Archiv des Themenkreises ›Musikmusik‹


Puschkin, Przewalski, Pilze, Prokofjew

St. Petersburg, 23. Oktober 2011, 09:05 | von Baumanski

Es ist Freitag und schon elf Uhr vorbei, als ich aufstehe. Am Abend davor habe ich mehr als genug, aber nicht allzu viel getrunken (die Russen haben dafür sogar ein eigenes Verb, »недоперепить«). Aber jetzt muss ich noch schnell vor Wochenschluss zum International Office der Universität, um irgendwelche Sachen zu erledigen.

Hernach spaziere ich – vorbei an zwei Puschkin-Denkmälern und einer Büste des Forschungsreisenden Przewalski, der Stalin so ähnlich sieht, dass viele ihn für dessen heimlichen Vater halten – zum Puschkin-Museum. Dort überzeuge ich mich vom zeichnerischen Talent des Nationaldichters und höre mir die Ausführungen der Museumsführerin an, die, wie andere ja auch, seitenweise auswendig aus seinen Werken zitieren kann.

Nach dem Museum bin ich etwas hungrig und entscheide mich kurzerhand für eines der russischen Schnellrestaurants, von denen es in Petersburg etwa so viele gibt wie Puschkin-Denkmäler. Ich bestelle ein Glas Kwas sowie Bliny mit Hackfleisch und Pilzen (übrigens sind alle Russen davon überzeugt, dass in Westeuropa niemand Pilze sammelt). Kostenpunkt: 220 Rubel.

Da ich zuvor noch schnell zum Bankomaten musste, habe ich nur einen 5000-Rubel-Schein dabei, also sozusagen 150 Franken bzw. 125 Euro am Stück, was hier gewöhnlich nicht besonders gerne gesehen wird. (Die Schweiz ist ja bekanntlich das einzige Land, wo man auch mit einer Tausendernote einen Kaugummi bezahlen darf.)

»Kann ich damit zahlen?«, frage ich deshalb präventiv und halte den 5000-Rubel-Schein ins Blickfeld der jungen Verkäuferin. Sie schaut mich verständnislos an. »Ja«, sagt sie langsam und deutlich. »Das ist Geld.« Sie hält mich offenbar nicht für freundlich und umsichtig, sondern für dämlich, und während ich dann meine Bliny esse, sehe ich von weitem, wie sie ab und zu kopfschüttelnd in meine Richtung blickt.

Um sechs Uhr ruft mich Ivan Borisowitsch an und sagt, ich müsse in einer Stunde unbedingt mit ins Konzert kommen. Als ich knappe fünf Minuten zu spät vor dem Eingangstor zur Philharmonie erscheine, ist vom sonst überpünktlichen Ivan Borisowitsch noch nichts zu sehen. Ich rufe ihn auf seinem Handy an, worauf sich folgender Dialog entwickelt:

I.B.: Allo?
Ich: Privjet, ich bin’s. Ich wäre jetzt also da.
I.B.: Ich stehe direkt vor dem Eingang. Wo sind Sie denn?
Ich: Hier, vor dem Eingang.
I.B.: Ich sehe Sie aber nicht.
Ich: Ich bin aber hier!

Plötzlich kommt Ivan angerannt. Er war ein paar Meter zur Seite getreten, um etwas aufzuschreiben, und hatte vergessen, dass er nicht mehr vor dem Tor stand.

Wir betreten die Philharmonie, wo das laut dem britischen Magazin »Gramophone« sechzehntbeste Orchester der Welt auch an diesem Abend überzeugend spielt: Prokofjews »Skythische Suite« und eine Symphonie des Schostakowitsch-Schülers Tischtschenko. Auch Ivan Borisowitsch ist äusserst zufrieden.
 


Bayreuth

auf Reisen, 16. August 2011, 16:43 | von Austin

Der Moment des Sommers. In der ersten Pause von Stefan Herheims genialischer »Parsifal«-Inszenierung: Eine Dame in Abendkleid bückt sich im Park und trägt, durch Mitleid wissend, eine Schnecke von der Mitte des Weges ins Gebüsch.
 


Unterwegs mit der FAZ des 12. Juli 2011:
Das anerkennende Nicken des Milizionärs

St. Petersburg, 15. Juli 2011, 11:18 | von Paco

Es war also Dienstag, und am späten Vormittag traf ich mich an der Moskovskaja mit dem Galeriebesitzer. Er war gerade mit dem К-13 vom Flughafen gekommen und hatte mir wie versprochen die aktuelle FAZ mitgebracht. Ich berichtete dann noch, dass ich mich mehrfach an den Legobausteinen gestoßen hatte, die Jan Vormann in der Galerie verbaut hatte, und dass wir unbedingt einen WLAN-Router besorgen sollten, denn alle verfügbaren Netzwerkkabel waren als Wäscheleinen quer durch drei Zimmer gespannt.

Zusammen mit der FAZ fuhr ich dann tief hinab zur Metro. Den Aufmacher, einen Artikel von Frank Lübberding über Herbert Wehners Aktentasche (S. 35), las ich gleich in den fünf Minuten, die man mit der Rolltreppe bis nach unten braucht. Das Feuilleton war übrigens wieder mal randvoll mit Spitzentexten, es war wie immer ein guter Feuilleton-Dienstag gewesen, und atemlos las ich weiter.

Für den nächsten Tag wurde übrigens ein Beitrag zu 25 Jahren Historikerstreit angekündigt. Es gab dann ja am Mittwoch in den »Geisteswissenschaften« diesen Diss von Egon Flaig gegen Habermas, was ich am Dienstag aber noch nicht wusste. Ich dachte daher jedenfalls erst mal sofort wieder an das SPIEGEL-Interview mit dem »Bloodlands«-Autor Timothy Snyder (dt. »Blutgebiete«, übers. v. Charl. Roche), in dem er sagt:

»Ich ging damals in Ohio auf die Highschool, und der Historikerstreit war der Grund für mich, Deutsch zu lernen.« (aktuelle Ausgabe, S. 47)

Das ist mal ein schöner Grund! Heute wird ja nur noch wegen Rammstein und Tokio Hotel Deutsch gelernt. Und wegen der Einstürzenden Neubauten, die ausnahmslos jeder Russe kennt, und das obwohl kein einziger Russe den Bandnamen aussprechen kann.

Außerdem las ich noch die Besprechung von Robert Wilsons Vanitas-Abend über »Leben und Tod der Marina Abramovic« in Manchester (S. 37). Geschrieben hatte sie Gina Thomas, die momentan absolut verdient unsere unangefochtene Lieblingsfeuilletonistin ist.

Um die Mittagszeit saß ich dann eine Weile in der Nationalbibliothek am Ostrowski-Platz und las in ein paar Ausgaben der »Russkaja Starina« wilde Geschichten über das 18. Jahrhundert. Als ich davon genug hatte, kam ich erst mal nicht mehr hinaus aus der Nationalbibliothek, denn die Frau am »Дежурный«-Schalter wollte mir keinen Ausführ­stempel für mein mitgebrachtes Buch geben, eine uralte Grammatik aus den 60er-Jahren. »Bücher dürfen hier nicht mit hineingebracht werden, unter gar keinen Umständen!« Und nach einer Pause: »Es sind doch nun wirklich genug da!« Und dieses eine eingeschleuste (»oder nicht eingeschleuste!«) Buch sei jetzt ein groooßes Problem.

Sie schaute sich die Grammatik gründlicher an, als ich es jemals getan habe und tun werde, und war trotzdem noch nicht überzeugt. Es steht zwar mittelbar ein deutscher Name drin, aber nicht meiner (vielmehr diese Widmung: »Дорогому Вольфгангу Фогту / с неизменным уважением / М. Городникова. / 17. XII. 66«). Sie fragte mich, wer dieser Wolfgang Vogt sei und wer diese M. Gorodnikowa. Einige ausgedachte Geschichten und Beteuerungen später drückte sie endlich einen Stempel auf meinen Passierschein, gepaart mit den Worten: »Das ist jetzt das letzte Mal!« Unten ging ich dann mit dem Passier­schein am Milizionär vorbei, der anerkennend nickte wegen des Stempels, den ich gegen alle Wahrscheinlichkeiten erlangt hatte.

Erschöpft stand ich draußen auf dem Ostrowski-Platz und ging nach kurzer Besinnungspause Richtung Fontanka und überquerte sie in östlicher Richtung. Im Gehen las ich in der FAZ den Artikel von Wolfgang Burgdorf über eine mögliche Lösung zu Griechenlands Finanzproblemen (S. 37). Burgdorf ist ja der Wiederentdecker des großen Johann Nikolaus Becker (siehe Der Umblätterer vom 18. Novem­ber 2010), und auch in Sachen Griechenland geht sein Blick zurück ins Alte Reich, zu den kaiserlichen Debitkommissionen, die in überschul­dete Territorien entsendet wurden.

Während ich so las, rammte ich mitten auf der Rasjesschaja einen bärtigen Mann, der das T-Shirt eines Klezmer-Festivals trug. Genau, es war Psoi Korolenko (Foto hier). Er hatte ebenfalls im Gehen gelesen, nämlich seinen Blackberry. Ich gratulierte ihm, denn heute war nach orthodoxem Kalender Peter-und-Paul-Tag, und Pavel ist ja sein eigentlicher Vorname.

–Und, Konzert nachher?
–Ja eben, genau.
–Bis dann.
–Bis dann.

Erst mal ging ich aber zu einer Feier in den Дюны, wir saßen dort am aufgeschütteten Sandstrand, es gab sehr viel Kuchen usw., und der Herausgeber der führenden Petersburger Literaturzeitschrift erklärte mir sehr ausführlich, wie er alle Straßen in der Umgebung umbenennen würde. Ich hatte nämlich gewagt, die »Uliza Marata«, also die Jean-Paul-Marat-Straße, zum schönsten Straßennamen der Welt zu erklären, und dem widersprach er nun heftig. Dann erzählte noch jemand, dass da in der oberen Etage des Cafés angeblich der gesamte Übersetzungsverkehr zwischen Gazprom und dem Westen erledigt werde, aber eventuell habe ich ein paar Verben falsch verstanden, denn die Aufzählung der Straßennamen und Umbenennungsvorschläge hielt weiter an.

Mit ein paar Бочкарёв machten wir uns dann auf den Weg zum Ligowski-Prospekt, wo in einer WG das Konzert von Psoi Korolenko stattfinden würde. Ich saß zusammen mit 50 Leuten in einem vielleicht 30-qm-Zimmer, und Psoi slammte in sein Casio-Keyboard und sang und herrschte. Zwischendurch las er von seinem Blackberry die nächsten Titel ab und reagierte gekonnt auf Provokateure aus dem Publikum. Gegen Ende hin gab es natürlich auch seinen Smashhit über den Newski-Prospekt (»Все люди б…и, а мир большой бардак«, hehe).

Nach dem Konzert gab es Nudeln und eingelegten Fisch für alle. Ich unterhielt mich unter anderem mit einer Anthropologin von der Columbia, die heute auch versucht hatte, Bücher mit in die National­bibliothek hineinzunehmen. Etwas später traf ich eine weitere Anthropologin (es würde für diesen Tag die letzte bleiben), und wir sprachen eine Weile auf Deutsch über ihre weitläufigen Forschungs­projekte. Ich achtete wie immer in Russland darauf, das Wort »nachher« nicht zu verwenden, denn es klingt ja für Russen wie »на х…й!«, und ich möchte nicht, dass jemand das falsch versteht.

Plötzlich kündigte jemand an, dass die anwesenden Lyriker (es waren ca. fünf bis zehn) gleich ihre neuesten Gedichte vortragen würden. Es war bereits weit nach Mitternacht, die meisten der Gäste verabschiede­ten sich daraufhin. Ich wollte auch schnell weg, aber es stellte sich bald heraus, dass es gar keine Gedichtvorträge geben würde, ich musste die Ankündigung also für ein taktisches Manöver halten.

In den Morgenstunden gingen wir noch ein bisschen zur Fontanka und sprachen über irgendwelche Dinge und Sachen, und ich überlegte, wo ich jetzt am schnellsten die Mittwochs-FAZ herbekommen würde.
 


Die FAS vom 13. 2. 2011:
»Nie wieder nach Leipzig«

Leipzig, 14. Februar 2011, 17:20 | von Paco

Es war Sonntag und wir gingen also doch noch in die Ausstellung, die das MDBK dem Fischmaler Michael Triegel gewidmet hat. Nach ca. einer halben Stunde hatten wir alle Zitate und Anspielungen auf allen Gemälden entschlüsselt und standen zum Abschluss im Raum mit dem großen Porträt von Benedikt XVI.

Ein Museumsbesucher Anfang 40, den wir zunächst für den Maler himself hielten, hatte sich zu uns gesellt und in ein Gespräch ver­wickelt. Es war aber eventuell doch nicht der Maler Triegel, mit dem wir da sprachen, denn er äußerte sich eher negativ über die hier ausge­stellten Bilder. Er hatte auch ein abschließendes Urteil parat, aber es gelang ihm nicht, dies in Worte zu packen.

Zehn Minuten später, als wir gerade das Museum verließen, klopfte er mir auf die Schulter und lieferte sein Urteil nach. »Die Bilder berühren mich nicht«, sagte er, das also war ihm vorhin nicht eingefallen, war in der Zwischenzeit nun aber offenbar formulierbar geworden. Wir be­dankten uns für den Nachtrag und gingen dann quer über den Markt zum Schaufenster der Buchhandlung Hugendubel. Wir dachten, dass dort vielleicht das neue Buch des grandiosen Kuh- und Scheiße­forschers Florian Werner stünde, »Dunkle Materie« (Nagel & Kimche), das gerade in allen Zeitungen lobend besprochen wird.

Das Buch ist aber noch sehr neu und war anscheinend noch nicht angekommen in der Buchhandlung. Deshalb hat es auch noch niemand ins Schaufenster gestellt, da müssen wir noch mal wiederkommen. Wir kauften uns irgendwo eine FAS und gingen dann ins Café Grundmann, wo es die FAS ja trotz breiter Zeitungsauswahl komischerweise nicht gibt.

Unter den besprochenen Premieren des Wochenendes war auch eine szenische Aufführung des Brecht/Dessau-Oratoriums »Deutsches Miserere« an der Leipziger Oper. Eleonore Büning hatte einiges auszusetzen, um es einmal milde auszu­drücken, der Text endete mit den Worten: »Unfassbar. Entsetzlich. Nie wieder nach Leipzig.« Das kam ganz überraschend, denn an einem 13. Februar denkt man ja eher »Nie wieder Dresden« oder so etwas.

Wir lasen den Artikel jedenfalls noch mal und noch mal laut vor. Selbst die schönsten Verrisse von Kerr oder Ihering verblassen vor einer solchen Wortgewalt. Besonders der Anfang ist sehr gelungen und sollte für uns auch den weiteren Verlauf des Tages bestimmen:

»Direkt neben der Nikolaikirche in Leipzig gibt es einen sehr guten Italiener mit sardischer Küche, die wirklich vieles wiedergutmachen kann und erst lange nach 23 Uhr schließt. Um es gleich zu sagen: Hat nicht geholfen. Diesmal nicht. Der im nur zwei Fußminuten entfernte Opernhaus verursachte Totalschaden war lokal nicht zu begrenzen.«

Achtung, die hier zitierten Stellen dürfen nicht davon ablenken, dass Büning bezüglich dieses musikalischen Abends auch vieles lobend erwähnt, zum Beispiel den Dirigenten, das Orchester, den Opern- und den Kinderchor sowie den gut trainierten Schäferhund, dem auch die Überschrift des Artikels gewidmet ist (»Guter Hund«). Und eben das italienische Restaurant auf dem Nikolaikirchhof, und dort reservierten wir dann gleich einen Tisch für später und freuten uns auf Seezunge und Tiramisù.
 


Auf dem Oktoberfest der Klassik

Leipzig, 2. Januar 2011, 13:45 | von Austin

Öfters schon ging es hier um das Gewandhausorchester, heute wieder, Anlass: das »GROSSE CONCERT zum Jahreswechsel« mit der deutschlandweit für diesen Termin üblichen 9. Sinfonie Beethovens. Eigentlich war mir dieses Ritual immer suspekt, ich hab mich da nie hingetraut, in diesem Jahr aber doch: mal sehen, wie das ist.

Im Foyer treffe ich auf eine ungewohnte Mischung aus hochgestimmten und (mitunter sehr) weit angereisten Gästen, kontrastiert mit rouinierten Leipzigern, die offensichtlich seit Jahrzehnten dieses Konzert besuchen und das Privileg der örtlichen Nähe auch ausstrahlen.

Und das setzt sich fort, je weiter ich ins Gewandhaus gelange. Die entscheidenden Besuchergruppen, grob nach Typ und Vorkommen geordnet: der erfahrene Klassik-Event-Besucher (»Also neulich in München, der Jonas Kaufmann …«), der freudige Genießer (blickt mit einem Glas Sekt auf die Skyline der Stadt und hat tatsächlich Gesprächsstoff mit seiner Ehefrau), der Klassik-Nerd (hat keine Ehefrau, aber eine Mutter oder ein Accessoire in Form eines Notenschlüssels), der unerfahrene Klassik-Event-Besucher (tendenziell überfordert von allem) und der Gewandhaus-Rentner (heute is ohne Pause). Wirklich entspannt ist nur der freudige Genießer.

Überraschenderweise liegt der Ereignischarakter fast wie eine Zwangsjacke über dem Haus, eine Atmosphäre, die auch mit Beginn des Konzertes nicht nachlässt. Pierre Bourdieu hätte seine helle Freude gehabt. Und grade als ich noch in den ersten Takten des 1. Satzes plötzlich denke, ob vielleicht die Frau in der Reihe vor mir Gefahr läuft zu kollabieren, verlässt auf der gegenüberliegenden Seite der erste Besucher den Saal. Später noch einer. Und dann noch einer. Offenbar hat sich ein Senioren-Flashmob dazu verabredet, Lubitschs legendären »Sein oder Nichtsein«-Film ins Konzert zu transponieren.

Flächendeckendes Husten im Saal nach dem 1. und 2. Satz – wieder eine Etappe geschafft. Die übliche Geräuschdramaturgie in den Satzpausen, Handtasche aufziehen, Bonbon raus, Bonbon auswickeln, Handtasche zuziehen, Handtasche fällt runter, vielfach verstärkt. Jetzt geht auch die Frau in der Reihe vor mir.

Faszinierend der Weg von Chailly und dem Orchester, eine mehr als allbekannte Partitur zu erarbeiten als sei sie eine Ausgrabung. Ein fabelhaftes Solo-Horn, eine großartige Solo-Querflöte, die Pauke als Herzzentrum, die wiederum sensationell präzise Spielkultur – und doch wirkt das seltsam unbemerkt, wie verdunkelt vom gigantischen Chor-Satz, auf den alles wartet.

Die Anspannung, sie steigert sich, bis endlich im 4. Satz das »Freude!«-Motiv erstmals durchs Orchester zieht. Da!, da war es doch – und dann, dann gibt es kein Halten mehr. Mit Händen zu greifende Erleichterung, wenn der Chor einsetzt.

Es gibt ja im Genre ›Alterswerk bedeutender Künstler‹ die vielfältigsten Ergebnisse, von seltsam versponnen (Goethe, Faust II) über seltsam fragwürdig (Kubrick, Eyes Wide Shut) bis genial erschütternd (Strauss, Vier letzte Lieder). Und dieser Chor-Satz, er pendelt zwischen all dem.

Zeilen wie »Wollust ward dem Wurm gegeben, / Und der Cherub steht vor Gott« als Grundlage eines sinfonischen Chores zu nehmen, ist ein wirklich schillernder Einfall des späten Beethoven mit einem erheblich erhöhten Zausel-Faktor, der letztlich Ratlosigkeit hinterlässt – die nur aufgefangen wird durch die krud-geniale musikalische Verarbeitung und die überraschende, verstörende, tendenziell immer wieder das Martialische streifende Interpretation im Konzert.

Mit dem letzten Ton Standing Ovations derer, die noch da waren.
 


Jens Friebe: »Abändern«

Leipzig, 8. Oktober 2010, 00:05 | von Paco

Точно така, дами и господа! Dass Jens Friebe vor allem in bulgarischen Intellektuellenkreisen ein Renner ist, war ja schon bekannt. Nun hat er dem auch offiziell Rechnung getragen:

Das ausschlaggebende PR-Interview zu Friebes heute erscheinenden Album »Abändern« (recte: »Up and Down«, oder, wie Spiegel Online vorschlägt: »abandon«) wurde halb in Bulgarisch geführt.

Wir sind gegen Antiaufklärung und embedden hier im Umblätterer keine Videos, deshalb folgt hier jetzt nur DER LINK zu diesem sagenhaften, konkurrenzlosen und einfach ganz ursprünglich schönen Interviewexzess.

Das Video dauert ungefähr 24 Minuten. Wenn man es ganz schaut, entspricht das unter Umständen bis zu zwei vollen Semestern an der sogenannten Popakademie in Mannheim.
 


Im Schlitten Gustav Mahlers

Chemnitz, 14. Januar 2010, 19:50 | von Austin

KüchwaldAus gegebenem Anlass Winterspaziergang im Küchwald, in der einsetzenden Dunkelheit, und einen Tag später im sonnigen Schnee.

Auf dem iPod: Gustav Mahlers 10. Sinfonie. In der Aufnahme mit dem RSO Berlin und Riccardo Chailly. 20 Jahre alt. Ein schöner Vergleich zum sensationellen Konzert letzten September zu Saisonbeginn mit dem Gewandhausorchester – unser Konzert des Jahres 2009 (gemeinsam mit Mahlers 1. Sinfonie fünf Wochen später).

Man glaubt dann, mit dem Beginn des 1. Satzes im Ohr, man könnte jetzt immer weiter hineingehen in den Wald, zauberbergmäßig, bis dann nur noch Schnee ist.

Dann denkt man, diese Musik könnte aber auch ein prima Soundtrack sein zu einem Film von Tim Burton, vielleicht war es das ja auch schon.

Und dann fällt auf, dass das Leipziger Konzert entschieden härter dirigiert war, schärfer. Elementarer. Der Wahnsinns-Trommelknall auf dem Übergang vom 4. Satz zum Finale, dieser großartige Moment des Übergangs, der schon auch ein Ende ist, war im Gewandhaus ein Schlag aus dem Nichts, herzschlagaussetzend; vor 20 Jahren ist es noch auch Schönklang, abgefedert.

Am nächsten Tag, im Sonnenschein, ein leicht anderer Charakter. Alles beschwingter, liegt wohl am Wetter. Der Weg führt an einer Wildfutterstelle vorbei und an einer Bank steil über einem gefrorenen Bächlein, und Walter Kappachers »Fliegenpalast« fällt einem da wieder ein, ein seltsames Buch, trotz Büchner-Preis. Ein Sommerbuch, das doch viel mehr ein Winterbuch ist. Glaube im Nachhinein auch immer, das Buch habe von Richard Strauss erzählt und nicht von Hofmannsthal. Muss mich da immer mühsam dran erinnern und korrigieren.

Trotzdem denke ich, jetzt fahren gleich Strauss und Hofmannsthal in einem offenen Schlitten mit lauter klingelnden Glöckchen vorbei, freundlich winkend seltsamerweise, ganz anders als bei Kappacher. Aber da ist natürlich nur der blinkende Schnee in der Sonne.

Dann ist Chailly bei diesem unglaublichen Finale angekommen. Doch Musik vom Tode. Wenn die Flöte einsetzt, 2:13ff – der Wahnsinn, diese Passage.

Andere Top-Stellen, als Softskills für den Smalltalk zum Neujahrs-Stehempfang: Die Streicherlinien zum Beginn des 1. Satzes, insbes. 2:26ff. Der Schluss des 4. Satzes mit einem super Paukensatz ab 10:41. Das gesamte lange Verglimmen des Finales, ab 19:38.

Dann ist die Sinfonie durch, es ist Stille, und ich gehe ins »Kellerhaus«, diese leckere Pilzrahmsuppe bestellen, wie zuletzt mit Marcuccio und Paco, als sich die Beiden unmittelbar vor dem Dessert heftigst über diesen Wolfgang-Büscher-Artikel zerstritten.


Tosca

Hamburg, 19. Oktober 2009, 15:18 | von Dique

Nach den Meistersingern, Iphigénie en Tauride, Turandot, Lohengrin und La Traviata ist die Tosca-Inszenierung die erste Aufführung der Hamburgischen Staatsoper, die für mich mehr als einfach nur ein netter Abend war. Das war ein richtiges Fest und das liegt an der Inszenierung, an der Musizierung und ganz besonders an Paoletta Marrocu.

Ich habe wie immer miese Karten, irgendwo am Rand in Loge 3, und trotzdem geht mir die Stimme der Paoletta Marrocu als Floria Tosca sofort durch und durch, ein unglaubliches Volumen, bis herauf zu mir auf dem billigen Platz. Wieso man einen Tag vor der Vorstellung an einem Samstagabend in dieser Stadt noch einfach so Karten bekommt, ist mir ein Rätsel. Noch rätselhafter ist, dass, als ich nach der Pause in die Loge zurückkehre, die Plätze eines Pärchens und einer weiteren Frau plötzlich leer sind.

Ich frage mich, wie krank diese Leute sein müssen, hier einfach auszusteigen, freue mich aber über den besseren Platz, den ich kurzerhand in Beschlag nehme. Im zweiten Akt denke ich kurz an Giovanni Battista Salvi genannt Sassoferrato. Genauer gesagt, an das Ultramarinblau der Gewänder seiner berühmten Madonnen, denn jetzt trägt Paoletta Marrocu ein Kleid in ebensolchem strahlenden Blau, nach dem tiefen Schwarz im ersten Akt.

Der Gedanke an die entrückten Madonnen des Sassoferrato passt ganz gut, betet doch Floria Tosca gleich zu Anfang in der Kirche, in der ihr Geliebter, der Maler Mario Cavaradossi, gerade ein Altargemälde fertigt, zur heiligen Mutter Gottes. Der zweite Akt spielt im Salon des fiesen Barons Scarpia, auch eins a besetzt mit Thomas Mayer, der der Schönen unter das Kleid will und dafür auf ihre Gefühle für Cavaradossi setzt, der am Galgen sterben soll.

Floria Tosca entledigt sich also ihres wunderschönen blauen Kleides, um den Geliebten zu retten, trägt darunter wieder Schwarz, klar, passt auch besser zum düsteren Szenario, und legt sich dann auf den Dielenboden der Opernbühne. Der Salon Scarpias ist sehr minimalistisch ausgestattet, ein barocker Schreibtisch, eine graue Wand im Hintergrund und eben der Dielenboden. Da steht kein Bett, wo sich die Tosca niederlässt, aber man denkt, da wäre eines, die Illusion funktioniert, so ähnlich wie in Lars von Triers Dogville, nur dass hier nicht die Umrisse der Häuser oder Gegenstände auf dem Bühnenboden aufgemalt sind.

In der folgenden Szene lässt sich Paoletta Marrocu als Floria Tosca aber, anders als Nicole Kidman in Dogville, nicht vom brutalen Zugriff des Mannes überwältigen, sondern bewaffnet sich und lässt den Baron ins vorgehaltene Messer stürzen. Ein Blutbeutel versaut ihm das Hemd und signalisiert seinen Tod und färbt außerdem den gesamten Arm von Paoletta Marrocu blutrot. Schwarz, blau, rot, alles sehr intensiv, und sicher bedeutet das alles irgendwas. Am Ende hilft aber alles nichts, denn wir wissen es, die schöne Sängerin wird sich von der Engelsburg stürzen, weil sie Cavaradossi doch nicht retten konnte.

Einen pindarischen Sprung später lese ich gestern in der FAS über die Nofretete im Neuen Museum, den ausführlichen Artikel von Andreas Kilb, der den schönen Titel »Kraut und Rüben haben mich vertrieben« trägt. In dem Text steht, dass man ›Kraut und Rüben‹ mit ›higgledy-piggledy‹ ins Englische übersetzen kann. Notiert hat sich das 1937 Samuel Beckett beim eifrigen Museumsbesuch in Berlin.

Usw.


Opéra de Paris

Paris, 25. September 2009, 09:37 | von Niwoabyl

Was man so vom Einstand des neuen Pariser Operndirektors Nicolas Joel hört, ist ja putzig, diese provenzalische (vulgo: provinzielle) »Mireille« im Palais Garnier, gute Güte! Das Bühnenbild soll auch eher an die breiten Kornfelder der Beauce erinnern als an die Provence, aber Hauptsache Provinz, hehe.

Beauce

Nicolas Joel ist ungefähr das Schlimmste, was der Pariser Oper pas­sieren konnte. Und dazu nach Gérard Mortier. Uuuuuh. Als ich kurz etwas zu der »Mireille« lesen wollte, habe ich einfach »mireille garnier« gegoogelt (es gab übrigens kaum eine wirkliche Mireille Garnier, ent­täuschend) und fand einen Verriss auf lemonde.fr. Und las: »On ne sache pas que Nicolas Joel …« – So! Für »Le Monde« schreiben Typen, die denken, tja, ein Konjunktiv in einem Hauptsatz sei mal wirklich wieder gut. Sie haben solche Regisseure verdient.

(Bildausschnitt: Wikimedia Commons)


Turandot und die Sitznachbarin des Grauens

Hamburg, 13. Juli 2009, 08:10 | von Dique

Für den Kalaf mag es im Augenblick keine Stimme geben, aber ich gehe dennoch in die »Turandot«-Aufführung der Staatsoper. Nun komme ich kurz vor Beginn der Vorstellung in Loge 4, Reihe 2 an, und auf meinem Sitz liegt, trotz des sommerlichen Wetters, ein recht großer und leicht angeschmutzter Anorak und einer dieser wiederverwendbaren Supermarktstoffbeutel.

Widerwillig nimmt die daneben sitzende Dame ihre Sachen weg, knautscht den Anorak lieblos unter ihren Sitz und hantiert mit dem ebenfalls verschmutzten Beutel herum. Ich nehme ihn ihr ab und lehne ihn an die Wand neben den Sitzen.

Bei Vorstellungsbeginn nimmt die Dame neben mir selbstbewusst die Gemeinschaftsarmlehne des Sitzes in Anspruch. Ihr Ellbogen befindet sich so weit in meinem Sitzbereich, dass ich die Spitze konstant in meiner Seite spüre, obwohl ich mich so gut wie möglich nach außen drücke, denn glücklicherweise sitze ich am Rand und habe Raum, sitze aber äußerst unbequem.

Von jetzt an habe ich über die gesamte Vorstellungsdauer das Gefühl, dass mich ein Ellbogen, wenn auch nur leicht, an der Seite berührt, auch wenn ich deutlich sehe, dass es nicht so ist. Nach einer Weile kommt sie trotz der engen Sitze auf die Idee, ihre Beine übereinander zu schlagen, und berührt mit ihrem in der Luft hängenden Fuß auch noch mein Bein.

In der Pause heule ich mich bei San Andreas aus, wir hatten zu spät gebucht und keine zusammenhängenden Plätze mehr bekommen. Kurz vor dem zweiten Akt komme ich zurück, auf meinem Stuhl das alte Bild, der Anorak wird aber recht zügig entfernt. Den Beutel hat sie auf dem Schoß, darauf eine Keksbox, sie kaut noch, Krümel um den Mund, und bietet mir dann noch, die Keksdose reichend, einen ihrer an den Ecken schon stark zerbröselten Butterkipfel an.

Ich lehne höflich ab, stelle den Beutel wieder auf die Seite, und es geht einfach so weiter, Ellbogen, irgendwann gehen die Beine wieder übereinander und ich halb aus dem Stuhl und habe das Gefühl, dass es bereits viel zu spät ist, um noch irgendetwas dazu zu sagen und zu klären.

Nach der nächsten Pause kann ich mich dann gleich hinsetzen, mein Platz ist frei, der Beutel lehnt an der Wand. Eine Sekunde vor Beginn, das Licht wird gerade ausgeblendet, fragt sie jemanden, der hinter ihr sitzt und anscheinend zu ihr gehört: »War die mit dem weißen Kleid die Prinzessin, die heiraten soll?« Und sagt gleich hinterher: »Gestern habe ich Asterix und Obelix gesehen, da sind die auf einer Insel gestrandet, aber da war schon jemand.«

Im dritten Akt habe ich mich an meine Situation bereits sehr gut gewöhnt, es erscheint mir einfach normal, und ich genieße endlich in Ruhe das wunderbare Schauspiel auf der Bühne. Direkt als der Schlussapplaus einsetzt, fragt sie mich dann noch, ob es denn jetzt zu Ende sei. Ich bejahe, und sie fängt mit großer Begeisterung an zu klatschen.