen dar, was die Filmkunst über die Jahre hervorgebracht hat, und dabei ist es nebensächlich, ob der Beurteilende darüber im Bilde ist, warum genau diese Filme so gut funktionieren.

Truffaut war oft daran gescheitert, Hitchcocks »The Lady Vanishes« filmanalytisch zu sezieren, weil er ein ums andere Mal in den Bann der Geschichte gezogen wurde. Hitchcock hatte eben den Dreh raus, Emotionen und Inhalte per Filmsprache zu vermitteln. Dass dieser Prozess so reibungslos funktioniert, macht den Film zu einem guten Film; wie er funktioniert, muss allenfalls Filmstudenten interessieren.

Statistik Knapp die Hälfte der Filme sind 25 Jahre oder älter. Der älteste Film stammt von 1924 (»Greed«, Platz 399), der neueste von 2008 (»Wall-E«, Platz 373). Die Liste enthält 24 Sequels. 14 Filme stammen von deutschen Regisseuren (Herzog, Lang, Lubitsch, von Donnersmarck, Reitz, Hirschbiegel, Murnau, Petersen, Wenders, Stroheim).

Nun gibt es viel mehr gute Filme als diese Liste fassen kann; manch einer mag etwa David Lynchs »Inland Empire« (keine Platzierung) für genauso gut oder besser halten wie »Raiders of the Lost Ark« (Platz 2). Doch für einen Listenplatz muss ein Film nicht nur gut sein, er muss auch wichtig sein. Er muss ein Eigenleben entwickeln, kulturell verhandelt werden, zitiert werden, über sich selbst hinauswachsen, er muss beeinflussen und inspirieren. Vor allem, er muss gesehen werden, erinnert werden, geliebt werden.

»Inland Empire« möchte gar nicht geliebt werden. Ein sehr spezieller Film ist das, und er ist sich seiner Unzugänglichkeit bewusst (wäre er das nicht, wäre er schlecht). Gerade deswegen greifen sich Individualisten den Film als Talisman, genießen das wohlige Gefühl, außerhalb der grauen Masse zu stehen, einen eigenen Geschmack zu besitzen. Bitteschön.

Doch das Gerede von Massentauglichkeit, Kommerz und Mainstream verfehlt oft genug den Kern. Dabei ist es so einfach: Gute Filme können erfolgreich sein, aber nicht alle erfolgreichen Filme sind gut. Tatsächlich ist Kino seinem Wesen nach nicht für Eliten gemacht. Film ist am besten, wenn er allen gefällt, so unglaublich das klingt. Denn wie kaum eine andere Kunst lebt er vom Zuspruch des Publikums, ja er ist darauf angewiesen, dass diese Interaktion funktioniert. Film muss gefallen, um zu überleben.

Regie Spielberg (11) Scorsese (8) Hitchcock (7) Kubrick (7) Burton (6) Kurosawa (6) Allen (6) Wilder (5) De Palma (5) Coen (5) Jackson (5) Coppola (5) Tarantino (5) Lynch (4) Lucas (4) Huston (4) Reiner (4) Zemeckis (4) Cameron (4) Raimi (4) Lumet (4) Nolan (4) Wyler (4) Linklater (4)

Schlimm ist das nicht. Dass es ein Film darauf anlegt, verstanden zu werden, heißt ja nicht, dass er sämtlichen zerebralen Ballast abwürfe und seinen Anspruch auf Kindergartenniveau drosselte. Er wird nur versuchen, formal an das Alltagserleben des Publikums anzuknüpfen, dessen Erfahrungen und Erwartungen einzubeziehen und, ausgehend von vertrauten Konzepten, eine interessante Geschichte zu erzählen, die mit Wirkungsmomenten nicht geizt.

Großes Kino ist keine introvertierte Nischenkunst. Und so ist die neue Liste kein zu belächelndes Konstrukt bemühter Ranking-Spielchen, sie ist ein Schnappschuss lebendiger Filmkultur. Leute lieben nun mal Listen, sie schaffen Überblick über ein weites Feld. Und regen an: Die »Empire«-Top-500 versammelt dann doch etliche ungesehene Juwelen, nicht bloß die üblichen Verdächtigen. Ach so, Moment: »The Usual Suspects«, Platz 61, also doch.