„Aber man darf dabei nicht vergessen, dass es direkt unter der äußeren Schale immer noch die Strömung gibt.“
Das Land ist weit, von entrückender Schönheit, doch manch einer scheint, verloren, entwurzelt zu sein. Überraschende, meist tragische Ereignisse werfen das Leben für einen kurzen Moment aus der Bahn. Dann geht es weiter – das Leben; in seiner alltäglichen Konsequenz. Der Amerikaner Callan Wink schreibt davon. Für seinen in diesem Jahr veröffentlichten Debüt-Band mit Stories – jüngst bei Suhrkamp mit dem Titel „Der letzte beste Ort“ erschienen – hat der 32-Jährige in seinem Heimatland bereits viel Lob erhalten. Vergleiche werden gezogen – mit großen und bekannten Namen wie Richard Ford oder Philipp Meyer. Sicher ist, dem jungen Autor ist so einiges zuzutrauen.
Neun Kurzgeschichten versammelt der Band, der im Übrigen in einer anderen Gestaltung als die meisten gebundenen Neu-Veröffentlichungen daherkommt. Das Buch hat keinen Schutzumschlag, sondern einen einfachen, aber rustikalen Papp-Einband. Im Mittelpunkt stehen Männer und Frauen, die auf den ersten Blick ein recht alltägliches Leben im mittleren Westen der USA führen. Angesiedelt sind die Stories in der prächtigen Landschaft im Gebiet der beiden Flüsse Yellowstone River und Little Bighorn River, die Rocky Mountains sind in greifbarer Nähe. Doch der ruhig dahinfließende Strom des Lebens erfährt bei vielen Charakteren eine gewisse Erschütterung, die nicht selten als tragisch bezeichnet werden kann. So erscheinen Dales Zukunftsaussichten rosig: Obwohl er das College abgebrochen hat, hängt er sich in die Ausbildung zum Sanitäter rein. Zudem gibt die frische Liebe zu der um einige Jahre ältere Jeannette neuen Lebensmut. Doch diese besondere Zeit wird nur von kurzer Dauer sein. Der Junge August erlebt indes die Trennung seiner Eltern, seine Mutter ist aus dem gemeinsamen Haus in das nahe gelegene und ältere Haus ihrer Eltern eingezogen. Die Familie lebt auf einer Ranch. Der Vater hat ein Verhältnis mit der blutjungen Lisa, die als Helferin tätig ist, begonnen. August lässt seinen Frust an den winzigen Katzenjungen aus, die er in der Scheune jagt und ins Jenseits befördert. Bauleiter Rand, der ein einsames Dasein führt, verliert zu Thanksgiving vier seiner Mitarbeiter bei einem tragischen Unfall. Sam, ein Freund, versucht, Rand in seine Familie „aufzunehmen“, die teils indianische Wurzeln hat. Der 16-jährige Terry wird wegen Totschlags zu einer zweijährigen Jugendstrafe verurteilt. Während der Haftzeit stirbt sein Großvater, zu dem er ein enges Verhältnis hatte. Mit ihm hatte er seinen letzten Tag in Freiheit verbracht.
„Ein Haus kann einen eine Leere spüren lassen, die über bloße Stille hinausgeht. Es wirkt hohl. In einem leeren Haus kann man einsamer sein als an jedem anderen Ort auf der Welt. Und jetzt gehörte das Haus mir – alle Sachen und alle Leerstellen, die Dunkle Materie zwischen den Dingen. Zum ersten Mal merkte ich, wie es hier für meinen Vater hatte sein müssen, und auch das hatte ich geerbt: die neue Erkenntnis, dass die Leere eines Ortes niemandem so bewusst ist wie seinem Besitzer.“
Meist sind die Helden einfache Menschen, wenn auch teils mit verrückten Ideen oder Gepflogenheiten, mit denen sie besondere Erfahrungen machen. Sid, Held der ersten Geschichte, liebt es, nackt zu schlafen, so dass er auch unbekleidet auf der Flucht quer durch die Wildnis ist, weil er einen Hund ohne das Einverständnis des Besitzers mitgenommen hatte. James, ein Lehrer, entflieht dem Alltag, um auf einer Ranch zu jobben, auf der exotische Tiere leben. Sind es meist Männer, die im Mittelpunkt stehen, erzählt die letzte Geschichte von Laura, die eine Ranch führt, sich taff den Widrigkeiten des Lebens stellt. Oft finden sich in den Stories gesellschaftliche Themen, über die man gern einen Schleier der Verschwiegenheit legt: Kriminalität und Gewalt, vor allem bei Kindern, Verwahrlosung, Schwarzarbeit der illegalen Einwanderer und ein zweites, geheimes Leben, von dem der Partner nichts weiß. Umrahmt werden diese Themen von einer speziellen Frage: Welchen Einfluss haben Beziehungen? Jeder Held scheint von einer Beziehung geprägt zu sein oder macht die Erfahrungen einer besonderen.
Winks Sprache ist faszinierend aus ihrem speziellen Kontrast heraus. Trotz kurzer und prägnanter Sätzen entfaltet sie eindrucksvoll ihre ganz eigene Poesie in ungewöhnlichen Vergleichen und bildhaften Landschaftsbeschreibungen. Den Texten ist anzumerken, dass sich der Autor in der Natur sehr gut auskennt: Wink ist in Montana als Fly Fishing Guide tätig, also Experte in Sachen Fliegenfischen. Eine wichtige Rolle spielt das weite Land als Heimat der Indianer sowie als geschichtlicher Ort, da während der Schlacht am Little Bighorn General Custer getötet wurde. Obwohl in die Form der Kurzgeschichten gebracht, erscheinen die kleinen Werke wie die Essenz eines Romans. Mit Blick auf die Struktur sind sie es sogar, denn in den meisten nutzt der Autor für Erinnerungen Rückblenden, der Leser springt in den Zeiten hin und her, die zudem von Überraschungen begleitet werden.
Man kann wohl sehr gespannt sein auf weitere Werke des jungen Amerikaners, dessen Namen man im Hinterkopf behalten sollte. In einem kurzen Text zum Autor wird ein kommender Roman in Aussicht gestellt. „Der letzte beste Ort“ beweist bereits, dass große Literatur vor allem die herausragenden Geschichten im Alltäglichen der einfachen Menschen sucht. Wer deshalb die auf den ersten Blick stillen, aber zugleich von kleinen und großen Schicksalen geprägten Stories in einer grandiosen Landschaft mag, wird diesen Band lieben und ihn womöglich ein weiteres Mal lesen.
„Der letzte beste Ort“ von Callan Wink erschien im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer; 281 Seiten, 22 Euro
Foto: pixabay.com
Klingt wirklich sehr interessant 😊
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