Archiv des Themenkreises ›Kunstkunst‹


Das »Stuttgart 21« des 19. Jahrhunderts?
Baumschützer gegen Bahn —
Eine kleine Kulturgeschichte

Konstanz, 12. Februar 2011, 08:02 | von Marcuccio

Das beste Argument gegen »Stuttgart 21«? Ein Baum, sagen die Schlossgarten-Beschützer von Stuttgart. Und deswegen ja auch gestern wieder, wie jeden Freitag, Baum-Qi-Gong! Heute Abend dann übrigens Premiere des ersten S21-Theaterstücks: »Antigone 21«.

Das untrüglich Bildungsbürgerliche von Anti-S21 ist die andauernde kulturhistorische Selbstveredlung, ebenso wie die schamlose Beschlag­wortung der eigenen Protest-Aktivitäten. Das Vokabular reicht vom »Platz des himmlischen Friedens« bis zur »Klagemauer«, von der »Montagsdemo« bis zum Transparent »Von Tunis lernen«.

Keine Frage: Wutbürger sind vor allem Bildungsbürger, und sie haben verstanden, dass man die richtigen Keywords liefern muss, um die eigenen Belange kultur- und zeitgeschichtlich aufzuwerten.

Serpentara statt »Stuttgart 21«

Wenn’s aber wirklich bildungsbürgerlich zugehen soll, könnte man auch mal an die eisenbahnhistorischen Vorläufer von S21 erinnern. Baum­schützer gegen Bahnprojekt, das hat deutsche Tradition. Wer wissen will wo, sollte mal nach Olevano Romano fahren, »das kaputte Berg­nest« (Rolf Dieter Brinkmann, hehe) bei Rom. Gerade im Vorfrühling kann es dort schon sehr schön mild sein. Und wahrscheinlich genau deswegen hat die deutschrömische Künstlerkolonie früh Gefallen an dem Ort gefunden.

Besonders ein immergrünes Eichenwäldchen namens La Serpentara, zu deutsch Schlangenhain, hatte es den Landschaftsmalern der Romantik angetan. Ihre ästhetische Landnahme ging sogar so weit, dass sie sich dieses beliebte Motiv nicht abholzen lassen wollten, denn eigentlich stand dieses Eichenwäldchen kurz vor der Rodung: Aus dem Holz sollten Gleisschwellen für die Italienische Eisenbahn enstehen.

Edmund Kanoldt setzte sich 1873 erfolgreich an die Spitze der Bewegung gegen Serpentara 21. Die Abholzung konnte nicht nur verhindert, sondern das Waldstück durch Spenden der deutschen Künstlerschaft sogar gekauft werden. (Die Villa Massimo dankt es bis heute mit dem Villa-Serpentara-Stipendium.) Lebendiger Beleg für den Erfolg der Rettungsaktion ist eine Kanoldt-Zeichnung, die die Kunst­halle Karlsruhe erst letztes Jahr frisch erworben hat. Sie zeigt das Waldstück in einer mehr als geschickten Komposition:

Edmund Kanoldt: La Serpentara di Olevano, 1873

»Die Lenkung des Blicks auf die gerettete Serpentara wird durch eine Eintönigkeit in der Wiedergabe des Berghangs gegeben, wo Kanoldt in ruhigen Parallellinien die Modulierung des Geländes als lichtüberflutete Fläche darstellt – ein Hinweis auf landschaftliche Ödnis, die aus der Abholzung des Waldes resultieren würde?«

… fragt Regine Hess im Katalog der Karlsruher Ausstellung »Viaggio in Italia« (S. 248). Und noch ein Beweis, warum sich Katalogkäufe lohnen: Angeblich wurde die Kanoldt-Zeichnung für Max Jordan angefertigt, den damaligen Direktor der Berliner Nationalgalerie. Ob der in seinen Leipziger Italien-Vorlesungen noch zu letzten Spenden aufgerufen hat?

Irgendwann hat er »La Serpentara di Olevano« wahrscheinlich einfach mal grinsend auf den Overhead-Projektor gelegt, die Wald-Trophäe mit der triumphalen Bildinschrift: »Eigenthum der deutschen Künstler« steht da tatsächlich reingeschrieben, und wie zum Beweis sieht man ein kleines Männchen (mit Malerhut und Zeichenmappe?) auf dem Weg zum nächsten Motiv.

Alle Macht geht vom Künstlervolke aus, würden jetzt wohl auch die Parkschützer von Stuttgart skandieren. Und wenn der Stuttgarter Bauzaun (vulgo Klagemauer) soeben als »soziale Skulptur« ins baden-württembergische Haus der Geschichte aufgenommen wurde, dann ist der gerettete Eichen(!!!)hain von Serpentara ja wohl allemal ein Beuys-Ding. Nur eben knapp hundert Jahre avant la lettre.

(Bild: zeno.org)
 


Drei Feuilletons, zwei Holbeins, eine Passion

Konstanz, 20. Dezember 2010, 07:26 | von Marcuccio

Stuttgart! Holbein-Ausstellung! Graue Passion! Nichts wie hin.

Dreh- und Angelpunkt der Grauen Passion ist ein eigentlich ganz krude zerlegter Flügelaltar. Gäbe es ihn noch bzw. wäre da noch was auf- oder umklappbar, würde man die zwölf Passionsszenen von Hans Holbein dem Älteren, jeweils sechs in grau und sechs in ocker, so en suite gar nicht sehen können. Nur dank der Barbaren früherer Jahrhunderte, die das Retabel längs und quer kleingesägt haben, bekommen wir die Holbein-Tafeln wie in der Fernsehillustrierten unserer Omis präsentiert: auf einen Blick.

Die enge Hängung hat auch was von gemalten Video-Stills. Und falls Mel Gibson sich noch mal mit einer Pixar-Variante an The Passion of the Christ versuchen wollte, hier könnte er die Farbproben nehmen. Auch deswegen haben unsere Feuilletons mit ihrer Artikel-Bebilderung geklotzt, hier mal drei Artikel kontrastiv gegeneinandergehalten:

  • Willibald Sauerländer: Die Farben des Leidens. SZ, 29. November.
  • Tilman Spreckelsen: Seine Augen weit aufgerissen. FAZ, 2. Dezember.
  • Hans-Joachim Müller: Holbeins Auferstehung in Stuttgart. Die Welt, 3. Dezember.

Die SZ

… kommt mit gleich sechs abgebildeten Szenen dem Original-Wandfeeling am nächsten, mosert dafür aber ein bisschen viel an der Konzeption der Ausstellung rum. Dabei ist die ganz hervorragend und keineswegs zu wissenschaftlich. Der Witz der Grauen Passion ist ja grad, dass Holbein mitten im Zeitalter der Grisaille-Mode keine bloßen Statuen mit Grauschimmer malt, sondern Figuren, die menschlich-leibhaftiger nicht wirken könnten. Der Einsatz anderer Farben ist beschränkt auf Jesus himself, Nicht-Grau also ein Stilmittel, um den Protagonisten aller Protagonisten von der Entourage abzuheben. Ein bisschen so als würde Hollywood im Sinne eines Spezialeffekts nur noch die Hauptrolle in bunt zeigen, den Rest aber in schwarz-weiß.

Die FAZ

… bildet zwei Passionsszenen ab, erzählt dann aber vor allem von einer dritten. Und klagt kunsthistorischen Kindesmissbrauch an: »Was stupst er da? Soll das Kind lauter brüllen?«

Tatsächlich lässt Holbein bei der Ecce-Homo-Szene ein gut verstörtes Kind zuschauen. Und tatsächlich steht es neben einem Fratzengesicht von Vater, der seiner Tochter irgendwie obszön seine Finger in die Wange drückt. Jesus natürlich im Blickkontakt mit der Kleinen, die Nase und Mund traumatisch weit aufgesperrt hat. FAZ-Rezensent Spreckelsen kann sich auch beim Rausgehen gar nicht trennen: »Das Kind bleibt so ungeheuerlich wie beim ersten Sehen. Und es verlässt einen auch nicht auf dem Weg zum Bahnhof.«

Die Welt

… bringt einzig und allein, dafür aber in XL, das Abschlussbild des Zyklus: die Auferstehung Christi. Hier steht der – ja wie nur? – aus dem Grab entstiegene Leibhaftige vor uns. Der Holbein’sche Grabdeckel ist, anders als bei so vielen Passionsmalern, nicht geöffnet oder gar geborsten. Nein, die Nägel (Initialen: H & H) sitzen wie bei Hagebau. Mach! Dein! Ding! Holbein macht sein Ding, indem er malerisch zeigt: Christus macht sein Ding, er kann sowieso »nicht anders denn als Geistleib seiner irdischen Gefangenschaft entkommen sein (…). Das ist die Pointe«, so Müllers Bildbeschreibung in der »Welt«.

Am meisten aber gefällt mir der gut gesetzte Hinweis auf die familiäre Arbeitsteilung. Hans Holbein d. Ä. also hat, wie gesehen, die Todesüberwindung gemalt; »Holbeins Sohn wird später einen toten Christus malen, wie er toter nie gemalt worden ist.« Ein Satz, für den man am liebsten sofort mal wieder nach Basel fahren würde:

Holbein, The Body of the Dead Christ in the Tomb (Quelle: Wikimedia Commons)

 


Mit San Andi und Arcimboldo in Washington

Hamburg, 19. Dezember 2010, 08:23 | von Dique

Im September in Washington gewesen, einziges Ziel dieses Ausflugs: Besichtigung der National Gallery of Art. Wir reisen also von New York aus mit dem Greyhound Bus an und drehen nach Ankunft direkt Richtung Museum ab.

Es ist entsetzlich heiß hier, über vier Stunden haben wir gebraucht und nun, kurz nach 10, stehen wir vor dem richtigen all der klassizistischen Tempel, die da zwischen Lincoln Memorial und Kapitol aufgestellt worden sind.

Sofort stelle ich fest und zeige mich sehr erfreut darüber, dass gerade eine Giuseppe-Arcimboldo-Ausstellung stattfindet. Es handelt sich um die abgespeckte Version der Schau, die vor ein paar Jahren in Wien und Paris zu sehen war, den Katalog habe ich hier schon mal erwähnt.

Philip Haas, Winter (Quelle: Wikipedia)Damals habe ich auch wiederholt behauptet, dass Arcimboldo mehr ist als die Composite Heads, diese obskuren Porträts aus vornehm­lich Obst- und Gemüsestücken, aber im Fokus stehen sie trotzdem und hier ganz besonders: Gleich vor dem Eingang ist eine Leihgabe aus Wien aufgestellt, die von Philip Haas angefer­tigte Riesenattrappe des »Winters« aus Arcimboldos Jahreszeitenzyklus, nicht schlecht!

Ich will gleich in die Sonderausstellung stürmen, aber San Andis Missmut hält mich zurück. Er habe jetzt keine Lust, eigentlich sogar nicht nur jetzt, sondern überhaupt nie mehr Lust, sich diese blöden Gemüseköppe anzuschauen. Lieber sofort und ausschließlich in die Dauerausstellung!

Ich lasse mich von dieser Devise erst mal breitschlagen und erkläre, zunächst auch ein bisschen in die dauerausgestellte Sammlung mitzukommen und erst später allein zu Arcimboldo zu wechseln, um mir dann zum tausendsten Mal die wunderschönen Gemüseköppe anzusehen.

Wir schleichen durch die Hallen und bestaunen die Erwerbungen von Andrew W. Mellon, Samuel H. Kress und all den anderen groooooßen amerikanischen Sammlern. Im NGA hängt auch übrigens das einzige Ölgemälde von Leonardo in ganz Nord-, Mittel- und Südamerika. Dieses Stück, die »Ginevra de’ Benci«, wurde 1967 aus der Sammlung Liechtenstein herausgekauft, um jetzt hier in der National Gallery zu sein. Die Wacholderfrau ist noch dazu viel schöner als die »Mona Lisa«, wenn auch unten um einige Zentimeter Leinwand beschnitten, weshalb ihre vermutlich formvollendeten Hände jetzt fehlen, aber auch die Hände der Nike von Samothrake zum Beispiel sind ja nur fragmentarisch überliefert, also!

Wegen des frühen Aufstehens haben wir unendlich viel Zeit, so kommt es mir vor, und wir begeben uns dann auch wie gewöhnlich erst einmal ausgiebig in die Museumskantine. Irgendwann frage ich aber trotzdem nach den Öffnungszeiten, und San Andreas, den ja stets der Nimbus des Sich-Auskennens umgibt, antwortet sofort und ohne zu überlegen: »Bis 21 Uhr.«

Dementsprechend gemächlich geht es auch nach dem ausgedehnten Essen weiter. Stundenlang unterhalten wir uns über die Süße und Farbe der amerikanischen Fanta und über das Blau des Brokatmantels der Madonna auf Jan van Eycks »Verkündigung«.

Und weiter geht’s durch die Ausstellung, und als es ca. Viertel nach vier geschlagen hat, frage ich trotzdem noch mal bei San Andi nach, ob er sich denn auch sicher sei, dass das Museum bis 21 Uhr geöffnet habe, und dann sagt er ganz normal, dass er das gar nicht wisse, er habe das mit den 21 Uhr nur so dahin gesagt, woher soll er denn die Öffnungszeiten ausgerechnet dieses Museums so genau wissen!

Ich habe nicht mal Zeit für eine Schockstarre, und ganz davon abgesehen, dass ich die amerikanische Sammlung noch nicht gesehen habe, sorge ich mich natürlich vor allem um meinen Besuch bei den Gemüseköpfen und frage besorgt den am nächsten stehenden Museums-Irrsigler, wann das Haus schließe. »Um 17 Uhr, in 35 Minuten!«

Sofort verschwinde ich gen Arcimboldo, »von der Sorge Qualen gejagt«, und erreiche 20 Minuten später und kurz vor Toresschluss die kleine Ausstellung und sehe noch alle 16 Composite Heads, die man von Europa hierher gebracht hat. Obst, Gemüse, Getreide, soweit mein Auge blickt!
 


Die FAS vom 12. Dezember 2010:
Nougattorte, Wirtschaftsteil, Runge

Hamburg, 12. Dezember 2010, 23:45 | von Dique

Was davor geschah

Auf dem Weg zur Konditorei Lindtner in Eppendorf, die FAS in der Manteltasche. Ich mache die letzten Schritte auf die Eingangstür zu, vorbei an einem beleibten und unscheinbaren Paar Ende 40, Typ Wochenendurlauber.

Als die Frau bemerkt, dass ich dasselbe Ziel habe wie sie und ihr Mann, rennt sie plötzlich kurzentschlossen los und an mir vorbei, wackelnd wie ein kleiner Elefant, das Gesicht zwischen Anstrengung und Empörung. In der Netztasche ihres Outdoor-Rucksacks plätschert in einer Halbliter-Cola-Light-Plastikflasche das nachgefüllte Leitungswasser.

Fassungslos über soviel Ehrgeiz betrete ich die Konditorei und sehe, wie sich die beiden Urlauber aus ihren Outdoorjacken schälen und befriedigt niederlassen. Der Kampf der beiden um die letzten freien Plätze war aber voreilig, das Lindtner ist im Moment nur zur Hälfte gefüllt.

Ich bestelle eine Tasse Kaffee und, Hauptgrund für mein Hiersein: ein Stück von der Nougattorte. Am Tisch neben meinem sitzt ein Mann mit abgelegtem Hut, der seine FAS schon aufgeblättert vor sich hält. Er schöpft gerade den letzten Schaum aus seinem Latte-Macchiato-Glas, als zwei ältere Herren auf ihn zugestürzt kommen und behaupten, dass der Tisch gar nicht frei gewesen sei.

Jedenfalls schnappt sich der eine erbost ein Gläschen vom Rand des Tisches, in der nicht mehr als noch ein Schluck Orangensaft schwappt. Der Hutmann lacht die beiden auf sympathische Weise aus und vermeldet, dass er da jetzt schon 30 Minuten an diesem Tisch sitze und Zeitung lese. Die Bedienung kommt herbeigeeilt und beschwichtigt, und bald verschwinden die beiden älteren Herren nach draußen, die Mäntel hatten sie eh schon übergezogen.

Was in der FAS geschah

Ok, wie immer lese ich zuerst den Wirtschaftsteil. Der sogenannte »Sonntagsökonom« gefällt mir heute mal sehr gut, es geht um Prognosemodelle, und in der Literaturliste wird das »International Journal of Forecasting« erwähnt, was für ein schöner Titel!

Auf der nächsten Seite steht ein Interview mit Norbert Rethmann, der gleich zu Beginn zu Georg Meck sagt: »Ich stelle fest: Dies ist mein erstes großes Interview. Übrigens nicht, weil ich Sie unbedingt kennenlernen wollte.« Meck nennt ihn im Gegenzug »Europas Müllkönig«, auch nicht schlecht, und es geht also leicht provokativ zur Sache, in diesem Fall vor allem um Müll und Schrott, mit deren Entsorgung bzw. Recycling Rethmann aus einem kleinen Familienunternehmen einen weltweit agierenden Konzern geschaffen hat.

Nach dem Umblättern wird es erwartungsgemäß krisig, Lisa Nienhaus spekuliert auf einer Doppelseite über die Rückkehr der D-Mark, Petros Markaris (Berufsbezeichnung: »griechischer Krimiautor«) erzählt im Gespräch mit Winand von Petersdorff, wie leer die Straßen Athens inzwischen leider seien: »Athen ist so tot wie eine Kleinstadt in Skandinavien.« Und Lena Schipper schreibt einen beeindruckend schneidigen Artikel über die Hochschulreform in England, die ursprünglich von Lord Browne angeregt wurde, dem ehemaligen BP-Chef (und nunmehrigen Peter Hartz des englischen Universitätswesens).

So vergeht eine kleine Weile, und es bleibt eigentlich jetzt keine Zeit mehr fürs Feuilleton, ich schaffe vor lauter Zeitdruck nur Jan Freitags sensationelles Interview mit Gung aus der »Lindenstraße«.

Was in der Kunsthalle geschah

Aber nun muss ich Paco treffen, er war zu einem Stück Nougattorte im Lindtner nicht zu überreden gewesen und wartet nun am Bühneneingang des Schauspielhauses, wo er sich noch angeregt und lachend mit der Einlassfrau unterhält, als ich ankomme. Das Gung-Interview hat er ebenfalls längst gelesen, und schon sind wir auf dem Weg zur Kunsthalle, um die allseits gepriesene Runge-Ausstellung zu sehen.

Regelrecht erschrocken gehen wir durch die Räume! Die Ausstellung ist zwar didaktisch ein Hit, siehe Swantje Karich in der FAZ, aber in so einem Gesamtüberblick macht die Lokalgröße Runge einfach keinen Spaß, seine mittelmäßige Begabung überschreitet selten die Qualität gehobener Akademiestudien.

Am Schlimmsten sind aber eigentlich die »Hülsenbeckschen Kinder«, leblos wie tote Puppen stehen sie da vor dem Gartenzaun, zum Fürchten! Also schnell weiter ins kunsthalleneigene Café Liebermann, und plötzlich ist alles wieder gut: Nougattorte!
 


Die Südharzreise:
»Reprise, 2. August 2009«

Leipzig, 15. Juni 2010, 23:47 | von Paco

Die Original-»Südharzreise« hat am 3. Oktober 2008 stattgefunden. Zehn Monate später sind wir die Autobahn 38, diese Kultursuper­strecke, noch einmal abgefahren. Dabei sind die Fotos für das Buch entstanden, das im März bei SuKuLTuR Berlin erschienen ist. Nur 31 der Bilder sind gedruckt worden, aus dem restlichen Material hat San Andreas jetzt eine Fotoerzählung in 139 Bildern zusammengestellt, die man hier durchscrollen kann:

http://www.zerstoerung.org/suedharzreise/reprise/

Es gibt dort neue Aufnahmen der Nietzsche-Tankstelle am Ortsaus­gang von Lützen zu bewundern, abenteuerlich sanierte Plattenbauten, wunderbare Weitsichtfotos der A38 (Hommage an Mattheuer), Szenen von den kreuzenden Bundes- und Landstraßen …

Thyratalbrücke von unten

… Lieblingsmotive wie die Blumenverkäuferin, die nebenbei als letzte deutsche Kaiserin firmierte, Fetischbilder der Popliteratur wie das wieder mal geschlossene Kaffee Kolditz in Sangerhausen, eine Studie des Thomas-Müntzer-Denkmals in Stolberg, die preisgekrönten Stadtvillen von Leinefelde-Süd, die aus einem 180 Meter langen Plattenbauriegel geschält wurden …

Stadtvillen Leinefelde-Süd

… und immer wieder formvollendete Readymade-Klohäuschen auf Autobahnrastplätzen.

Der Tag der Tour, der 2. August 2009, fiel zufällig auf den 75. Todestag Hindenburgs. Wir merkten das erst, als wir uns über einen schüchter­nen kleinen Blumenstrauß wunderten, den jemand auf die nach dem Krieg umgestürzte und vergrabene, jetzt aber wieder ans Licht geholte Hindenburg-Statue unterhalb des Kyffhäuserdenkmals geworfen hatte:

Umgestürzte Hindenburg-Statue mit Blumenstrauß

Auch sonst war nicht alles so wie im Jahr davor, und durch den Som­mertermin der »Reprise« fanden viele Nachtkapitel aus dem Buch nun im Hellen statt.

Das Buch steht nach wie vor unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann frei heruntergeladen (PDF, HTML) oder auch für 10 Euro bei Ama­zon erstanden werden. Die 31 im Band gedruckten Bilder sind bereits – versehen mit Geotags – in den Wikimedia Commons und bei Flickr zu finden. Die Mehrzahl der »Reprise«-Bilder folgt in den nächsten Tagen.
 


Reiterstandbild

auf Reisen, 1. Juni 2010, 08:01 | von Dique

Der letzte Tag in Venedig, und wir waren vorher einfach nicht dort vorbeigekommen. Nun hetzen wir zum Campo vor Santi Giovanni e Paolo und klingeln gleich an der ersten Tür. Aber niemand öffnet uns, obwohl wir von drinnen Geräusche gehört haben. An der nächsten Tür haben wir mehr Glück. Wir deuten auf das Bild im »DK Travel Guide«, aber der Herr, der die Tür geöffnet hat, will uns nicht hineinlassen. Er sucht windige Ausreden und Entschuldigungen, und irgendwann ist die Tür zu und uns rennt die Zeit davon.

Auf dem Platz draußen kommt uns ein Australier entgegen, den wir gestern schon irgendwo getroffen haben und der nun anscheinend auch einen Blick abbekommen möchte. Der Typ ist ziemlich bizarr bis creepy, gestern sagte er mir, dass er den Rucksack voller Ölsardinenkonserven und, wenn ich das richtig verstanden habe, immer etwas Gold dabei habe, um für den bevorstehenden Ernstfall gewappnet zu sein, den »total crash of the system«.

Er trägt Blundstones, diese australischen Waldarbeiterschuhe, die wie Chelsea-Boots geschnitten sind, allerdings eine feuerfeste Gummisohle haben, dazu sehr feste Khakis. Im Rucksack hat er auch noch eine Barbourjacke dabei, und mit diesem Survival Kit durchreist er nun die Welt und will sich im entscheidenden Moment für Gold auf einem Bauernhof einkaufen. Den Mogambo Guru kennt er komischerweise nicht.

Wir sagen dem Australier, der zur selben Tür strebt, bei der wir gerade abgewiesen worden sind, dass es keinen Zweck hat, aber er geht trotzdem weiter. San Andreas macht inzwischen ein paar Fotos, und ich laufe um das Denkmal herum und versuche trotz allem einen Blick zu erhaschen, schütze meine Augen mit beiden Händen gegen die Sonne, aber sie blendet einfach zu sehr. Auch sonst würde man von hier unten keinen guten Blick zustande bringen, die Skulptur ist einfach zu hoch oben aufgestellt:

Venedig, Verrocchios Colleoni von unten

Ich wollte das Reiterstandbild des Bartolomeo Colleoni, nach dem Wachsmodell von Verrocchio, unbedingt sehen, die Aussicht darauf war einer der Hauptantriebe, wieder mal nach Venedig zu fahren. Der Colleoni steht hier seit 500 Jahren. Schon Michelangelo und Vasari haben ihn sich zusammen angesehen, bei ihrem Venedigtrip, bei dem sie auch Werke von Tizian betrachtet haben, und vielleicht standen sie sogar direkt hier, als Vasari in Richtung Michelangelo fragte, wie er denn die Bilder von Tizian finde, und Michelangelo sinngemäß erwiderte, dass Tizian ein guter Maler sein könnte, wenn er zeichnen gelernt hätte. Vasari-Seemannsgarn.

Da die Reiterstatue auf diesem sehr hohen Podest steht und man von unten fast nichts sieht, hat die Stadtverwaltung von Venedig mit Gültigkeit vom 1. September 2009 beschlossen, dass willige Anwohner des Campo Santi Giovanni e Paolo gegen eine entsprechende Mietminderung die Besucher auf Anfrage in ihre Wohnung oder auf ihre Dächer lassen, damit sie von dort einen guten Blick haben und ein schönes Foto machen können. Das funktioniert allerdings überhaupt nicht, jedenfalls nicht für uns, trotz der Mietminderungen und trotz der Aussicht auf Trinkgeld.

Wir müssen schnell weiter zum Bahnhof, um rechtzeitig zum Flughafen zu gelangen. Bei einem Blick zurück sehen wir noch den Australier aus dem Haus kommen, in dem wir abgewimmelt worden waren, und ich sehe, wie er grinsend seine Digicam durchblättert. Wir erblicken diese Szene aber nur noch von weitem, als wir gerade die Kanalbrücke in westlicher Richtung überqueren, und mich hätte sehr interessiert, wieso er eingelassen wurde, wir aber nicht. Vielleicht hat es etwas mit seinem Militärrucksack zu tun, in dem sich angeblich Ölsardinen und Gold befinden.


Post von Dürer

Leipzig, 27. Mai 2010, 22:55 | von Paco

In den ersten Augusttagen des Jahres 1871 erhielt der Wiener Kunsthistoriker Moriz Thausing Post von Albrecht Dürer. Das Kuvert zeigte ein Originalsiegel und war tatsächlich in Nürnberg abgestempelt worden. Dürers Handschrift war klar zu erkennen, ebenso dessen feines Frühneuhochdeutsch.

Thausing war entzückt und glaubte zunächst, ein Freund habe ihm ein neu entdecktes Dürer-Manuskript zukommen lassen. Doch, oh Wunder, Dürer war zwar vor über 350 Jahren gestorben, sein Brief war aber an Thausing höchstpersönlich gerichtet:

Imitat der Dürer-Handschrift, Scherzbrief von Albert von Zahn an Moriz Thausing (1871)

DEM Fürsichtigen
hochachtparn vnd erbern
Hern Morizen Thawsingh

zw Wienn
im Osterreich

inn des Ertzhertzog
Albrecht palast
awff der pastey.


Und so las es sich weiter. Dürer dankt Thausing lang und breit noch mal persönlich dafür, dass er mit zur Entlarvung einiger Dürer-Fälschungen beigetragen hat. Um 1871 hatte nämlich ein Streit um »linkshin gewandte Profilköpfe« seinen Höhepunkt erreicht, die man zunächst Dürer zugeschrieben hatte, die sich aber später, auch dank Thausing, als Fälschungen erwiesen. Dürer schreibt daher weiter:

Imitat der Dürer-Handschrift, Scherzbrief von Albert von Zahn an Moriz Thausing (1871)


Vnd sunderlich danck ich euch, dz ir allso klerlich antzeygung getan habt der awssgeschnitten köpfflin halben, dz ich dy nicht hab contterfett noch abgerissen.


Nach der Lektüre legte Thausing den Brief aus der Hand und grübelte ohne Unterlass: »Wer konnte sich diesen Scherz erlauben?« Er fragte kurz darauf in Nürnberg selbst nach, keiner wusste etwas. Erst einen Monat später, während der berüchtigten Holbeintagung in Dresden Anfang September 1871, fragte ihn ein Kollege beiläufig, ob er Dürer schon geantwortet habe. Bei dem Fragesteller handelte es sich um Albert von Zahn. Thausing berichtet weiter:

»Und nun beichtete er [Zahn] mit Behagen auf mein Verhör, wie er den Brief durch einen Nürnberger Vetter befördert, wie er den Verschluss desselben von dem damals in Dresden ausgestellten Bildnisse des Gisze von Holbein aus der Berliner Galerie abgeguckt und die Schrift aus dem Dürercodex der Dresdener Bibliothek erlernt habe; und er zeigte mir in seinem Notizbuche die eingehenden Vorstudien, durch welche er sich den Ductus von Dürer’s Hand in den zwanziger Jahren ganz regelrecht zu eigen gemacht hatte. Ungeheure Heiterkeit der befreundeten Tischgenossen lohnte dem seltenen Meister.«

Thausing erinnert sich daran im Juli 1873, als er schon den Nachruf auf seinen lustigen Kollegen schreiben muss, der gerade im Alter von 37 Jahren gestorben war. Dieser Nachruf ist zusammen mit einem Faksi­mile des gefakten Dürerbriefes in der letzten Nummer der »Jahrbücher für Kunstwissenschaft« abgedruckt, die von Zahn begründet worden waren und mit seinem Tod eingestellt wurden.

Was auf jeden Fall bleiben wird, ist die beiläufige Frage: »Ähm, haben Sie eigentlich Dürer schon geantwortet?«


(Bildquelle: Wikimedia Commons – Seite 1, Seite 2)


Listen-Archäologie (Teil 3):
Leonardo: »Ach so, ja, ich kann auch malen«

Hamburg, 8. Mai 2010, 13:20 | von Dique

Leonardo, Study of Horse Ungefähr 1483 schickt Leonardo da Vinci ein Bewerbungsschreiben an Ludovico Sforza. Es besteht aus einer Liste mit vor allem Waffen und Kriegsgerät, die er für den Mailänder Herrscher zum Einsatz bringen will. Diese Liste ist natürlich relativ bekannt und auch recht lang, und der Clou ist dann erst ziemlich am Ende versteckt (Punkt 10.): Dort erwähnt Leonardo, dass er übrigens, falls es Sie, lieber Herzog, interessieren sollte, auch als bildender Künstler exzellent sei.

Ganz zum Schluss erwähnt er dann noch das berühmte Reiterstandbild von Ludovicos Vater, Francesco Sforza, für dessen geplante Umsetzung er sich anbietet. Über zehn Jahre arbeitet er sporadisch an dem Riesenpferd, kreiert das Tonmodell, bekommt aber nie genug Bronze zusammen, damit es auch gegossen werden kann, und 1499 zerstören dann die Franzosen das Modell.

Hier nun der Brief samt Liste in seiner Gänze. Ich las ihn in der schönen Leonardo-Bio von Charles Nicholl, »Flights of the Mind«, zitiere das Anschreiben aber mal lieber nach der Leonardo-Monografie von Hugo Graf von Gallenberg (Leipzig 1834):

Den ganzen Beitrag lesen »


Listen-Archäologie (Teil 2):
Neo Rauch in Leipzig

Leipzig, 22. April 2010, 21:07 | von Paco

Die beste Rezension der »Begleiter«-Ausstellungen in Leipzig und München ist bis jetzt die von Werner Spies in der FAZ. Aber weder er noch die anderen Kritiker erwähnen wirklich mal eine Handvoll Bildtitel, und dabei sind die doch auch ganz schön, hier der Pfad durch das Leip­ziger MDBK, zuerst der Süd-, dann der Nordteil des Untergeschosses:

1. Kommen wir zum Nächsten, 2005
2. Silo, 2002
3. Schilfkind, 2010
4. Seewind, 2009
5. Bergfest, 2010
6. Wächterin, 2009
7. Acker, 2002
8. Die Flamme, 2007
9. Diktat, 2004
10. Rauner, 2009
11. Das Plateau, 2008
12. Bon Si, 2006
13. Das Angebot, 2010
14. Abstieg, 2009
15. Ausschüttung, 2009
16. Oktober, 2009
17. Vater, 2007
18. Dromos, 1993
19. Erl, 1993
20. Vorraum, 1993
21. Das Gut, 2008
22. Start, 1997
23. Moder, 1999
24. Mittag, 1997
25. Sonntag, 1997
26. Versprengte Einheit, 2010
27. Weiche, 1999
28. Arbeiter, 1998
29. Uhrenvergleich, 2001
30. Die große Störung, 1995
31. Die Küche, 1995
32. cross, 2006
33. Fell, 2000
34. Sturmnacht, 2000
35. Platz, 2000
36. Reiter, 2010
37. Reich, 2002
38. Reaktionäre Situation, 2002
39. Der Schütter, 2009
40. Das Neue, 2003
41. Helferinnen, 2008
42. Fluchtversuch, 2008
43. Abraum, 2003
44. Unter Feuer, 2010
45. Dörfler, 2009
46. Ordnungshüter, 2008
47. Am Waldsaum, 2007
48. Scheune, 2003
49. Krönung I, 2008
50. Krönung II, 2008
51. Die Fuge, 2007
52. Höhe, 2004
53. Neid, 1999
54. Theorie, 2006
55. Rauch, 2005
56. Morgenrot, 2006
57. Aufstand, 2004
58. Dämmer, 2002
59. Vorort, 2007
60. Ungeheuer, 2006

Das Ganze auch als fortgeführter Nachweis der Literarizität Neo Rauchs, zu dem Peter Richter neulich in der FAS angesetzt hat.


Der Dresscode der Alten

Hamburg, 8. April 2010, 08:02 | von Dique

Das neue Highlight von Dresden ist die »Türckische Cammer«. Über 100 Jahre nach Rudolf II. haute der Sachsenkönig mit seiner Sammlung auf die Pauke, häufte zwar keine vergleichbaren Schätze an, aber er war ja auch nicht römischer Kaiser. Ich habe die Cammer noch nicht gesehen, bin aber schon nach der Einleitung dieses FAZ-Artikels von Dieter Bartetzko Feuer und Flamme:

»Wenn August der Starke es abends einmal leger mochte oder eine seiner Mätressen beeindrucken wollte, kleidete er sich in einen Kaftan. Lachsrot, glänzende Seide mit tausenderlei Paspeln und Abnähern, …«

Der Sachsenkönig im lachsroten Kalifengewand voller Paspeln und Abnäher. In der Printausgabe der FAZ war dieses Gewand auch abgebildet. Zumindest farblich könnte man es in die Nähe des berühmten Skythenfilzanzuges rücken, den man vor wenigen Jahren in Berlin bewundern konnte. Der flamboyante Dresscode der ›Alten‹ ist doch immer wieder faszinierend. Da wurde noch mit herrlichem Material in noch herrlicheren Farben geprotzt. Dagegen verblasst sogar der gelbe Anzug von Johan Nilsen Nagel.

Über Matthias Grünewald weiß man eigentlich nicht viel, aber jeder (jeder!) kennt und verehrt den von ihm geschaffenen Isenheimer Altar. Immerhin existierte ein Nachlass des Malers, der dereinst in fünf Kisten in Frankfurt am Main lagerte. Die Kisten waren dort geblieben, als Grünewald nach Halle zurückkehrte, wo er 1528 starb. Darin befanden sich Malutensilien, aber auch reformatorische Schriften, und das ist für die Forschung von extremem Interesse. Für uns ist aber viel wichtiger, dass Grünewald eine sehr elegante Garderobe pflegte. In den Kisten befanden sich zudem:

  • drei rote Hofgewänder
  • ein grauvioletter Rock mit Sammet an den Ärmeln
  • ein purpurianischer Rock mit schwarzem Futter
  • vier Atlaswämser
  • ein goldgelbes Paar Hosen
  • ein Mantel aus weißem Filz mit Leder überzogen
  • ein damastenes Brusttuch
  • goldgestickte Hemden und dazu noch Geschmeide, Ringe etc.

Wie Wilhelm Fraenger, nach dem das hier zitiert ist, sagt: »Alles in allem ein Kostümaufwand, für die besonderen Erfordernisse eines Hofmannes zugeschnitten.« Zum Vergleich: Dürer hatte sich 1506, also ein paar Jahre vor Grünewalds Abgang, in einem Brief aus Venedig an seinen Freund Pirckheimer beklagt: »Hÿ pin ich ein her, doheim ein schmarotzer etc.«

Ein »her« zu sein, manifestiert sich sicher nicht nur in der Kleidung, aber wie das Beispiel Grünewald zeigt, scheinen zumindest einige, oder eben einfach nur einer der nordischen Renaissancemaler, schon ganz Gentleman gewesen zu sein.

Der italienische Dürer, nämlich Leonardo, war bekanntermaßen ganz Herr, Hofmann und Dandy. In der berühmten Biografie von Nicholl steht dann auch mal drin, wie viel er mitunter für ein feines Kleidungsstück hinlegte:

»In the 1490s Leonardo purchased a 600-page book on mathematics, in folio, for 6 lire, and a silver cloak with green velvet trim for 15 lire.«

Von dem Geld für den mit grünem Samt abgesetzten Silbermantel konnte man immerhin für eine vierköpfige Familie ein Jahr lang Brot kaufen, soweit der Vergleich der historischen Währungsumrechner.