
Die Welt ist ein Dorf, so sagt man. Und in Karen Köhlers Debütroman „Miroloi“ ist sie das tatsächlich. Die Hamburger Schriftstellerin erzählt in ihm von einem Ort, der fernab aller Zivilisation auf einer Insel liegt. Ein Mikrokosmos irgendwo im Mittelmeer. Die Bewohner nennen ihr Dorf das „Schöne Dorf“, sie pflegen ihre Traditionen, sie haben ihre Gesetze. Sie leben ohne Kontakt zu dem, was sie „das Drüben“ nennen, ohne Fernsehen, ohne Internet, ohne Strom.
Köhler erzählt also von einem Ort, der in vielerlei Hinsicht anders ist als Bremen, anders als Hamburg oder Berlin. Einem Ort, wie es ihn in einer durchglobalisierten Welt, vielleicht, gar nicht mehr gibt. Und doch ist das Schöne Dorf überall, sind die großen Fragen die gleichen, sind die Strukturen, die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens grundsätzlicher Natur. Köhlers Dorf ist die große weite Welt im Kleinen.
Der Leser lernt es durch die Augen seiner vielleicht traurigsten Bewohnerin kennen: einer jungen Frau, die keinen Namen trägt. Die Namenlose wächst als Findelkind auf der Insel auf. Obwohl sie seit vielen Jahren da ist, bleibt sie die Fremde. Die, die von drüben kam. Wenn sie durchs Dorf geht, wird sie verspottet, die Menschen nennen sie „Eselshure“ und „Nachgeburt der Hölle“; ihre bloße Anwesenheit gilt als schlechtes Omen.
Trotzdem erzählt sie ohne jeden Groll von ihrem Zuhause, breitet es sorgsam vor dem Leser aus. Köhler hat ihrem Roman eine interessante Struktur verpasst: In jedem Kapitel, die hier Strophen heißen, lässt sie ihre Protagonistin von einem Ort, einer Person, einer Tradition berichten, überschreibt sie mit „Der Weg“, „Der Einsiedler“ oder „Die Feste“. Das Schöne Dorf gewinnt so Seite für Seite an Kontur; beinahe ist es, als würde Köhler immer neue Kulissen ins Bild schieben, neue Figuren auftreten lassen, neue Details dazwischenklecksen, die Welt bunter und echter machen.
Und vielleicht ist das kein Zufall: Seit vielen Jahren verfasst Köhler, die auf St. Pauli lebt, Theaterstücke und Drehbücher, zuvor studierte sie Schauspiel in Bern. Wenn sie schreibe, sagt sie im Gespräch mit dem WESER-KURIER, habe sie erst einmal nur eine Stimme im Kopf: „Ich lerne meine Figuren selbst immer besser kennen; ich lasse mich von ihnen tragen.“
Wer ist diese Stimme, der sie mit „Miroloi“ ein Buch gewidmet hat? Köhler nennt ihren Roman eine „Ermächtigungsgeschichte“: Die Namenlose ist nicht nur Außenseiterin, sie lebt in einer Gesellschaft, die strikt trennt zwischen Frauen und Männern, zwischen weiblichen und männlichen Aufgaben. Die Frauen putzen, kochen, nähen. Die Männer reparieren, verwalten, entscheiden. Für alles gibt es Gesetze. Denn sonst, lässt Köhler ihre Protagonistin sagen, „gerät alles durcheinander“.
Nur langsam, ganz langsam, gerät die junge Frau ins Zweifeln. Warum, fragt sie, ist die Welt, wie sie ist? Warum müssen Frauen dies, dürfen Männer jenes? Die vielen Ungewissheiten lassen ihr keine Ruhe, sie vermehren sich, geraten außer Kontrolle. „Da ist ein feiner Riss in meine Welt gekommen“, sagt sie, „und ich vermag ihn nicht zu flicken.“
Die Namenlose rebelliert im Verborgenen. Heimlich widersetzt sie sich, sie verliebt sich, sie lernt lesen – eine Praktik, die eigentlich den Männern vorbehalten ist. Die Szenen, in denen sie unbeholfen erste Wörter entziffert, in denen sie plötzlich begreift, was die Welt der Sprache für sie bereithält, haben etwas Magisches. Von ihrem Ziehvater, einem ihrer wenigen Verbündeten, bekommt sie einen kleinen Beutel mit flachen Steinen geschenkt. Auf jedem ist ein einzelner Buchstabe abgebildet. Die Namenlose staunt: „Ich leere das Säckchen aus. Alle Buchstaben, die es gibt, liegen auf meinem Bauch. Alle Worte, die es gibt, liegen auf meinem Bauch. Die ganze Welt liegt auf meinem Bauch.“
Sie habe von einer Frau erzählen wollen, die sich nicht zufrieden gibt, sagt Köhler. Die aufbegehrt: gegen die Unterdrückung, gegen die willkürliche Ordnung. Die sich, zaghaft, auflehnt gegen das Patriarchat, diese von Männern gemachte und Männer bevorzugende Gesellschaft. Die sich erkämpft, was sie nie hatte: eine Identität.
Dass Köhlers Protagonistin von Gleichberechtigung träumt, hat dabei, natürlich, auch damit zu tun, dass Köhler die vielen Ungerechtigkeiten selbst wahrnimmt, die vielen Das-war-doch-immer-so-Regeln, die keiner kritischen Betrachtung standhalten würden.
Gerade als Frau, sagt Köhler, sei es ja unmöglich, diese Erfahrungen nicht zu machen, nicht an Grenzen zu stoßen. Ihre Protagonistin sei so gesehen schon lange da gewesen, sagt Köhler, irgendwo in ihr. „Wenn man sich schonungslos der Welt aussetzt, ist das nicht immer heilsam – aber es lässt Geschichten reifen, es formen sich Stimmen, die rauswollen.“ Dabei, sagt Köhler, gehe es ihr längst nicht nur darum, Frauen zur Selbstbestimmung zu ermutigen. „Es gibt da dieses Missverständnis, dass die Abkehr vom Patriarchat etwas ist, das nur die Frauen befreit. Dabei profitieren natürlich auch die Männer; davon zum Beispiel, sich nicht mehr rechtfertigen zu müssen, wenn sie Dinge tun, die weiblich konnotiert sind.“ Eigentlich, sagt Köhler, gehe es immer nur um eines: um Freiheit. Die Freiheit, sein zu dürfen, wer man ist.
Mit ihrem Debütroman „Miroloi“ hat Köhler ein überzeugendes Plädoyer für diese Freiheit vorgelegt. Die Wucht ihrer Erzählung ist dabei vor allem ihrer Sprache zu verdanken. Köhler formuliert kurze, pointierte Sätze, sagt sehr klar sehr kluge Dinge. Erfindet Wörter, die hoffentlich bleiben. „Nachmittagsschlafmatt“ zum Beispiel. Oder „Himmelwärtsblicke“. Die Rhythmik ihrer Worte hat dabei beinahe etwas Poetisches, immer wieder möchte man innehalten, den Klang einer Zeile nachhallen lassen, sie noch einmal lesen. Völlig offensichtlich, dass diese Frau schreiben kann. Bleibt zu hoffen, dass ihr virtuoses Debüt nur der Anfang ist, dass sie sich weiterhin schonungslos der Welt aussetzt. Dass sie neue Stimmen hört, die rauswollen.
Karen Köhlers Debütroman „Miroloi“, erschienen im Hanser-Verlag, ist ab dem 19. August im Handel erhältlich. WESER-KURIER-Leser können ihn schon vorab lesen: Das Buch ist ab diesem Donnerstag der neue Fortsetzungsroman. Teil eins finden Sie auf Seite 23.