Geschrieben am 1. Mai 2021 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2021

Constanze Matthes über Matthias Jügler „Die Verlassenen“

Davon braucht es mehr

111 Kilometer – das ist in etwa die Entfernung von Leipzig nach Erfurt oder von Leipzig nach Dresden. Diesen Umfang erreichen die Akten, die im Stasi-Unterlagen-Archiv zur Recherche lagern. Weitere 60 Kilometer waren nach der Wende unsortiert gefunden worden und sind noch immer nicht vollständig erschlossen. Mehr als 7,3 Millionen Menschen haben bisher Anträge auf Akten-Einsicht gestellt; zahlenmäßig ist das nahezu die Hälfte der damaligen Bevölkerung in den letzten Jahren der DDR. Der Geheimdienst war tief in der Gesellschaft verankert und hat das Leben von unzähligen Familien zerstört oder für immer verändert. Welche Folgen die Repressalien der Stasi und ihre Spitzel-Tätigkeiten auf die nächsten Generationen und sogar bis in die Gegenwart haben, erzählt der berührende Roman „Die Verlassenen“ von Matthias Jügler.

Es ist ein ganz normaler Junitag 1994, als Thomas Wagner seinen Sohn Johannes ohne ein einziges Wort des Abschieds verlässt. Der 13-Jährige bleibt fortan bei seiner Oma, da er bereits als kleines Kind seine Mutter bei einem tödlichen Unfall verloren hatte. Jahre ziehen ins Land. Keine einzige Nachricht des Vaters erreicht Johannes, der nicht weiß, weshalb er verlassen wurde, was mit seinem Vater in all der Zeit geschehen ist. Sechs Jahre später stirbt die Großmutter. Johannes ist allein auf sich gestellt. Die Ungewissheit, der frühe Verlust der Eltern und die Erinnerungen an diese prägen sein weiteres Leben. Er lebt still, in sich gekehrt und zurückgezogen, arbeitet nach seinem Volkswirtschaftsstudium recht ambitionslos in einer Verwaltung, seine Beziehung zu Katja, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat, scheitert. Eines Tages findet er in einer alten Kiste mit Büchern seiner Eltern einen Brief aus Norwegen, der den Vater wenige Tage vor dessen Weggang erreicht hatte und der nun für Johannes den Anfang einer Spurensuche setzt, obwohl er mit der Geschichte längst abschließen wollte und die Orte seiner Kindheit und Jugend eine gewisse Zeit gemieden hat.

Vergangenheit und Gegenwart sind in Jüglers Roman dicht verwoben, da frühere Geschehnisse und die Erinnerungen daran den Helden und Ich-Erzähler prägen. Als Erwachsener blickt Johannes auf seine Kindheit und Jugend: auf die letzte Umarmung seiner Mutter und die vertrauten Momente zu einem Freund der Familie, der keiner war, erinnert sich an die schrecklichen Tage, als sein Vater, der zu DDR-Zeiten zu „konspirativen Lesungen“ in den Garten eingeladen hatte, nicht mehr mit ihm sprach, weil er in kindlicher Naivität dessen Schreibtisch aufgeräumt hat und dabei wichtige Dokumente und Papiere verloren gegangen sind, und wie er nach dem Tod seiner Großmutter eine Weile in der Gartenlaube wohnt.

Die Handlung, wie die Erinnerung des Helden von weißen Flecken bestimmt, wird unchronologisch erzählt, der Leser springt zwischen den Zeiten und Jahren, gebannt von den Ereignissen und darauf gespannt, was damals mit seiner Mutter und seinem Vater wirklich geschehen war. Obwohl der Roman „nur“ Pseudo-Dokumente wie Briefe, Fotos und Beobachtungsberichte, die täuschend echt an wirkliche Stasi-Unterlagen erinnern, enthält, birgt er doch einen realen Hintergrund, auf den der Autor einst im Umfeld des halleschen Malers Moritz Götze gestoßen war: die Geschichte eines Malers, der aus den Stasi-Akten erfährt, dass er von der Staatssicherheit in den Suizid getrieben werden sollte, und worauf er schließlich den Freitod wählte.

In „Die Verlassenen“ finden sich mehrere Parallelen zum Autor. Jügler ist in Halle/Saale, ein Schauplatz des Romans, geboren und aufgewachsen, studierte, bevor er das Literaturinstitut in Leipzig besuchte, in Norwegen Skandinavistik, wohin die Handlung ebenfalls führt. Obwohl sein schmales Werk dicht gestrickt und klug konstruiert ist, hätte ich mir persönlich noch etwas mehr Umfang gewünscht – als „Kind der DDR“ und aus einer Familie stammend, die wie viele andere auch betroffen war von den entsetzlichen Machenschaften der Stasi, die auch in dem oscarprämierten und unvergesslichen Film „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck aus dem Jahr 2006 erzählt werden. Vielleicht ist dieser Wunsch ungeachtet der literarischen Qualität des eindrücklichen Buches allerdings auch Ausdruck, mich mehr mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen.

Jüglers melancholischer Roman, für den er 2019 ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung Sachsen-Anhalt erhielt, hat mich tief berührt und mir einmal mehr aufgezeigt, welchen Einfluss die Stasi hatte, wie lang ihr Arm in das Privatleben der Menschen reichte. Darüber hinaus zeigt „Die Verlassenen“ sehr deutlich auf, wie folgende Generationen von einstigen traumatischen Geschehnissen geprägt werden. Es gibt mittlerweile zahlreiche Literatur über die DDR, aber es braucht mehr über dieses dunkle Kapitel namens Staatssicherheit, um daran zu erinnern. Jüglers Roman, der zudem mit einem emotionsgeladenen Covermotiv ausgestattet wurde, vermag es, einen Teil dieser Leerstelle aufzufüllen.

Matthias Jügler: Die Verlassenen. Penguin Verlag, München 2021. Hardcover, 176 Seiten, 18 Euro.

Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Auf ihrem Blog Zeichen und Zeiten gibt es mehr.

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